35

Ich schließe meine Augen.

Warum.

Verdammt.

Nochmal.

Gerate ich IMMER in diese verdammten Gewitter?!

Der Schock sitzt noch so tief, dass ich keine Panikattacke bekomme, aber ich weiß, dass sie nicht lange auf sich warten lässt. In wenigen Minuten werde ich wahrscheinlich weinend am Waldboden liefen und die Spielmacher anflehen mich überleben zu lassen.

Aber sie werden nur lachen. Die Zuschauer werden amüsiert untereinander tuscheln, wieso ich so übertreibe. Und Distrikt 5 wird schweigen.

Ich habe das Bild vor Augen, wie meine Klassenkameraden und meine Nachbarn, meine Lehrer und vielleicht ein paar Freunde von meinem Vater am Platz stehen und auf den Bildschirm starren. Ich bin unter den Top 5, sie hoffen wahrscheinlich, dass ich gewinne. Aber insgeheim wissen sie, dass ich nicht einen leisesten Hauch einer Chance habe.

Sie wissen, dass ich sterben werde.

Insgeheim, tief in mir drinnen, hoffe ich, dass mein Vater dort steht, dass er noch lebt, weil ich nur eine Mutation getötet habe. Aber ich weiß, dass er tot ist. Denn bei Mutationen ist das anders. Wenn sie sterben, lösen sie sich auf. Sie werden wieder zu Mutationen und nehmen ihre ursprüngliche Form an.

Doch mein Vater war in den letzten Momenten seines Lebens er selbst. Er war mein Vater. Und ich habe ihn getötet.

Ich schüttele ungläubig den Kopf, während ich in den schüttenden Regen starre.

Ich brauche einen Unterschlupf, das ist klar, denn sonst bin ich tot. Und zwar bald. Wie aufs Stichwort erklingt ein Donnergrollen und ich entdecke erste Blitze am dunklen Himmel.

Als würde ich das alles gerade erst realisieren, schreie ich auf und blicke voller Angst in den Regen. Ich seh schon lange nichts mehr, denn sobald ich meine Augen öffne, stürzt der Regen nur so in sie herein. Den richtigen Weg kann ich nicht mehr finden, bemerke ich schließlich und die pure Angst packt mich. Mal wieder. Als hätte ich sie nicht schon oft genug gespürt, mit meinen verdammten 16 Jahren. Lebe ich mein ganzes Leben eigentlich nur in Angst? Und werde ich auch in Angst sterben...?

Meine Beine beginnen zu laufen, rutschen aus, rappeln sich wieder auf. Ich habe keine Kontrolle mehr über  meinen Körper, einzig und allein die Panik steuert ihn. Es kommt mir vor, als wäre es ein Traum, ein verdammter Alptraum.

Meine Hände tasten sich blind an Büschen entlang, ich hole mir sämtliche Kratzer und Schnitte, während ich feststelle, dass ich jetzt noch kleinere Chancen habe, zu überleben. Denn wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich gerade zufällig in die Richtung des Füllhorns laufe? Richtig, sie ist fast gleich null.

Ich stolpere erneut und lande hart auf meiner gebrochenen Hand. Schmerz flammt in mir auf und ich habe das Gefühl gleich ohnmächtig zu werden.

Vor meinen Augen ist alles verschwommen.

Ich versuche mich aufzurichten, doch meine Hand lässt es nicht zu, sodass ich kraftlos liegen bleibe.

Auf dem Rücken liegend und schwer atmend will ich in den Himmel blicken, aber der Regen stürzt auf mich ein, als wäre ich eine verwelkte Rose, dessen Rosenblätter einzeln vom Regen weggespült werden. Ich fühle mich kaputt. Machtlos.

Ich höre viele Meter neben mir einen Baum fallen, während im Hintergrund der Regen prasselt. Stark und stetig.

Meine geschlossenen Augen schließen sich und ich versuche den Regen auszublenden. Ich versuche zur Ruhe zu kommen und mein Schicksal zu akzeptieren.

Bumm.

Ich zucke nicht zusammen und doch bin ich tief in mir geschockt. Ein Kanonenschuss. Ein toter Tribut.

Obwohl ich immernoch verzweifelt versuche, mich zu entspannen und mir keine Gedanken mehr zu machen, überlege ich, wer der Tote sein könnte.

Peeta? Er hatte eine Verletzung und vielleicht hat ihn die Medizin, die Katniss vom Festmahl bekommen hat, nicht mehr retten können.

Es könnten aber auch Cato oder Thresh sein. Cato ist wahrscheinlich auf der Suche nach ihm oder hat ihn bereits gefunden. Einer von ihnen ist vielleicht gerade im Kampf gestorben.

Heute wird es aber noch einen Toten geben...mich.

Ein Baum stürzt und ich zucke zusammen. Neben mir werden nasse Blätter aufgewirbelt, die mich im Gesicht treffen.

Ich habe das Gefühl, es ist unendlich.

Wann werde ich endlich erlöst?

Ich öffne meine Augen einen Spalt breit und versuche mich aufzurappeln, was mir misslingt. Die kalte Nässe durchdringt meinen Körper und meine Kleidung klebt an mir, wie eine zweite Haut.

Ich nehme den Regen kaum wahr. Müde schließe ich die Augen, kraftlos und kaputt entspannen sich meine Gesichtszüge. Eigentlich ist sterben gar nicht so schlimm. Man schließt die Augen, dämmert ein und wacht nicht mehr auf. Klingt verlockend...

Ich öffne meine Augen noch einmal, sodass ich noch einen Blick auf den Wald werfen kann. Ich spüre einen Ast auf meine Schulter fallen, achte jedoch nicht darauf. Minuten liege ich einfach nur da, starre in die Dunkelheit und warte.

Die Hymne erklingt und ich starre wie gebannt entgegen dem Regen in den Himmel.

Thresh.

Ich kann nicht beurteilen, ob ich es gut finde oder nicht. Ich kannte Thresh nicht wirklich. Doch zwei Sachen sind jetzt klar: Wir sind nur noch zu viert. Und Cato sucht  jetzt wo er Thresh getötet hat, nach den anderen.

Ich hoffe inständig, dass er Katniss weiter oben, auf seiner Prioritäteniste hat als mich, denn ich will nicht von Cato getötet werden. Ich will nicht seinen Zorn spüren, den er wegen seinem Verlust an anderen ausleben will.

Ich muss davor sterben, oder? Ich sterbe bevor Cato mich töten kann, denn ich möchte nicht von der Hand eines Tributes sterben. Ich möchte nicht, dass jemand die Schuld an meinem Tod einem der Tribute geben könnte, denn sie liegt einzig und allein beim Kapitol.

Dennoch richte ich mich auf, was ich irgendwie trotz der gebrochenen Hand schaffe. Auf zittrigen Beinen stehe ich da, beobachte stürzende Bäume, während ich mich an einer starken Buche anlehne. Der Wald ist verschwommen und grau, der Regen wäscht die grüne Heiterkeit weg, als wäre sie Schmutz, der entfernt werden soll.

Meine Augen schmerzen, sie brennen und pochen. Ich habe Mühe, sie offen zu halten, als ich plötzlich eine Silhouette wahrnehme. Sie steht nicht weit weg von mir im Regen, sie steht still wie eine Statue und beobachtet mich aus der Ferne.

Wer ist das!? Ist das eine Mutation?!

Trotz der Panik, die langsam aber sicher in mir hochkommt, versuche ich ruhig und gelassen stehen zu bleiben, denn falls das ein Tribut ist, wird er mich ohne zu zögern angreifen, wenn er weiß, dass ich ihn gesehen habe.

Ganz ruhig, Fuchs...

Ich atme nur flach und zwinkere mehrmals hintereinander, um sicherzugehen, dass die Silhouette nicht nur in meiner Vorstellung existiert und ich nicht schon völlig verrückt werde.

Ich bemerke geschockt, wie die Silhouette sich auf mich zu bewegt, sie wirkt bestimmt. Obwohl ich mich zwingen will, stehen zu bleiben, weiche ich instinktiv ein paar Schritte zurück und ziehe das Messer unauffällig mit meiner gesunden Hand aus dem Gürtel.

Doch die Person geht bestimmt weiter, wird schneller. Mein Herz rast inzwischen so schnell, dass es mir fast aus der Brust springt. Ich weiß nicht, ob ich wegen der Kälte oder wegen der Angst zittere. Wahrscheinlich wegen beidem. Die Person macht einen unerwarteten Sprung auf mich zu.

Überrascht und geschockt weiche ich erneut zurück, doch ich habe die Rechnung ohne das Schwert gemacht.

Eine Vorahnung beschleicht mich und ich verfalle der Panik. Unglaubliche Angst schießt durch mich durch, während mir die Person, die immernoch von Regen und Schatten versteckt wird, die Klinge des Schwertes an die Kehle drückt. Ein Schrei erklingt aus meinem Mund, meine Augen sind weit aufgerissen.

Ich werde zu Boden gedrückt, mein Puls rast und mein Kopf landet hart auf dem nassen Boden. Die kalte Klinge drückt mir die Luft ab und zertrennt die Hautschichten, die gerade erst von Cloves Messerstichen verheilt waren.

Warmes Blut sickert an meinem Hals entlang, es vermischt sich mit dem Regen. Ich kann nicht atmen und werde jedes Mal, wenn ich versuche panisch nach Luft zu schnappen unsanft in die Rippen geschlagen.

"Bitte", wimmere ich leise, spüre jedoch sofort einen harten Tritt in die Magengrube. Das Metall des Schwertes riecht nach Eisen und Blut, sodass sich mir fast der Magen umdreht.

Ich würge und werde damit bestraft, dass sich die Klinge noch tiefer in meinen Hals bohrt. Ich versuche mit meinen Beinen den Angreifer zu treten, treffe jedoch nur ins Leere. Panisch und schnell atme ich ein und aus, mein Brustkorb hebt und senkt sich unregelmäßig, ich kann förmlich spüren, wie die Person vor mir abfällig grinst. Ich keuche schmerzerfüllt auf, als ich ein Knie in der Magengrube spüre. Die Luft geht mir erneut aus und ich schnappe nach ihr, als würde ich gerade ertrinken.

"Bitte", keuche ich flehend. "Lass mich leben...bitte"

Ich spüre, wie der Angreifer innehält. Fast beginne ich schon, die Hoffnung zu haben, er hätte auf mich gehört, doch ich habe mich geirrt. Die Klinge bohrt sich tiefer in meinen Hals, ich schreie auf und will schlucken. Doch ich kann nicht. Ich kann weder atmen noch schlucken. Ich schmecke Blut.

War ich wirklich so naiv zu denken, er würde mich nach ein paar Bitten überleben lassen? Ich bin in den verdammten Hungerspielen! Hier gibt es keine Gnade. Hier gibt es nur Tod.

Ich schnappe nach Luft und versuche das ganze Blut im Hals zu schlucken, doch es geht einfach nicht.

"Ich flehe dich an!", setze ich erneut an.
"Bitte...Cato!"

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