019 - WILLOW

Es waren dunkle Schemen, die Willow die Sicht raubten. Verschwommen tanzten sie vor ihren Augen herum. Es rauschte in ihren Ohren, weshalb sie die Stimmen nicht deutlich wahrnehmen konnte, die um sie herum wie ein tosender Tornado herumwirbelten.
Sie wollte ihren Mund öffnen, um nach Luft zu schnappen, denn es war viel zu stickig und gleichzeitig viel zu frisch.
Doch sie konnte sich nicht rühren. Ihre Glieder fühlten sich schwer an und drückten sich fest in die harte Matratze unter ihrem Rücken.
Sie versuchte ihre Finger zu bewegen – aber sie konnte ihren Kopf nicht drehen, um zu schauen, ob es funktionierte.

Frustriert wollte sie seufzen oder schnauben, jedoch funktionierte auch das nicht. Stattdessen trieb es Willows Wut und Unbehagen noch höher.

Was war hier los?

Wo war sie?

Sie versuchte sich daran zu erinnern wo sie zuletzt gewesen ist, doch alles war verschwommen. Sie erinnerte sich nur an blaue Himmel, dem Duft nach Nudeln und einer weichen Decke auf ihren nackten Füßen.

Unruhig wand sie sich, wobei sie sich nicht sicher war, ob sich auch nur ein einziger Muskel bewegte.

„...erfordert Disziplin..."

Wörter brachen durch die dichte Wand aus Wolle, von der Willow umgeben war.

„...überwachen, was mit der Technologie nicht allzu schwer ist..."

„...die Wichtigkeit ist Ihnen hoffentlich klar?..."

Eine andere Stimme.

„Seit wann siezen wir uns ... ?"

Der Name war zu undeutlich. Willow konnte ihn nicht verstehen.

„...jede Woche...Ungereimtheiten...Probleme..."

„...stures Stillschweigen..."

Ein Seufzer...oder?

„Sicher. Wir sehen uns."

„Wann würden wir uns denn nicht wiedersehen, Cherie, meine Kirsche?"

Ein Schnauben...oder? War das Empörung? Belustigung?

Willow konnte es bei bestem Willen und ihrer gesamten Anstrengung und Konzentration nicht klar heraushören.
Und während sie sich noch weiter anstrengte, spürte sie ein schmerzhaftes, kurzes Piksen in ihrem Oberarm.
Dann driftete sie weg. Der Strudel riss sie herum. Ihre Gedanken überschlugen sich und im nächsten Moment knallte sie hart auf den Boden.

Erschrocken öffnete sie ihre Augen.
Dämmriges Licht fiel durch ein schmales Fenster in das Zimmer und ihr gegenüber blickte Willow in ein verschlafenes Gesicht mit Augenringen. Nur ihr Spiegelbild. Blonde Haare standen in alle Richtungen ab.
Und dann wurde die Tür zu ihrer Linken aufgerissen.

„Willow, ist alles in Ordnung?"

Waelon stand in der Tür, die Augen sorgenvoll aufgerissen, zu ihr hinabstarrend. Direkt hinter ihm tauchten kurze Augenblicke später drei neugierige Augenpaare auf – Peyton, Arlington und...Elijah.

Langsam nickte sie, ihr Kopf noch immer nebelig und durcheinander. Was hatte sie da geträumt? Und wer hatte da geredet?

Eine warme Hand an ihrer Schulter, Willow zuckte zusammen.

„Hey, alles gut, ich bin es. Waelon."

Willow blickte in seine Augen und schloss kurz die Augen. Die Bilder des Traumes waren verschwunden – aufgelöst wie Rauch.

„Geht's dir gut?"

Jetzt saß Peyton auf ihrer anderen Seite, Arlington und Elijah standen weiterhin in der Tür und starrten auf die drei Freunde hinunter, die auf dem Boden saßen.

„Ja, es geht. Ich bin nur aus dem Bett gefallen", murmelte sie und lächelte sanft.

Es war nur ein Albtraum. Keiner dieser blutigen, in denen Organe von Zähnen zerrissen wurden, wie es Willow aus älteren Dokumentarfilmen kannte, die gedreht wurden, bevor die Welt zerstört wurde. Es war einer dieser unnatürlich gruseligen, bei denen man dennoch das Gefühl hatte hautnah dabei gewesen zu sein. Dass man das Gefühl noch minutenlang nach dem Aufwachen auf der Haut als sanftes Prickeln spüren konnte.

„Wir haben noch Nudeln", munterte sie Waelon auf und ein belustigtes Grinsen schlich sich auf Willows Lippen. Sie hatte in den letzten Tagen, in denen sie hier mit Peyton wohnte die eigenartigen Eigenschaften des neunfingrigen Mannes herausgefunden. Nicht nur, dass Waelon für sein Leben gerne Nudeln aß, was durchaus daran liegen konnte, dass er nichts anderes kochen konnte, er schlief auch mit nur einer Socke, immer abwechselnd an dem linken und rechten Fuß und Duschen tat er nur kalt.

„Nudeln klingen gut", sprach Willow und rappelte sich mit der Hilfe ihrer beiden Freunde auf die Füße. Ihre Beine wackelten einen Moment, dann hatte sie sich gefangen und begegnete den warmen braunen Augen des Barkeepers. Der sonst so perfekte Anblick, den er verstrahlt hatte, war verflogen. Der Lidstrich war am rechten Auge verschmiert und vom Lidschatten war kaum noch etwas übrig. Zudem hatten sich unter seinen Augen Tränenabdrücke abgebildet, die die Mascara von seinen Wimpern weggewaschen hatten.

„Hi...", hauchte Elijah.

Willow erwiderte nichts, sondern zwängte sich an Arlington vorbei, dessen Wunden bereits am Heilen waren. Peyton hatte sich liebevoll um Arlington gekümmert, als er von seinem Bruder – Elijah – zerschlagen vor Waelons Tür aufgekreuzt war. An so viel konnte sich Willow noch erinnern.

„Wie lange habe ich geschlafen?", erkundigte sie sich, während Waelon ihr einen Teller mit Nudeln hinstellte.

„Drei oder vier Stunden. Ich habe nicht genau auf die Uhr geschaut."

„Und ihr beiden ward die ganze Zeit hier?", fragte sie und sah die beiden Brüder an, die sich ihr gegenüber niederließen – wobei Elijah sehr unsicher aussah, ob er sich hinsetzen sollte.

„Ja, wir...Er wollte etwas", meinte Arlington und zeigte dann auf Elijah.

Interessiert hob Willow ihre Augenbrauen, während sie sich die Spagetti auf die Gabel drehte und den großen Haufen in ihren Mund schob. Ob das unhöflich war?
Es war ihr egal.
Ihr ganzes Leben hatte sie sich zivilisiert verhalten, doch dass Elijah hier war, wo er doch seinen Bruder verprügelt hatte, hob nicht ihre Laune. Wie hätte sie sich so in einer Person täuschen können? An dem Abend, als sie ihn kennengelernt hatte, wirkte er freundlich, vielleicht etwas überheblich, aber auf keinen Fall wie ein Schlägertyp. Dass er Arlington geschlagen hatte, kam ihr so absurd vor. Und noch absurder war, dass sie eine gewisse Abneigung gegenüber Elijah verspürte und das Gefühl hatte, auf Arlingtons Seite stehen zu müssen. Es überraschte sie noch immer, wie viel ihr an diesen Personen lag, die sie erst so wenige Tage kannte.

„Ich...Man sucht dich."

Willow schnaubte belustigt. „Glaubst du, das weiß ich nicht?" Etwas zu laut legte sie ihre Gabel ab. „Warum glaubst du, habe ich mir meine Haare abgeschnitten? Doch nicht etwa nur um meine Mutter zu ärgern." Sie schob den Teller von sich. Ihr war übel. „Ich will nicht gefunden werden, also spar dir deine Mühe, mich zurück zu bringen."

„Ich habe gar nicht gesagt..."

„Weshalb solltest du sonst hier sein?", unterbrach sie ihn barsch. „Als ob jemand wie du einfach so zum Spaß mit seinem Bruder in den Doom-Ring kommt, nur um zu schauen, wo sich die vermisste Tochter der angesehenen Familie van Higbee-Fisk aufhält. Verkaufe mich doch nicht für blöd."

„Ich halte dich nicht für blöd", beteuerte Elijah schnell.

Willow beließ es dabei und rieb sich über das Gesicht. Ihr Arm schmerzte, wo sie im Traum gepikst worden war und ihr Kopf pochte unangenehm.

„Ich würde gerne duschen gehen. Ich bin voll fertig und..."

„Nimmst du Medikamente?"

Waelon hatte sich Willows Nudeln genommen und nahm sich eine nach der anderen vom Teller. Nun blickte Willow zu dem blonden jungen Mann hinüber. Er kratzte sich kurz am Hinterkopf.

„Ich...Nein, warum? Sollte ich denn?"

Waelon zuckte die Schultern und erwartungsvoll sah Willow zu Peyton. Der Blick ihrer Freundin wurde sanft. „Wir hatten uns Sorgen gemacht und dachten, dass der Schwächeanfall, den du vorhin hattest vielleicht damit zusammenhängt, dass du Medikamente nehmen musst, die du aber nicht hier hast."

„Ich nehme keine Medikamente. Also klar, eine Schmerztablette bei Kopfschmerzen, aber das meint ihr sicher nicht."

Arlington schüttelte dieses Mal den Kopf. „Dein Anfall kam ziemlich unerwartet, so hatten es Peyton und Waelon jedenfalls erzählt."

Willow zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, ich nehme keine Medikamente."

„Schwächeanfälle rühren meistens daher, dass man unter Stress steht und der Körper ziemlich überfordert mit der aktuellen Situation ist. Er muss viele Sachen verdauen und..."

Willows Augen funkelten Elijah wütend an und sofort verstummte der Barkeeper. „Hältst du mir gerade einen Vortrag? Glaubst du, ich weiß nicht, dass momentan mein Leben auf den Kopf gestellt wird? Ich bin verdammt nochmal von Zuhause abgehauen, habe meine Familie verlassen, einen Schwachkopf, der denkt, er könnte mich heiraten, nur damit er meiner Mutter noch näher ist als sonst schon und noch dazu habe ich meine Haare abgeschnitten, mit dem Gedanken, mein Leben jetzt komplett umzustellen."

„Ich wollte nicht..."

Ruckartig stand Willow auf, sodass alle Anwesenden zusammen zuckten. „Hör zu, Elijah. Du meinst es vielleicht gut, aber die Intention hinter all dem bildet Daniel, der dich vermutlich im Auftrag meiner Eltern noch dazu beauftragt hat mich zu finden", die Blondine ging mit zwei großen Schritten auf ihn zu und stach ihm mit dem Finger in die Brust. „Ich möchte keine Entschuldigung von dir haben, keine Erklärung oder Hilfestellung. Alle Menschen, die mir wirklich helfen wollen, sind seit mehreren Tagen hier, kümmern sich um mich und helfen mir, damit ich nicht in dieser Gesellschaftsschicht auffalle. Es hilft also weder mir noch meinen Eltern, wenn du mich mit Wörtern eindeckst, deren Sinn du vielleicht nicht mal ernst meinst. Also tue mir bitte den Gefallen und mach dich auf den Weg zurück zum Tower! Damit hilfst du mir am Meisten."

Und noch während die anderen Willow sprachlos anstarrten, ging sie nebenan ins Bad, schloss die Tür ab, rutschte an der Wand runter und verbarg ihr Gesicht in den Händen. 

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