Kapitel 2 - Der andere Fahrgast

Natürlich habe ich es versucht.
Jeden Tag wollte ich mir einen Teil der perfekten Spiegelwelt zu eigen machen. Morgen um Morgen arbeite ich mich durch die ausgefallensten Make-up-Tutorials. Ich tupfte und zupfte, pinselte und puderte, bis endlich mein wahres Ich zum Vorschein kommen würde. Meine Naturhaarfarbe tauschte ich gegen ein so überkandideltes smaragdgrün, wie es nur das Meer besaß. Zumindest das Meer aus der Spiegelwelt – ein anderes hatte ich noch nicht zu Gesicht bekommen.
Ich postete besonders gelungene Exemplare meines wahren Ichs und ergötzte mich an jedem der gesammelten Herzen. Aber wenn ich dann aufblickte, hatte sich in diesem Leben, in dem ich feststeckte, doch nichts geändert. Alles wirkte wie immer. So trist. Farblos. Eintönig.

Diesmal hatte sich etwas geändert, denn die sich durch den Untergrund windende U-Bahn war mittlerweile wie leergefegt. Na gut, nicht wirklich gefegt. Schließlich lag der Unrat nach wie vor auf dem Boden und den Sitzflächen, und am anderen Ende des Wagons kullerte eine leere Bierflasche immer wieder von einer auf die andere Seite. Aber die Fahrgäste, denen der Müll gehörte, waren fort. Der Junge im Vierer schräg gegenüber, dem beim Essen die Salatsauce aus seinem Döner auf die Jogginghose getropft war. Der undefinierbare Quell des Schweißgeruchs irgendwo hinter mir sitzend. Und auch die alte Lady war an einer der vorherigen Haltestellen ausgestiegen – sicherlich nicht ohne abschätzig den Kopf zu schütteln oder mir zum Abschied etwas Schnippisches an den Kopf zu werfen.


Mit zusammengekniffenen Augen versuchte ich auf der glitchenden Anzeigetafel zu erkennen, welche Station folgte, da öffnet sich mit einem »Zisssssch« die Tür zum Nachbarwagon. Ein Schwall metallenen Quietschens und Dröhnens drang herein, welches ich sogar über meine Musik hinweg vernehmen konnte. Das gequälte Schreien der Räder, die in jeder Kurve an den Schienen schliffen, wie Fingernägel auf Tafelgrund.

Statt einzutreten blieb die Person im unbeleuchteten Zwischenraum der zwei Wagons stehen. Fast wirkte sie etwas verwirrt, als hätte sie sich in der Tür geirrt. Doch das war im fehlenden Licht nicht klar zu erkennen. Die Schatten machten eine konturlose, zur Gänze graue Gestalt aus ihr. So farblos wie alles hier, dachte ich und wandt mich wieder zum Fenster.

Die Tunnelwand rauschte mit absurder Geschwindigkeit an mir vorbei und ich hatte auf einmal das Gefühl eine halbe Ewigkeit in dieser Bahn verbracht zu haben. In der Reflexion sah ich, wie die graue Person endlich aus dem Türrahmen trat. Das blasse Röhrenlicht des U-Bahn-Wagons zeichnete die Konturen als scharfkantige Schatten nach. Und was sie dort zum Vorschein brachten, ließ mich zur Eisskulptur erstarren.

Langsamen Schrittes kam sie in meine Richtung und blieb dann unvermindert stehen. Unfähig auch nur zu blinzeln taxierte ich, was dort auf der anderen Seite des Wagons stand und zu mir rüber starrte. Zumindest glaubte ich das, denn die Augen der ganz und gar grauen Person lagen hinter den dunklen Löchern einer Gasmaske verborgen. Jeder Tropfen Farbe aus Kleidung und Haut schien aus ihrem Körper gesogen worden zu sein. Inständig hoffte ich, dass die Reflexion meine Wahrnehmung trügte. Ich müsste nur meinen Kopf drehen und mich von überzeugen, dass mir meine übermüdeten Augen einen makaberen Streich spielten. Aber ich wagte es nicht meinen Blick der Realität zuzuwenden und mir anzusehen, was dort wenige Meter von mir entfernt reglos im Gang stand.

Ich hoffe auf die nächste Haltestelle. Egal welche, ich würde aussteigen und Laufen. Nein – rennen! Die Blicke der grauen Person brannten auf meiner eiskalten Haut und die Angst hielt mich im Nacken gepackt. Würde ich es wirklich wagen aufzustehen, wenn wir den nächsten Halt erreichten? Wie lange fuhren wir schon ohne Halt? Eine Minute? Drei? Dreißig? Die Sekunden zogen sich wie zähflüssiger Honig, und ich hatte neben der Kontrolle über den eigenen Körper, auch jegliches Gefühl für Zeit verloren. Ich konnte auch nicht sagen, wann meine Musik ausgegangen war.

Chrrr ... Chrrr ... Chrr ...

Intervallartiges Rasseln drang über die Kopfhörer an meine Ohren. Waren es meine eigenen, angsterfüllten Atemzüge oder stammten die Laute aus der Gasmaske?

Als die U-Bahn auf eine Kurve traf, riss ein unbarmherziger Ruck mich aus meiner Paralyse. Ich sprang auf meine Füße und rannte los, unfähig auch nur einen Blick über die Schulter zu werfen. Ein tonloser Schrei steckte mir in der Kehle, wie eine verschluckte Gräte. Ich stürzte zur elektrischen Tür des Nachbarwagons. Quälend langsam bewegte sich der pneumatische Mechanismus. Doch ich dachte nicht daran zu warten bis sich die Schiebetür zur Gänze geöffnet hatte, sondern quetschte mich bereits durch den erstbesten Spalt in den dröhnenden Zwischenraum. Mit jedem Funken Selbstkontrolle, den ich in diesem Moment aufbrachte, suchten meine zitternden Finger im Zwielicht den Knopf an der zweiten Tür.

Ein Zischen verriet, dass sich der Durchgang hinter mir schloss, und da endlich öffnete sich auch die Schiebetür vor mir. Doch ich konnte nicht anders. Bevor ich in den nächsten Wagon stürze, gab ich dem unbändigen Drang in mir nach mich umzudrehen. Ich wandt den Kopf und mein Blick fiel durch das Glas in das Abteil hinter mir.

Ich starrte in gähnende Leere.

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