Blick aus dem Fenster

Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich eine Welt die sich stetig wandelt. Im Januar malt der Winter mir kunstvolle, grazile Eisblumen an die Scheibe, schenkt mir sein Gemälde der Vergänglichkeit, und ein bisschen Ruhe und Frieden. Zwischen den Blumen erspähe ich die weite Welt, die friedlich unter einer glitzernden Schneedecke schläft. Ich höre nichts als Stille, die alles und jeden erfüllt. Ruhe und Besinnlichkeit, die der Winter in die Herzen der Menschen trägt.
Und je weiter das neu angebrochene Jahr voranschreitet, desto blasser werden die Blumen an meinem Fenster. Mit jedem neuen Tag dringt die Sonne etwas mehr hinab auf die gefrorene, schlafende Erde, um den Schnee zu schmelzen und die Menschen zu wecken.
Und eines Tages sind die Blumen an meiner Scheibe fort, und stattdessen bahnen sich draußen auf der Wiese Schneeglöckchen ihren weg nach oben, das letzte Andenken vom vergangenen Winter. Nach und nach erspähe ich jeden Morgen mehr Blumen auf der Wiese, der Frühling malt sein Kunstwerk nicht wie der Winter auf mein Fenster, sondern auf die Wiesen und Felder. Er verziert die Welt mit kleinen Farbtupfern in gelb und orange, er zaubert Knospen an Bäume und Büsche und versenkt die Welt schon bald in seinem himmlischen Duft, nach Blumen und frischem Gras. Und während ich so am Fenster sitze, merke ich, wie die Sonne immer mehr Strahlen zu mir schickt. Sie durchbricht die letzten Eisschichten auf Seen und Flüssen und bringt die Gewässer wieder zum Fließen. Das Plätschern ertönt langsam wieder, nach dem stummen und langem Winter. Sie weckt die Tiere auf den Feldern, und die Vögel in den Bäumen, die sogleich ihre freudigen Lieder des Frühlings anstimmen. Hauchzarte Schmetterlinge fliegen von Blume zu Blume und werden später begleitet von Bienen und pummeligen Hummeln.
Wenn das Brummen und Surren allmählich lauter wird und die Sonne immer höher am hellblauen Himmel steht, wird es langsam Sommer und der Frühling kehrt der Welt den Rücken. Die Tage werden länger und die Sonne verabschiedet sich immer später von den Menschen, drängt die Nacht so weit wie möglich davon. Laue Sommernächte und hitzige Tage verbringe ich an meinem Fenster, beobachte die grasgrüne Landschaft und das flimmern der Luft, die von der Sonne zum kochen gebracht wird. Menschen fahren in Scharen raus zu Seen und ans Meer, Kinder springen ins Wasser und freuen sich über die willkommene Abkühlung.
Doch irgendwann tauschen die Menschen Kleid und Badehose gegen Pulli und Schal und fahren verabschieden sich von Sommer und Sonne. Der Herbst beginnt, und verziert das Kunstwerk des Frühlings mit neuen Farben, taucht Blätter in sein kräftiges rot und gelb. Die Sonne wandert weiter und schenkt den Menschen nur noch wenige letzte wärmende Strahlen. Hinter meinem Fenster verlieren die Bäume langsam ihre bunten Gewänder und der Boden ist übersät von braunen Tupfen, die sich rund um die Bäume auf die Erde stürzen. Die Tiere ziehen sich zurück und bereiten sich auf ihren Winterschlaf vor, während der Wind in immer stärkeren Böen über die Felder pustet und auch die letzten braunen Blätter zu Fall bringt. Vorbei ist es mit all den Farben, eine dicke Wolkenwand schiebt sich vor die Sonne, undurchdringlich und grau.
In Windeseile ist das Jahr vergangen und schon wieder verzieren zarte Eisblumen mein Fenster. Die Welt hat sich wieder zur Ruhe gelegt, um sich auf ein weiteres Jahr voll Farbe und Wandel vorzubereiten.  

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