021 - PEYTON

Die Sirene, die die Mittagspause beendete und die Arbeiter zurück in die Fabrik rief, ertönte. Der schrille Ton bereitete Peyton Ohrenschmerzen und selbst dann, als sie wieder drinnen war, die dicke Metalltür hinter sich zufallen ließ und zu den Laufbändern ging, um ihren Platz wieder einzunehmen, verklang der Ton nicht. 

Sie zog sich die Sicherheitshandschuhe an und schaltete dann das Laufband ein. Ein Scheppern ertönte und kurz darauf sah sie von weiter hinten den Schrott anfahren. 
Ein kurzer Seitenblick ließ einen Seufzer aus ihrer Kehle entweichen. Dort, wo sonst Waelon stand, sich durch seine Haar fuhr und sich darüber aufregte, dass der der zehnte, leere Finger des Handschuhs ihn beim arbeiten störte, war heute niemand. Der blauäugige Lockenschopf hatte sich bereits für die gesamte Woche krank gemeldet und Peyton war sehr froh darüber, dass Finch noch nicht mitbekommen hat, was sie für einen Plan hatten.

Seit Willow bei ihm in der Wohnung zusammengebrochen ist, hatten sie vereinbart, sich mit dem Arbeiten in der Fabrik abzuwechseln. Der Vorfall lag nun zwei Tage zurück und alles was sie bisher über Willows Tabletten herausgefunden hatten war ... Nichts.
Einen Arzttermin zu bekommen stellte sich schwieriger heraus als sie gedacht hatten, denn um in den Nexosring zu kommen, mussten sie einen Antrag stellen, in dem genau beschrieben wurde, weshalb man den innersten Ring betreten wollte. Und weil Willow nicht ohne gefälschten Ausweis dort rein kam, mussten sie darauf warten, dass Arlington eine gescheite und wenn möglich perfekte Fälschung hin bekam. 

Und bis dahin wollten sie immer abwechselnd auf Willow aufpassen. Diese Woche war Peyton mit der Arbeit in der Fabrik dran und Waelon ab nächste Woche. Danach, hofften beide Freunde, würden sie für Willow einen Termin haben, sodass sie dann wieder in die Fabrik konnten, ohne dass Finch Verdacht schöpfen könnte.

Missmutig griff Peyton nach den Altmetallteilen und kontrollierte sie, ehe alles in einer Kiste landete. 

Willows Anfall war nicht so schlimm gewesen, wie sie anfangs befürchtet hatte und bisher hatte er sich auch nicht noch einmal wiederholt, doch sie wirkte seitdem schwächlich und abwesender als sonst. Peyton machte sich Sorgen und sah über ihre Schulter. In der dunklen Ecke unter der Treppe...dort hatte Willow die letzten Male gesessen, hatte Schrauben sortiert und war mit ihr und Waelon essen gegangen, wenn sie Pause hatten. Die Eingliederung in ihren Lebensstil würde ihr niemals zu einhundert Prozent gelingen, doch sie machte sich ganz gut und Finch hatte sie noch nicht bemerkt. 
Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was dann passieren würde. 

"Ey, Reed." 

Erschrocken zuckte sie zusammen und drehte sich um. Auf einem der Metallgitterbrücken stand Muto - der Liebling von Finch. Sein schwarzer Oberlippenbart klebte verschwitzt an der Haut und die buschigen Augenbrauen zuckten belustigt. 

"Der Boss will dich sehen."

"Worum geht's?", fragte sie und streifte sich langsam die Handschuhe von den Fingern. Die Haut darunter war rissig und trocken. 

"Woher soll ich das wissen? Ich bin kein Nachrichtenübertragungsgerät. Ich sollte dir nur ausrichten, dass du deinen hübschen Hintern sofort in sein Büro bringen sollst." Er schnalzte mit der Zunge und mit den Händen zu Fäusten geballt drehte sich Peyton um und ging auf das Büro zu. 

Muto hatte Unrecht. Er war ein Nachrichtenübertragungsgerät. Wenn auch aus Fleisch und Blut. 

Vor dem Büro von Finch blieb sie stehen und blickte auf die Tür. Das grün war verblichen und sah aus wie brackiges Moorwasser. Sie holte tief Luft, gab sich einen Ruck und betrat dann das Büro ihres Chefs. Der große Mann saß hinter seinem Schreibtisch und knallte betont laut einen Aktenordner zu. 
Peyton zuckte zusammen. 

"Reed, meine Kleine. Setz' dich doch." 

Seine Hand wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch hin. Langsam ließ sie sich auf den Stuhl sinken. Das Polster, das einmal weich und samtig gewesen war, war nun vollkommen durch gesessen, sie spürte die Holzplatte darunter und am liebsten wäre sie wieder aufgestanden, doch Finch würde das nicht dulden. 

Finch wühlte in dem Aktenberg, der auf seinem Schreibtisch beinahe so hoch war, dass er dahinter verschwand, fischte schließlich einen der braunen Umschläge heraus und lehnte sich nach hinten. 

"Wie geht's dir, meine Kleine?"

Peyton drückte ihre Fingernägel in das Sitzpolster. "Gut." 

"Das ist schön, das ist schön." Finch schenkte ihr ein Lächeln und die schwarzen, nach hinten gegelten Haare wirkten in Kombination mit dem schwarzen Anzug viel zu edel für einen Ort wie diesen. "Für deine alte Wohnung habe ich tatsächlich noch am selben Tag deines Auszugs einen Nachmieter gefunden." Ein gehässiges Grinsen zierte seine glattrasierten Mundwinkel. 

"Freut mich für dich." Sie meinte es nicht so.

"Wo wohnst du jetzt, meine Kleine? Hast du etwas gefunden?"

Sie nickte. "Eine kleine Wohnung im Osten, näher am Lager." Das war nicht einmal gelogen. Waelon wohnte östlich von ihrer alten Wohnung und somit näher am Lager. Verdammt, sie musste sich endlich eine neue Wohnung suchen. Sie und Willow konnten das Risiko nicht eingehen, dass Waelon dabei erwischt wird, wie in seiner Wohnung noch zwei Personen mehr wohnten. 

"Das ist schön, sehr schön. Freut mich wirklich sehr." Er legte den Kopf schief und strich sich über seine Haare. "Auf die Straße gehörst du nicht. Nicht noch einmal. Dass ich dich damals von dort retten musste reicht vollkommen aus."

Sie schüttelte langsam den Kopf. 

"Wie geht es Wolf?", lenkte er das Thema um.

"Naja, Waelon ist krank. Ich denke, ihm geht es entsprechend."

Langsam nickte Finch. Seine eisblauen Augen ließen sie nicht los. "Du bist schon ziemlich lange bei uns, meine Kleine."

Hör' verdammt nochmal auf mich so zu nennen, dachte Peyton und biss die Zähne zusammen. Nach außen hin blieb ihre Miene ausdruckslos.
"Acht Jahre, fünf Monate und dreiundzwanzig Tage", erwiderte sie. 

Finch spitzte die Lippen und pfiff leise. Er schwieg jedoch. 

"Gibt es Anlass zu Beschwerden?", fragte Peyton.

Finch lächelte. "Aber nein, nein", sagte er schlicht. "Es ist alles in Ordnung. Abgesehen deiner bisherigen Anzahl der fehlenden und zu spät gekommenden Tage sieht alles gut aus. Du hast dich, ehrlich gesagt, verbessert, seitdem du aus deiner Wohnung geflogen bist. Anscheinend war das der Anstoß, den du gebraucht hast."

Nein, der wahre Grund, dass ich nicht mehr zu spät komme ist, weil mehr Personen als erlaubt in Waelons kleiner Wohnung leben und ich nicht möchte, dass er dabei erwischt wird. 
Doch sie sagte es nicht laut. Sie lächelte bloß verkniffen. 

"Trotzdem muss ich mit dir reden."

Peyton sah ihn erwartungsvoll an. Finch beleckte seine Lippen, senkte den Kopf und starrte auf die Mappe in seinen Händen. "Es tut mir leid, meine Kleine, aber wenn du in drei Tagen nicht aus Waelons Wohnung verschwunden bist, dann werde ich euch beide wohl rausschmeißen müssen."

"Was?" Aufgebracht war Peyton nach vorne an die Stuhlkante gerutscht. 

"Leider ja." Finchs Stimme war sanft und der Blick voll gespielten Mitleids. 

"Aber...aber du sagtest doch eben noch, dass alles in Ordnung sei."

"Es ist auch alles in Ordnung, wenn du und dein neunfingriger Freund euch an die Abmachungen haltet", sagte er resignierend und das Zucken seiner Schultern strahlte pure Gleichgültigkeit aus. 

Peyton biss sich auf die Lippe und blickte nach oben, in der Hoffnung, die Tränen würden wieder nach unten fließen. Sie durfte keine Schwäche vor Finch zeigen. Das war genau das, was er wollte. 

"Warum hast du mir nicht gesagt, dass du keine Wohnung hast, meine Kleine? Wie lange wohnst du nun schon bei Wolf? Etwa zwei Wochen? Glaubst du, ich hätte das nicht mitbekommen? Der Wasserverbrauch ist gestiegen und Waelons Lebensmitteleinkäufe waren ebenfalls größer als sonst. Zudem sind deine Ausgaben nicht mehr gesunken." 

Peyton biss sich noch fester auf die Lippe. Diese Kontrolle und ständige Beobachtung durch Finch raubte ihr noch den letzten Nerv. Am liebsten würde sie jetzt aufspringen und ihn anschreien. Ihm sagen, dass er doch froh darüber sein sollte, dass sie nicht in irgendeinem Park lag und auf einer Bank schlafen müsste, sondern ein Dach über dem Kopf und einen Freund hatte, der sich um sie sorgte. 
Doch dann war sie sofort gefeuert und hatte mehr Probleme als das. 

"Hey, Kleine." Finchs Stimme war lauter und Peyton richtete ihren Blick auf den Mann. "Ich kann dir helfen eine Wohnung zu finden. Momentan sind keine in der Umgebung frei, doch ich habe ein Gästezimmer."

"Danke, ich finde schon was", murmelte sie und erhob sich zitternd. "Darf ich jetzt bitte gehen? Ich habe einiges zu tun."

Finch musterte sie ausgelassen von oben bis unten. Seine Augen streiften ihre durchlöcherte Jeans, die kaputte Jeansjacke, die blaue Mütze auf ihrem Kopf, die tränenbenetzten Wangen. Dann nickte er. "Am Montag möchte ich deine neue Adresse mitsamt Wohngebiet und Wohnvertrag sehen. Bis dahin ist dein Gehalt still gelegt." 

Mit einer abfälligen Handbewegung entließ er sie und ohne ein Wort zu verlieren stürmte Peyton aus der Fabrik. Unterwegs schmiss sie ihre Schürze weg, richtete ihre Mütze und nachdem sie die Fabrik verlassen und das Gelände mit energischen Schritten überquert hatte, wischte sie sich ihre Tränen weg. 

Sie musste Waelon bescheid geben und dann Arlington eine Nachricht schreiben. 
Er musste ihr helfen...Nein. 
Er würde ihr helfen!

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