Kapitel 3
Haru nahm sie mehr in den Arm. „Solche Bilder sind immer verstörend. Vielleicht für dich umso mehr, weil du alles speicherst. Aber glaube mir, das wird nicht das letzte mal bleiben, dass du so etwas siehst ... versuche ruhig ein und auszuatmen und dich nur auf das zu konzentrieren, damit die Übelkeit weggeht", riet der Junge ihr.
Sezuna blickte auf einen Grashalm in ihrer Nähe und begann diesen zu fixieren. Zwang sich, nur diesen zu sehen, während sie versuchte gedanklich Harus Nähe zu verfolgen.
Für Haru selbst war es schwer sich zu konzentrieren. „Ich hoffe, er hat nicht gesehen, dass ich Magie angewendet habe ...", murmelte er leise. Er streichelte Sezuna noch immer sanft und ließ sie nicht los. Da ihm aber wieder einfiel, dass sie in eine Starre fallen könnte, fing er an, über belanglose Dinge zu reden und ihr Fragen zu stellen.
Sie reagierte jedoch nicht sofort auf Haru und blickte weiter auf den Grashalm. Haru war bereits bei seiner dritten Frage, als sie plötzlich auf etwas reagierte, was schon viel weiter zurücklag. „Wäre es schlimm, wenn er bemerkt hätte, dass du Magie beherrschst?"
„Ich will nicht, das Leute unnötig wissen, dass ich Magier bin. Dass diese Männer es gesehen haben ist mir egal. Denen wird sowieso niemand glauben. Bei diesem Mann hier habe ich aber ein anderes Gefühl", meinte er nachdenklich. Dann sagte er zu dem Mädchen, dass sie sich auf ihn konzentrieren sollte und nicht auf etwas anderes. „Sieh mich an, sag mir, was du fühlst und was du willst", verlangte er.
Sezuna hob den Blick und wirkte irgendwie verloren. „Ich weiß es nicht", gestand sie. „Weder, was ich fühle, noch was ich will."
„Dann sag mir, was ich tun soll, dass es dir besser geht. Ich sehe, dass es dir schlecht geht und dass du dich wieder in Gedanken verlierst", erwiderte er und es klang große Sorge in seiner Stimme mit.
„Ich weiß es nicht", gestand sie noch immer scheinbar nicht ganz da. „Es liegt nicht an dem Mann. Meine Gedanken driften wo anders hin. Ich glaube nicht, dass mich ein Anfall heimsuchen wird."
„Sind es Erinnerungen? Oder wohin gehen sie?", wollte Haru nun wissen.
„Ja, es sind Erinnerungen", stimmte Sezuna nickend zu, wirkte aber nicht ganz anwesend.
„Was in deinem Dorf passiert ist? Oder gerade eben? Willst du darüber reden?", fragte er weiter.
„Ja, ja und nein", murmelte sie auf seine drei Fragen hin. „Ich dachte dir, für deine Hilfe, aber ich glaube, dass muss ich selbst wieder hinbekommen. Bitte halt mich einfach nur fest."
Also tat er das und schwieg. Er konnte ihr nicht helfen, so sehr es ihn ärgerte. Tränen stiegen in seinen Augen auf, denn es war eine indirekte Abweisung für ihn. Vielleicht meinte sie es nicht so, doch er fühlte es so. Vor Ärger biss er sich auf die Lippen, um nicht zu heulen. Verdammt, Haru war einfach nicht gut, manche Gefühle zurückzuhalten. Aber er würde nichts mehr sagen, wenn er sowieso nicht helfen konnte.
Sezuna, die noch immer eng an Haru geschmiegt war, spürte seine Wärme und seinen Herzschlag. Zeichen dafür, dass er am Leben war. Etwas, dass sie im Hier und Jetzt hielt und gleichzeitig einen Schwall Gefühle in ihr lostrat.
Nicht viele hatten den Sturm überlebt und diese hatten die Leichen bergen müssen. Sie war eine davon gewesen, obwohl sie noch nie etwas ähnliches gesehen hatte. Die Bilder dieser Nächte schwirrten ihr durch den Kopf und sie wusste, dass sie diese nicht aufhalten können würde. Sie musste sie zulassen und warten, bis sie von alleine verschwanden.
In der gleichen Zeit dachte Haru über den schlafenden Mann nach. Obwohl er schwer verletzt war, war er gut angezogen gewesen. Auch die Toten hatten gute Kleidung getragen und er fragte sich, woher sie das bekommen hatten, denn er hatte die Qualität und diese Stoffe hier noch nie gesehen. Wer war dieser Mann?
Es war kein Wunder gewesen, dass sie überfallen worden waren. Diese Räuber sahen aus, als würden sie jeden angreifen, der hier vorbei kam, nur um etwas zu bekommen und sie schreckten auch nicht vor dem töten zurück.
Haru versuchte sich nur auf diese Gedanken zu konzentrieren und nicht auf Sezuna, denn diese Zurückweisung hatte weh getan, auch wenn es vielleicht lächerlich war. Es gab eben Dinge, über die man nicht reden konnte, so ging es ihm auch. Aber gerade jetzt hatte er gehofft, ihr beistehen zu können, so wie sie es immer tat, wenn er verzweifelte.
Ein Schluchzen in seinen Armen riss seine Aufmerksamkeit auf sich und er konnte sehen, dass Sezuna die Tränen über die Wangen liefen. Sie krallte ihre Finger in sein Oberteil und hielt ihn so fest, als würde sie glauben, dass er jeden Moment verschwinden würde.
Anstatt etwas zu sagen, hielt er sie einfach fest und strich ihr sanft die Tränen aus dem Gesicht. Mehr konnte er nicht tun, als hier zu sein.
„Wieso jetzt", schluchzte sie. „Wieso kann ich die Tränen nicht zurückhalten? Ich möchte nicht weinen, aber ich kann nicht anders", brachte sie keuchend hervor.
Erst jetzt antwortete er. „Weil es normal ist zu weinen, wenn man Erinnerungen, Angst oder Trauer hat. Lass sie laufen", sagte er leise. Er fühlte genauso jedesmal, wenn es wegen Sarah aus ihm herausbrach. Lange genug hatte er es zurückgehalten und seit Sezuna in sein Leben getreten war, hatte er mehr geweint als in den letzten sechs Jahren. Das erste Jahr nach ihrem Tod hatte er jeden Tag stundenlang geweint. Bis er verstanden hatte, dass Tränen nichts bringen und sowieso keiner ihn trösten würde. Doch er konnte zumindest für Sezuna da sein, auch wenn sie seine Hilfe nicht brauchte.
„Nachdem der Sturm vorbei war", schluchzte sie, „mussten wir alle stark sein. Kinder suchten ihre Eltern und Eltern ihre Kinder. Überall wurde geweint und getrauert, aber ich habe nur eine Leere in mir gespürt, als ich durch die Trümmer lief", brachte sie mühsam hervor. „Sie traten an mich heran, baten mich ihnen bei der Suche ihrer Kinder und Eltern zu helfen. Ich versuchte stark zu bleiben und zu hoffen", flüsterte sie und der Tränenschleier wurde immer stärker.
„Dabei hattest du selbst deine Familie verloren. Und deinen Verlobten und seine Familie. Dir wurde alles genommen, was du hattest. Alles, mit dem du Erinnerungen verknüpfen konntest. Du wusstest wahrscheinlich nicht im ersten Moment, was Wirklichkeit war, weil du unter Schock gestanden hast", vermutete Haru.
„Ich wusste es sehr genau", widersprach sie leise. „Trotzdem stand ich unter Schock. So sehr, dass es bald hieß, dass ich gefühllos und kalt wäre. Dass es mich nicht interessiert, was um mich herum passiert. Dass mir ein Menschenleben nichts bedeutet."
„Menschen sind blind dabei. Sie denken nur an sich und verstehen nicht, dass jeder Mensch anders trauert. Es ist einfach so", sagte Haru energisch. „Dir hat deine Familie sehr viel bedeutet, auch wenn du es nicht gezeigt hast. Ich meine, wie traurig du warst."
Sezuna krallte sich noch mehr an Haru fest und mühte sich ab verständliche Worte hervorzubringe. „Sie haben mich mit meinen toten Eltern alleine gelassen. Niemand war da, um mir zu helfen. Meine Eltern waren tot, das Haus zerstört und ich wusste nicht wohin", flüsterte sie leise.
„Das zeigt, wie die Menschen nur an sich denken und keinem anderen helfen wollen. Sie sind ignorant und egoistisch sind. Leider bringen solche Situationen die wahren Gesichter der Menschen um dich herum zum Vorschein", meinte er nachdenklich. Er selbst hatte es erlebt und deshalb eine Mauer um sich gebaut, damit er nicht wieder enttäuscht werden würde. Das sagte er auch zu Sezuna. „Lieber nicht vertrauen und hoffen und einen ranlassen anstatt später doch nur wieder enttäuscht zu werden."
„Ich wollte doch nur jemanden, der mich in den Arm nimmt und mir zeigt, dass die Welt noch nicht untergegangen ist", flüsterte sie leise und es schien, als würde sie in seinen Armen förmlich zusammensacken.
Der Junge hielt sie fest an sich gedrückt und wusste wovon sie sprach, denn er hatte genau das gleiche gefühlt. Aber da es niemanden gegeben hatte, hatte er es aufgegeben, jemanden zu finden, der es tun würde. Sezuna würde ihn wohl nie verstehen, warum er sich selbst schützen würde, doch er wusste, dass sie das gleiche durchgemacht hatte wie er. Keiner war da gewesen, wenn man jemanden gebraucht hatte.
„Und jetzt wo ich jemanden habe", brachte sie leise hervor und wurde immer wieder von Schluchzern geschüttelt. „Weiß ich nicht, wie ich damit umgehen soll."
„Ich weiß es auch nicht", gab er zu und hielt sie fest, um sie zu streicheln und einfach für sie da zu sein. Wie gern würde er ihr sagen, sich nicht daran zu gewöhnen. Aber dann würde sie vermutlich böse werden. Er selbst versuchte mit allen Mitteln, sich nicht an die Gefühle zu gewöhnen und daran, dass jemand da war. Vor allem wenn es nicht sicher war, dass sie weiterhin zusammen bleiben würden. Für Haru war es einfacher, es nicht zuzulassen anstatt später enttäuscht und allein zurück gelassen zu werden. Denn niemand wusste, was die Zukunft bringen würde.
„Lässt du mich die Nacht bitte in deinen Armen schlafen?", fragte sie leise und fast ängstlich, da sie eine Zurückweisung erwartete.
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