2. Runde: Vanessa Hill

Henry hatte sich gegen die Wand gelehnt und musterte Vanessa mit seinen grauen Augen. Stumm blickte sie ihm entgegen und versuchte sich ihre Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Sie hatte sich öfter mit ihm unterhalten, war aber nie schlau aus ihm geworden. Und jetzt waren sie hier: gemeinsam in einem Raum. - Sie mussten versuchen, ein Rätsel zu lösen, um mit heiler Haut herauszukommen.

Hätten sie gewusst, dass das Spiel erst anfangen würde, dann hätte sich niemand für dieses verruchte Game angemeldet.

"Woran denkst du?", sprach er laut aus und holte sie aus ihrer Gedankenwelt.

"An gar nichts", erwiderte sie schroff. "Wir sollten uns lieber auf unsere Aufgabe konzentrieren."

Er nickte und stieß sich von der Wand ab. Anschließend begann er, den Raum zu erkunden. Sie lief ihm leise hinter her und blieb stehen, als sie etwas bemerkte.

"Schau mal da."

"Hmm? Was ist denn?"

Erneut deutete ihr Zeigefinger auf die Stelle vor ihrem Gesicht.

"Siehst du das nicht?", wollte Vanessa gereizt wissen und fuchtelte vor seinen Augen herum.

Genervt schob er ihre Hände von sich. "Da ist nichts!"

Der Typ ist ein Arsch! Wieso musst du überhaupt mit ihm zusammenarbeiten?

'Schön, dass dir das auch mal aufgefallen ist', entgegnete sie ihrer inneren Stimme schnippisch.

Ich weiß nicht, was du hast.

'Du nervst! Kannst du dich nicht einfach verpissen?'

Beleidigt verkroch sich ihre innere Stimme in einer Ecke. Vanessa atmete erleichtert auf und ernte einen fragenden Gesichtsausdruck von Henry. Ohne ihn weiter zu beachten, ging sie auf die Stelle zu und legte ihre Hand darauf.

Es fühlte sich klamm unter ihren Fingern an. So, als würde etwas Nasses heraussickern und langsam auf den Boden tropfen. Aber so was gab es doch nur ein Einkaufszentren. Wieso sollten die Macher eine Wasserfallwand in diesen Raum installieren? Und was zum Teufel hatte es mit ihrer Aufgabe zu tun? Noch bevor sie ihre Antworten überdenken konnte, rief Henry nach ihr. Seufzend wandte sie sich von der Wand ab und verstaute ihre Hand in der Hosentasche.

"Hier!"

Er hielt ihr einen Zettel hin, den sie schnell überflog.

"Und?"

"Was und?", zischte er und verdrehte seine grauen Augen.

"Was das sein soll."

Er seufzte. "Vielleicht unsere Aufgabe?"

Jetzt war sie an der Reihe, ihre Augen zu verdrehen. "Das ist nur ein Zettel, auf dem irgendwelche Koordinaten stehen. Was sollen wir damit?"

Er brummte etwas Unverständliches und lief davon. Sie wusste, wenn jetzt etwas ihren Mund verließ, dann war es vorbei. In den Tagen, wo sie nur zugesehen hatten, war Henry manchmal aus seiner Fassung geraten. Daher wandte sie sich anderen Dingen zu und begutachtete die Wand. Wenn man genauer hinsah, dann konnte man sehen, dass etwas heruntertropfte. Aber war das wirklich nur Wasser? Sie trat näher heran und streckte vorsichtig ihre Zunge aus.

Du bist lebensmüde, schaltete sich ihre innere Stimme ein und veranstaltete ein feinstes Konzert, indem sie ihr Bestes gab und laut zu hämmern begann. Instinktiv legte sie sich die Hände auf die Ohren und versuchte das dumpfe Geräusch ihrer inneren Stimme zu absorbieren. Es gelang ihr aber nicht. Im Gegenteil: dies stachelte ihre innere Stimme nur noch mehr an, in Vanessas Kopf das reinste Horrorkonzert zu geben.

"Alles klar bei dir?", fragte Henry, der nun etwas besorgt klang und sanft ihre Hände in seine nahm. Schwach nickte sie und lehnte sich gegen seine Brust. Er stieß sie von sich und nahm eine ihrer Hände und blickte auf die Innenfläche. Die Worte kamen so laut aus seinem Mund, dass Vanessa unwillkürlich den Blick senkte und die Lider schloss. "Verdammt, Vanessa! Du hättest mir sagen müssen, dass du verletzt bist!"

Verletzt? Wovon redete er? Sie wollte etwas sagen, doch er schnitt ihr barsch das Wort ab. "Zeig mir die Stelle, an der du verletzt bist!"

Aber sie hatte sich doch nichts getan?

Dann musst du es ihm verklickern!

'Wie denn, wenn er mich nicht einmal ausreden lässt?'

"Vanessa! Ich rede mit dir!", knurrte er und rüttelte sie sanft an den Schultern. "Wo. Ist. Deine. Verletzung?!"

Nach jedem Wort, was er ausstieß, kam sein Atem ihr immer näher und näher. Langsam verfiel sie in einen Strudel an Erinnerungen, der ihr beinahe die Ohnmacht in die Augen trieb. Sie musste versuchen, davon loszukommen. Aber wie? Niemand war hier, um sie davor zu bewahren, den nächsten Schritt in den Abgrund zu tun. Und Henry konnte sie nichts erzählen. Der würde ihr nicht glauben.

Er glaubt ja so oder sie niemandem. Das hat keinen Sinn, wenn du ihm versuchst, etwas klar zu machen.

Trotzdem schaffte sie es, einen Gedanken zu Ende zu bringen. 'Das ist doch alles... deine Schuld'.

Als Henrys Hände sie noch grober packten, keuchte sie unbewusst auf. Erst da schien er zu realisieren, dass Henry etwas falsch machte. Denn kurz darauf lockerte sich sein Griff und die groben Hände lagen nun sanft auf ihren Oberarmen. Seine Finger streichelten leicht über die Haut, sodass sich die Härchen aufstellten.

"Hör zu", begann er und mahlte nun kleine Kreise auf ihre Haut. "Ich wollte dir keine Angst machen, Vanessa. Wirklich. Es tut mir leid."

Sie wollte etwas sagen, doch ihre Erinnerungen ließen es nicht zu.

"Wenn du magst, können wir abbrechen", schlug er vor und streichelte zur Abwechslung über ihren Rücken. In der Erwartung, nun doch etwas sagen zu können, öffneten sich ihre Lippen. Jedoch kam nur ein mickriges Keuchen über ihre Lippen. Sie wusste, dass sie zu schwach war. Es würde der Tag kommen, an dem Vanessa aufgeben würde. Doch war es soweit? Sollte sie ihn sagen? Laut durch den Raum posaunen? Wäre ihre Familie nicht enttäuscht von ihr? Würde sie das Verlassen nicht glücklich stimmen?

Zitternd löste sich Vanessa von Henry, um ihre Gedanken besser ordnen zu können. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen und hockte sich in eine Ecke, um über alles nachdenken zu können.

***

"Ash, was denkst du, wird Vanessa Hill tun?"

"Was meinst du?", wollte sie wissen und zog eine Braue in die Höhe.

"Na ob sie den Satz sagen wird, wollte ich wissen?"

Ashley lachte. "Ach so. Hoffen wir mal nicht, dass Hill das macht. Es wäre schade, wenn sie uns freiwillig verlassen würde."

"Willst du lieber freiwillig gehen oder von einem Zuschauer rausgewählt werden wollen?"

"Du stellst Fragen, Nick", sprach sie und zog ihr Glas näher zu sich. "Woher soll ich das wissen? Ich moderiere nur. Genau wie du."

Sein Lachen erfüllte den Raum. "Stimmt auch wieder."

***

"Ich weiß nicht, ob ich durchhalte", begann Vanessa mit stockender Stimme. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Henry sie anblickte. Hastig senkte sie ihren Kopf und versuchte nicht zu ihm zu schauen. Vanessa wollte gar nicht wissen, was er in diesem Moment dachte. Wenn sie den Satz jetzt beenden würde, dann hätte sie keine Chance mehr, ins Spiel zurückzukehren. Aber war das nicht ihr größter Wunsch, aus dem Game auszutreten? Kurz darauf holte sie tief Luft. Wieder spürte sie die Blicke Henrys. Er durchbohrte sie. Doch wenn sie es nicht tun würde, dann würde sie es bestimmt bereuen. "Lasst mich gehen. Ich kann nicht mehr."

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