007 - WILLOW

Es war sinnlos. 

Sie konnte noch so lange durch den Tower laufen wie sie wollte. Ohne eine Schlüsselkarte eines Berechtigten würde sie nicht unbemerkt rauskommen. 

Seit einer Stunde hastete Willow nun schon durch die Gänge und Räume des Celment Towers. Hauptsächlich waren es große Konferenzräume, Lounges oder Räume für Freizeitgestaltungen. Weiter unten befanden sich auch Büroräume, doch bis dorthin schaffte sie es nicht unbemerkt. Immer wieder hörte sie die Stimmen der Sicherheitsleute, die sie suchten. 

Nachdem sie vor Daniels Antrag geflohen war, hatte sie sich auf eine Terrasse bewegen wollen. Doch entgegen ihres Plans, sich an die Brüstung zu stellen, über die Stadt zu blicken und frische Luft zu atmen, um etwas Ruhe zu tanken, war sie mit ihren Absatzschuhen so schnell es ging nach rechts gerannt, bis sie wieder eine Tür entdeckt hatte, die zum Glück offen war und in einen Raum führte, in dem niemand drinnen war. Und seitdem war sie auf der Flucht. 

Kurz lachte Willow bitter auf. Flucht, wie das klang. Als ob sie etwas verbrochen hätte. 
Das hatte sie ganz offensichtlich nicht. Sie hatte einen Antrag abgelehnt, sie hatte das Recht dazu 'Nein' zu sagen - aber nicht in der Welt ihrer Eltern. Dort musste sie 'Ja' sagen, ihren Plänen zustimmen, so abstrus und verworren sie auch sein mochten - Willow hatte zustimmen sollen. 

Doch sie hatte genug. Die Fesseln hatten ihr viel zu lange die Luft abgeschnürt. Die Bänder rissen langsam und sie musste nur noch nach der Schere greifen, die irgendwo dort draußen lag und dieses Band durchtrennen. 

"Etage fünfzehn, Ostseite und Südseite sind leer."

Erschrocken blieb Willow stehen. Sicherheitsmänner! Schnell tastete sie nach der nächstbesten Tür, öffnete sie und hastete hinein. Dann schlug sie die Tür zu und schloss die Augen. Zitternd atmete sie ein und aus.

"Ich bin mir sicher, dass Sie mir ihre Lage erklären können. Sofern Sie das möchten."

Blitzartig öffnete Willow ihre Augen und blickte in das klare, warme Goldbraun des Asiaten. Der Barkeeper...er stand hier. Vor ihr. Neben einem Pissoir. Die Hand am Reißverschluss der Hose, wahrscheinlich war gerade fertig oder aber er wollte jetzt...HALT STOPP! Willow, Bilder aus, Gedanken an, warnte sie sich und schloss für einen Augenblick die Augen, ehe sie Elijah klar anblickte. Nur in die Augen schauen, dann schaffe ich das, sagte sie sich immer und immer wieder im Kopf.

Das Lächeln trat automatisch auf ihre Lippen. "Ja, ähm...also...wissen Sie...ich...ich habe mich in der Tür geirrt. Ein Missgeschick." Sie lachte auf und tastete hinter sich nach der Türklinke, obwohl sie die Stimmen der Sicherheitsleute hörte, die vermutlich gleich den Gang entlangkommen würden und wenn Willow genau in dem Moment auf den Gang trat, würde sie sich nicht rechtzeitig in die Damentoilette retten können. 

"Passiert jedem mal." Elijah legte den Kopf schief, trat neben sie an die Waschbecken und ließ sie durch den Spiegel nicht eine Sekunde aus den Augen. 

"Ich verstecke mich vor den Sicherheitsleuten, weil ich einfach nur hier aus dem Tower möchte, aber keine passende Schlüsselkarte besitze." Hastig schlug sie sich die Hände vor den Mund und trat einen Schritt zur Seite. Warum hatte sie das gesagt?

"Und deshalb müssen sie so schwungvoll in die Männertoilette stürmen?" Das Zucken seiner Mundwinkel entging Willow nicht, auch wenn er sich abwandte und die Hände an den Trockner hielt. 

Die Stimmen der Sicherheitsmänner näherten sich. 

"Ich könnte ja versuchen Ihnen zu helfen, aber..."

Mit wenigen Schritten war sie bei dem Barkeeper angekommen und hatte ihm ihre Hand auf den Mund gelegt. Seine Worte verstummten und mit großen Augen und einem überraschten Ausdruck darin, blickte er auf sie hinab.

"Das ist echt nicht böse gemeint, aber bitte halten Sie den Mund!"

Auf dem Gang waren die Stimmen der der Sicherheitsmänner nun deutlich zu hören. 

"Damentoilette ist leer." Das Zuschlagen einer Tür war zu hören.

Sie werden hier reinkommen, fuhr es Willow durch den Kopf und eilig sah sie sich nach einer Möglichkeit um sich zu verstecken, da hatte der Barkeeper sie herumgedreht, ihre andere Hand in seinem Nacken platzierte und sie nah zu sich herangezogen - sehr nah. Im nächsten Moment sprang auch schon die Tür zur Männertoilette auf. Willow konnte nicht in den Spiegel sehen, doch das brauchte sie auch nicht. 

Einer der Sicherheitsmänner räusperte sich, dann wurde die Tür wieder geschlossen - begleitet von einem "Knutschen in Toiletten? Was finden daran alle immer nur so toll?", ehe sich die Schritte entfernten. 

"Wir checken die anderen Räume und die Etagen sechzehn bis achtzehn durch. Sie kann ja nicht vom Erdboden verschluckt worden sein."

Die gleichmäßigen, immer leiser werdenden Schritte verrieten, dass sich die Suchmannschaft entfernte. Die Luft war rein und Willow konnte aufatmen. Die braunen Augen des Asiaten musterten sie intensiv und für einige Herzschläge war Willow gebannt von seinem Blick. Ihr Herz klopfte wild in ihrer Brust und der Duft von Alkohol, Honig und Rosenblüten umwirbelte ihre Sinne.
Plötzlich spürte sie etwas warmes, feuchtes an ihrer Handinnenseite, riss sie aus ihrer Starre. Angeekelt quietschte sie auf und zog ihre Hand zurück. Auf dem Gesicht des Barkeepers lag ein spöttisches Grinsen.

"Haben Sie gerade meine Hand abgeleckt?!", schrillte die fassungslose Stimme der jungen Frau durch den Raum, während sie an das nächstgelegene Waschbecken hastete und den Wasserstrahl über ihre feuchte Hand laufen ließ. 

Schulterzuckend antwortete der Asiate: "Sie war ja schließlich in meinem Gesicht. Sie haben es praktisch provoziert." Aufmerksam beobachtete er jede ihrer Bewegungen. Er erinnerte sie an einen Panther, sie hatte erst vor kurzem eine Dokumentation über das ausgestorbene Tier gesehen. Die Katze hatte sich elegant bewegt und geduldig seine Beute beobachtet. 

"Sie haben nicht die vollkommene Unschuld an der Nähe, wenn Sie sich erinnern? Eben noch haben sie mich zu sich rangezogen, damit es den Anschein erweckt wir würden..."

Auf einmal streckte er seine Hand aus und Willow zuckte kurz zusammen, fasste sich aber und reichte ihm ihre Hand. 
Sie war nicht in ihrem Haus, nicht bei ihren Eltern. Niemand würde sie verurteilen können, dass sie einem Bediensteten von Daniel Celment die Hand gab.

"Ich bin Elijah", stellte er sich schmunzelnd vor.

"Ich weiß." antwortete sie knapp. Und dann, mit einem lächeln, "Willow."

Das Grinsen des Barkeepers wurde noch breiter als zuvor. "Ich weiß."

"Natürlich, wie denn auch nicht? Dem Antrag haben immerhin hunderte Menschen beigewohnt." Unschlüssig strich sich Willow eine Haarsträhne hinter das Ohr. 

"Nicht ganz so viele", korrigierte Elijah schmunzelnd und wies auf die Tür hin. "Wollen wir dann gehen oder haben Sie das Bedürfnis sich weiterhin in der Männertoilette zu unterhalten? Ein recht ungewöhnlicher Ort, wenn man bedenkt, dass Sie eine Frau sind."

"Ach, und wenn ich ein Mann wäre, ist das Unterhalten auf der Toilette wohl weniger eigenartig?"

"Es wäre nicht so verwerflich, wenn jemand plötzlich reinplatzen könnte - Sicherheitsmänner, zum Beispiel."

"Sie haben ja eine schnelle Lösung gefunden, da vertraue ich Ihnen." Willow spürte Hitze in sich aufsteigen. Wie konnte sie sowas nur sagen? Sie flirtete doch wohl nicht gerade mit dem Barkeeper auf der Männertoilette?

"Sie wollen also weiterhin hierbleiben?"

Entschieden lehnte Willow ab. "So reizend ihr Ausweichmanöver auch war, das Ambiente zu wechseln schadet nicht."

Und schon einige Sekunden später ging sie an Elijahs Seite durch die leeren Gänge des Towers. Zusammen stieg sie mit ihm in den Aufzug und landete wenig später wieder in der Bar. Das Licht war ausgeschalten und lediglich die blauen und roten Neonröhren leuchteten an den Regalen hinter dem Thresen. 

"Was möchten Sie trinken?"

"Sie bedienen jetzt noch Gäste? Ist es dafür nicht zu spät?"

Elijah zuckte die Schultern und holte neben einer Flasche Wodka zwei Gläser raus. "Es ist nie zu spät, um etwas zu Trinken, zudem geht meine Schicht eigentlich bis vier Uhr. Nur weil die Gäste fehlen, heißt das nicht, dass ich nicht noch ausschenke."

"Vier Uhr?" Willow ließ sich auf einen Barhocker sinken. Ihre Füße schmerzten von dem stundenlangen Flüchten durch den schier endlosen Tower. Sie freute sich jetzt schon darauf, in der weichen Matratze ihres Bettes zu versinken, die weiche Decke über ihre nackten Beine zu ziehen und sich der Geborgenheit der Traumwelt hinzugeben - wenn das doch alles nicht in der Obhut ihrer Eltern liegen würde. "Warum arbeiten Sie so lange?"

"Daniel", sagte Elijah nur und das war Antwort genug. Willow hatte genügend Abendessen mit Daniel verbracht und ausreichend Sendungen gesehen, um zu bemerken, dass er Alkoholiker war. Dieser Mann überstand keinen einzigen Tag, ohne etwas getrunken zu haben. Wie praktisch es da doch war, dass er einen eigenen Barkeeper hatte. 

"Warum haben Sie seinen Antrag abgelehnt?"

Die unverblümte Frage überraschte Willow und langsam legte sie ihre Finger um das kühle Glas. Der klare Wodka schimmerte in Neonfarben. 

"Warum hätte ich ihn annehmen sollen?"

Elijah zuckte die Schultern. "Er ist ein erfolgreicher Mann, der vielen Menschen geholfen und ihnen ein Leben ermöglicht hat. Das tut er noch immer."

"Er ist weitaus mehr als das", sinnierte Willow und trank den Wodka in einem Zug aus. Mit brennender Kehle stellte sie das Glas zurück und forderte mit einem Nicken Elijah auf das Glas wieder zu füllen. "Dieser Mann mag in den Augen aller als ein Engel erschienen sein, der die Welt versuchte zu retten. Doch er war nicht alleine, wenn Sie das bedenken."

"Raphael ist tot", bemerkte Elijah und drehte das Glas in seinen Fingern. Er hatte noch keinen Schluck getrunken. "Jeder, der in Centenniel geboren wird, kennt die Entstehungsgeschichte."

"Dennoch sollte auch er in irgendeiner Art und Weise geehrt werden, denn diese Stadt ist nicht nur Daniels Werk. Die Eltern von Daniel und Raphael waren im Prinzip die Gründungsväter und sie haben es nur an ihre Söhne weitergereicht. Und seit Raphael tot ist, lehnt sich Daniel in dem Thron aus Ruhm und Ansehen zurück. Und wofür? Der Großteil aller Menschen, die er gerettet hat, arbeiten in Fabriken, setzen sich der Gefahr aus, von der Seuche angesteckt zu werden. Und wir hocken hier drinnen im innersten Ring auf unserem Arsch und erfreuen uns an den Dingen, die wir haben - ganz besonders Daniel."

Wütend knallte Willow das erneut leere Glas auf den Tresen und nickte Elijah ein weiteres Mal zu. Ohne zu protestieren schenkte er ihr ein - weniger als zuvor, doch Willow störte das nicht. Es war gut, dass sie nicht zu viel trank, ihre Eltern würden ihr nur eine zu große Standpauke halten.

"Daniel war geschockt über den Tod seines Freundes. Er ist in ein Loch gefallen."

"Er betrinkt sich."

"Er versucht auf schöne Gedanken zu kommen." Elijahs Stimme war finster und sein Blick auf sein noch immer volles Glas gerichtet. "Sie wissen nicht, welche Qualen er in seinem Inneren mit sich ausmachen muss. Wie gebrochen er eigentlich ist."

"Und deshalb ist es in Ordnung mit anderen Menschen so umzugehen, als würden Sie es nicht verdienen hier zu leben?"

"Die Sicherheitskontrollen sollen verhindern, dass sich der Virus zu weit ausbreitet."

"Niemand weiß, zu was dieser Virus fähig ist. Vielleicht dringt er schon bald durch die Schutzschilde und befällt uns alle?" Beiläufig zuckte sie mit den Schultern und nippte an ihrem Wodka. 

"Ältere und kranke Menschen sind eher betroffen als wir. Selbst wenn der Virus uns befallen würde, wäre die Chance auf ein längeres Leben höher als bei vorbelasteten Bewohnern."

"Dann hätte ich Daniel ganz schön schnell verloren gehabt, wenn ich jetzt mit ihm verheiratet wäre." Willow schnaubte und schob ihr leeres Glas von sich. "Dieser Mann würde schon bei dem kleinsten Schnupfen zusammenbrechen. Was würde es mir bringen Daniel zu heiraten? Entweder stirbt er an dem Virus, sobald dieser sich einen Weg in das Innere unserer Stadt gräbt oder aber der Alkohol frisst ihn auf."

"Daniel hat Ansehen."

"Meine Familie auch, selbst wenn sie es nicht in den Mittelpunkt schiebt."

Elijah zuckte die Schultern und ließ sein Glas los - noch immer voll. "Er hat Gefallen an Ihnen gefunden."

Ein spöttisches Lachen verließ Willows Kehle - laut und hysterisch. "Gefallen, pah. Nicht an mir, nein. Sie irren sich da gewaltig."

"Ach ja? Und warum? Weshalb sonst sollte er Ihnen den Antrag gemacht haben?"

"Um meiner Mutter nah zu sein." Die Worte auszusprechen tat gut und Elijahs verwirrter Ausdruck ermutigte sie fortzufahren. "Er fand meine Mutter schon immer attraktiv. Sie hatten sogar mal was zusammen. Aber dann hat sie meinen Vater kennengelernt."

"Und Daniel blieb dann links liegen?"

Willow nickte. "Mein Vater hatte meiner Mutter eine sichere Zukunft gezeigt. Da war Daniel nebensächlich." Willow griff nach Elijahs Glas und trank es aus. Als sie beide leeren Gläser nebeneinander betrachtete, spürte sie das Pochen in ihrer Schläfe. Der sanfte Druck des Alkohols. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, ehe sich ihr Blick wieder verfinsterte. "Geld und Macht ist das, was einen in solch einer Welt weiterbringt. Man kann noch so viel Liebe füreinander empfinden oder zeigen - es bringt einen aber nicht weiter." 

Schwankend erhob sie sich. Ihre Finger krallten sich in die Theke. "Vergessen Sie das nicht, Elijah. Wenn sie Daniel das nächste Mal sehen, sollten Sie um eine Gehaltserhöhung bitten." Sie zeigte auf die Tür der Bar hin, die zum Ausgang führte. 
Sie musste dringend nach Hause, ehe ihre Eltern noch eine Suchmeldung aufgeben würden. "Und jetzt gib mir deine verdammte Schlüsselkarte, ich muss nach Hause!"

Ein belustigtes Zucken umspielte Elijahs Mundwinkel. "Ich weiß zwar nicht, wann wir zum 'Du' übergegangen sind, aber gerne doch, Willow." Er schob ihr die Schlüsselkarte hin, Willow griff sie sich, winkte ein letztes Mal, dann ging sie, mit fast geraden Schritten, auf den Ausgang zu. 

"Geld regiert die Welt!", rief sie und lachte ein letztes Mal. "Vergessen Sie das nicht, Sie heißer Barkeeper."

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