Kapitel 2 | Versteinerte Klasse

„Freundchen", sagte Mr. Brown in bedrohlich ruhigem Tonfall. Das Wasser machte sein Hemd durchsichtig, wodurch mir ein nicht sehr schöner Anblick geboten wurde.

„Du wischst diese Sauerei jetzt auf und machst da weiter, wo du aufgehört hast. Und pass gefälligst auf, dass der Wasserhahn nicht noch explodiert!" Damit schritt er durch den Raum an der letzen Reihe vorbei und lehnte sich gegen die Wand.

„Da konnte ich schließlich auch viel für", murmelte ich. Ups, lauter als beabsichtigt. „Wie bitte?", fragte mein Lehrer.
„Ich habe mich nur geräuspert", entgegnete ich und wandte mich der Wasserlache am Boden zu.
Mir war klar, dass mir 28 Augenpaare folgten, als ich Papiertücher aus dem Spender neben dem Waschbecken nahm und mich hinunterbeugte.

Mein Spiegelbild blickte mir etwas verschwommen entgegen. Ich sah, dass meine dunkelbraunen Haare durch das Wasser von wellig zu lockig geworden waren. Aus Reflex fuhr ich mir der freien Hand hindurch, was aber nichts brachte. Ich seufzte resigniert. Selbst durch das Kräuseln des Wassers konnte ich meine Augenfarbe unschwer erkennen.

Sie waren, wie meine Mutter immer sagte, grau, wie das Meer im Sturm und blau wie der Himmel im Sommer.
Ich hatte keine Ahnung, woher sie diese Vergleiche nahm. Blau- grau würde auch genügen. Ich legte die Tücher in die Wasserlache und wischte diese auf. Die Röte stieg mit in die Wangen, weil alle mir zusahen. Bestimmt konnte man meine paar Sommersprossen auf der Nase durch die Röte jetzt deutlicher sehen. Das passierte irgendwie immer.

Vereinzelt hörte ich Leute lachen. Auf einmal sah ich ein paar Turnschuhe vor mir und kurz darauf kam Jacobs Gesicht in mein Blickfeld.

„Du musst dich sicher nicht alleine zum Affen machen", flüsterte er mir zu und nahm ebenfalls ein paar Papiertücher in die Hand. In dem Moment war ich ihm so unglaublich dankbar, dass ich ihm am liebsten vor Freude um den Hals fallen würde. Aber das ging natürlich nicht.

Als wir fertig waren und er sich wieder auf deinen Platz gesetzt hatte, blickte ich zu meinem Lehrer. Dieser hatte sich anscheinend nicht einen Millimeter bewegt und starrte Jacob mit verbissenem Gesichtsausdruck an. Na hoffentlich musste Jacob nicht meinetwegen die Strafen unseres Lehrers ertragen.

Ich stand auf, warf die Papiertücher in den Müll und klopfte mir die Hose ab, an der Kreidestaub hing.
War es meiner Klasse nicht auch irgendwie peinlich, mich die ganze Zeit so anzustarren? Ich stellte mich mit verschränkten Armen vor die Tafel und wartete. Dies war jetzt vielleicht nicht der richtige Moment um den „Mir ist alles egal"- Jungen aus der Klasse zu spielen, aber ich änderte meine Haltung trotzdem nicht.

„Worauf wartest du eigentlich?", fuhr mich mein Lehrer an. Was hatte er überhaupt gegen mich? Ich hatte verdammt nochmal für zwei Minuten nicht aufgepasst, durfte er mich überhaupt so demütigen? Ich notierte mir in Gedanken, dass ich das nachher mal nachschlagen würde, wenn ich erst zuhause war.

Ich gab mir einen Ruck und hob den Schwamm auf, der während des Desasters mit dem Wasser auf den Boden gefallen war. Ich drehte mich wieder dem Waschbecken zu.

Eigentlich wollte ich sogar, dass der Wasserhahn diesmal explodierte, einfach nur um herauszufinden, wie Mr. Brown reagieren würde.Ich sollte es besser wissen, aber ich griff an den Hahn, in voller Hoffnung, dass er explodieren würde. Ich drehte das Wasser mit Schwung auf. Und nichts passierte.

Was sollte das denn? Ich drehte so lange an dem Hahn herum, bis es nicht mehr ging, doch das Wasser blieb aus. Mein Lehrer kam durch den Gang auf mich zugelaufen, die Wut stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
Das einzige, was mir in diesem Moment durch den Kopf ging, war folgendes: Lass dir nichts anmerken und bleib ruhig.

Ich atmete tief durch, einmal, zweimal, dreimal. So langsam entspannte ich mich, auch wenn die Situation eigentlich nicht dazu passte.

Auf einmal hörte ich ein leises Gluckern und Gurgeln. Langsam drehte ich meinen Kopf in Richtung des Wasserhahns. Er wackelte ein wenig und das Geräusch wurde immer lauter.
Alle meine Gehirnzellen rieten mir, zu laufen. Einfach wegzulaufen von diesem Ding, egal wohin.

Doch irgendwas hielt mich zurück. Ich wusste nicht, was es war, doch ich konnte mich nicht wegbewegen.
Auf einmal ging alles schnell, aber auch in Zeitlupe zugleich. Es passierte alles auf einmal: Mr. Brown kam bei mir an, während zeitgleich vom Wasserhahn ein Tröpfeln zu vernehmen war. Der Wasserhahn explodierte in dem Moment, in dem ich mich aus meiner Schockstarre lösen konnte und nach vorne sprang, geradewegs in den Bierbauch meines Lehrers.

Die Klasse gab keinen Laut von sich und mir wurde klar, dass ich am Boden lag. Direkt auf meinem Lehrer.
Erschrocken richtete ich mich auf und stemmte dabei mein Knie in seinen Bauch, sodass er keuchte. Als ich stand, spürte ich, dass mein T-Shirt total durchnässt war. Der Wasserhahn schien immer noch zu laufen, denn Wasser spritze gegen mich und ran mir den Rücken herab.

Ich hörte ein weiteres Zischen des Hahnes, aber drehte mich diesmal nicht um. Ich ließ meinen Blick über die Klasse schweifen und bemerkte etwas sehr merkwürdiges. Ich schaute etwas länger und genauer hin, aber tatsächlich! Niemand aus meiner Klasse bewegte sich mehr.

Alle schienen in eine Art Starre verfallen zu sein. James' Döner war auf dem Weg zu seinem Mund in der Luft hängengeblieben. Anusha, ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren, hatte die Hand gehoben. Anscheinend wollte sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr stecken, die ihr ins Gesicht gefallen war. Ich ließ meinen Blick nach unten wandern und schaute meinem Lehrer ins Gesicht.

Er hatte den Mund leicht geöffnet, so als ob er etwas sagen wollte. Ich beugte mich nach unten, nahm einen seiner behaarten Arme und fühlte am Handgelenk nach dem Puls. Er war schwach, aber dennoch vorhanden. Jedoch sah ich nicht, dass er atmete.

Langsam keimte die Panik in mir auf. Außerdem bemerkte ich, dass es viel zu still war. Wo blieb das Tropfen des Wassers? Ich blickte zu Jacob, der auf eine Stelle hinter mir glotzte.

Ich fuhr herum und fand mich geradewegs, Auge in Auge, mit einem Drachen wieder.

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