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Ein knarrendes Geräusch erklingt und ich drehe mich noch ein letztes mal zu IHM um. Das Hovercraft beugt sich hinab, um seinen leblosen Körper mit seinen Fangarmen zu umschließen. Mit einem Dröhnen erhebt es sich Richtung Himmel.

Ausdruckslos blicke ich dem Hovercraft nach, es wird immer kleiner. Bis es schließlich nicht mehr zu sehen ist. Jetzt wird seine Leiche zurück in sein Distrikt transportiert, wo seine Familie und Freunde um ihn weinen werden. Werden sie das? Sie haben ihren Sohn dazu erzogen, dass es ehrenvoll ist, in die Arena zu gehen. Vielleicht sind sie nicht traurig, sondern enttäuscht. Vielleicht reden sie gerade verächtlich darüber, dass er zu schwach war, um zu gewinnen.

Ich balle vor Wut die Fäuste, meine Unterlippe zittert leicht.
"Er war ein wundervoller Mensch!", zische ich in Richtung einer versteckten Kamera, die sich durch ein schwaches Leuchten verraten hat.

"Und jeder, der denkt, dass er SCHWACH oder EHRENLOS ist, ist ein Lügner!"

Diese unfassbare Wut erfüllt mich und ich lasse sie widerstandslos durch mich hindurch fließen. Denn diese Wut lenkt mich von dem Schmerz ab. Sie lässt mich vergessen, dass ich eigentlich weinend zusammenbrechen will, dass ich einfach nicht mehr kann.
Sie lässt mich vergessen, dass ich nichts mehr habe. Nichts.

Ich habe alles verloren. Meine Mutter, meinen Vater, Marvel. Und ich habe mich selbst hier in der Arena verloren.

Und so werde ich sterben. Allein.

Ich verschnellere meine Schritte, bis ich schließlich renne. Mir ist egal, dass ich nicht lange durchhalten werde. Mir ist alles egal. Ich renne einfach nur. Irgendwohin.

Mein unregelmäßiger Herzschlag fühlt sich so fremd an, als würde er mir gar nicht gehören, als würde er in einer fremden Brust schlagen. Meinen keuchenden Atem nehme ich nur aus der Ferne wahr. Meine schnell laufenden Beine, die über den Waldboden donnern, kann ich nicht mehr fühlen, sie gehören nicht mehr mir. Es fühlt sich so an, als wäre meine Seele von meinem Körper gespalten worden, als schwebe sie neben meiner Hülle her.

Wehmütig starre ich meine Beine an. Wie sehr wünschte ich, dass ich wirklich nur noch eine Seele wäre und durch den Wald schweben könnte. Doch ich weiß, dass ich noch lebe und, dass ich immernoch in meinem Körper bin. Die Enttäuschung flammt in mir auf und breitet sich überall in mir aus.

Ich hasse es. Ich hasse alles und jeden. Ich hasse die Welt.

Tief in mir findet ein Feuerwerk der Gefühle statt, alles ist darunter.
Wut, Angst, Enttäuschung, Trauer, Sehnsucht, Hass. Alles.

Ich bleibe stehen. Auch wenn ich mich nicht fühlen kann, bemerke ich, dass ich völlig außer Atem bin und meine Beine vor Anstrengung zittern. Ich sauge die frische Luft auf und lehne mich erschöpft an eine dicke Buche, die ihre langen Äste hinabhängen lässt.

Ich lausche. Stille. Sie ist schmerzhaft, diese Stille. Sie macht Platz für Erinnerungen.

In meinem Kopf ertönt Katniss'Lied, das Lied, das sie der kleinen Rue gesungen hat. Es hat mir geholfen, es hat mich gehalten und ist durch mich hindurch geflossen. Doch jetzt, im Nachhinein, schmerzt es zu sehr.

Auf dieser Wiese unter der Weide

ein Bett aus Gras, ein Kissen wie Seide.

Dort schließe die Augen, den Kopf lege nieder,

Wenn du erwachst, scheint die Sonne wieder.

Hier ist es sicher, hier ist es warm,

hier beschützt dich der Löwenzahn.

Süße Träume hast du hier und morgen...

Ich habe den Schmerz in Katniss'Stimme gehört. Diesen Schmerz spüre ich auch. Er schnürt mir die Brust zu und raubt mir den Atem. Dieser Schmerz...

Tränen bilden sich in meinen Augen, doch sie fließen nicht, dafür sitzt der Schmerz zu tief in mir.

Ausdruckslos wische ich mir über die müden Augen, meine Augenlider sind schwer. Es dämmert langsam, ich spüre bereits die nächtliche Kälte an meinen Händen hochklettern, doch sie kümmert mich nicht. Wie in Trance starre ich in den dunklen Himmel und warte auf die Bestätigung, dass Marvel und Rue tot sind.

Die Hymne erklingt und ich entdecke strahlend das Gesicht von Marvel in der Dunkelheit. Er ist tot. Der Junge, den ich liebe, ist tot. Tot. Tot. Das Wort erklingt immer und immer wieder dumpf in meinem Kopf, ich kann es nicht ausblenden, es ist immer da. Tot.

Anschließend erscheint Ians Gesicht, welches mich an den Vorfall heute morgen erinnert. Daran, wie Cato dem Jungen aus Distrikt 3, das Genick gebrochen hat. An Ians flehenden Gesichtsausdruck, den er mir zugeworfen hat. Und doch habe ich ihm nicht geholfen.

Sein Bild verblasst und das von Rue leuchtet auf. Sie lächelt auf dem Bild, fröhlich und unschuldig. Sie war zu jung, um zu sterben, zu jung, um so eine Angst und so einen Schmerz zu ertragen. So wie wir alle. Wir ALLE sind zu jung... wir sind noch Kinder, wir hätten noch so viel vor uns. Eine Chance auf ein normales Leben, zwar hart, aber wertvoll. Und diese Chance wurde uns genommen. Uns allen.

Ich schließe kurz die Augen, in der Hoffnung, dass dies den Schmerz lindert, doch wie erwartet bleibt er. Heute ist zu viel geschehen, zu viele Verluste, zu viele Opfer, zu viel Schmerz.

Ich muss schlafen. Vielleicht lässt mich der Schmerz in der Nacht in Frieden, vielleicht werde ich wenigstens ein wenig Ruhe finden. Meine Augenlider schließen sich erschöpft und ich atme tief durch.

Auf einmal ertönt die Hymne erneut.
Verwirrt springe ich auf und blicke mich um.

Wieso erklingt sie wieder? Die Toten wurden doch bereits gezeigt!

Abwartend stehe ich im dämmernden Licht und starre in den Himmel. Die Hymne zieht sich ewig in die Länge, meine Hände zittern leicht.

Was wird nun geschehen?

Die widerlich gut gelaunte Stimme von Claudius Templesmith ertönt und in mir zieht sich alles zusammen.

"Achtung! Die Regel, dass es nur einen Sieger geben kann, ist außer Kraft gesetzt!"

Mein Herz bleibt stehen, für einen Moment vergesse ich das Atmen.

Was zum...?

Doch bevor ich meinen Gedanken zu Ende denken kann, fährt Claudius Templesmith fort.

"Ab sofort können zwei Sieger gekrönt werden. Vorausgesetzt, sie stammen aus dem selben Distrikt!"

Und in diesem Moment sinke ich in mich zusammen, ich lasse mich kraftlos auf den Boden sinken und schließe die Augen.

Meine Chancen, verspielt.
Meine Hoffnung, weg.

Jetzt werden entweder Distrikt 12 oder Distrikt 2 gewinnen, da sie die einzigen sind, die noch beide Tribute haben. Sie werden natürlich zu zweit gegen Thresh und mich gewinnen.

Es ist absurd, beinahe lustig. Denn immer, immer in dieser gottverdammten Arena scheint es, als würde das Schicksal gegen mich spielen. Als würde das Kapitol nur darauf warten, dass ich sterbe, aufgebe.

Verbittert lache ich auf und blicke in Richtung einer Kamera. Die Wut, die Verbitterung kocht in mir, denn die Ironie meines Lebens ist unvorstellbar.

Eigentlich sollte ich froh sein. Denn dank dieser Regeländerung wird wahrscheinlich ein Tribut mehr überleben als sonst, ein Verlust weniger...aber das würde meinen Tod bedeuten.

Und mein Sieg würde bedeuten, dass ein Tribut mehr stirbt, als nötig.

Der Himmel ist inzwischen schon fast komplett dunkel und ich entscheide mich, mich in einem dichten Busch zu schlafen. Ich trinke einen Schluck und schließe die Augen. Mein kraftloser Körper sinkt in sich zusammen, denn es ist zu viel für ihn. So viel kann er nicht tragen. So viel Schmerz und Angst. Ich bin hin und her gerissen. Möchte ich lieber gewinnen und somit indirekt an einem Tod schuld sein...oder möchte ich lieber mit reinem Gewissen sterben?

Ich möchte gewinnen...ich muss gewinnen...sonst war der Tod meines Vaters sinnlos, dann hätte ich ihn mich töten lassen sollen...

Aber ich kann nicht gewinnen. Selbst wenn ich will, selbst wenn ich weiterleben will, werde ich es nicht. Wir sind nur noch die Besten der Besten.
Thresh ist stark und würde alles für seinen Sieg tun. Cato und Colve...sadistisch und dazu geboren, um zu töten. Mir treibt es Tränen in die Augen, wenn ich daran zurückdenke, wie normal ich mit Clove geredet habe, als wären wir fast schon Freundinnen gewesen. Doch nachdem ich vor ihnen weggelaufen bin und sie daran hindern wollte, den Jungen aus Distrikt 10 zu töten, hat Clove begonnen mich zu hassen...
Katniss und Peeta sind ebenfalls stark, denn ich bin mir sicher, dass Katniss ihn direkt nach der Ansage, suchen gegangen ist. Und das schlimmste ist...sie hätte den Sieg verdient. Sie hat sich für ihre kleine Schwester geopfert, das unschuldige Gesicht von der kleinen Primrose Everdeen erscheint in meinem Gedächtnis und in mir zieht sich alles zusammen. Sie sitzt jetzt bestimmt vor dem Fernseher und fürchtet sich vor dem Tod ihrer großen Schwester, vielleicht ist sie das Einzige, was ihr geblieben ist...
Dieses zarte Mädchen hat es verdient ihre Schwester wiederzusehen, sie in ihre Arme zu schließen und mit ihr gemeinsam zu leben. Sie hat es verdammt nochmal verdient!

Aber ich habe es auch verdient. Nach alldem, was ich durchgemacht habe, habe ich es verdient, zu gewinnen, glücklich zu sein...zu leben.

Und trotz dieser Hoffnung, trotz dieser klitzekleinen Hoffnung, die ich noch habe, bin ich bereits tot. Ich weiß, dass ich niemals wieder leben kann, wieder glücklich sein kann.

"Auf dieser Wiese...unter der Weide...", flüstere ich leise in die nächtliche Stille.

"Ein Bett aus Gras... ein Kissen wie Seide..."

Langsam schließe ich die Augen, verschließe den Schmerz tief in mir und singe mich selber in einen tiefen Schlaf, der mich fortträgt, über die Baumwipfel hinweg, Richtung Himmel, in die Freiheit. Auch wenn ich diesen Frieden nur für kurze Zeit, für ein paar Stunden habe, lasse ich diese seelische Ruhe in mich, gewähre ihr Einlass, mich zu beruhigen. Die Sehnsucht in mir ist unerträglich, die Angst ist noch da und doch steige ich weiter empor, in den Himmel. Der Himmel, der mir das Leben schenkte. Der Himmel, der meine Existenz für wichtig empfindet, obwohl sie doch so unwichtig ist. Eine Erinnerung kommt in mir auf, wie meine Mutter mich in den Armen trägt, wie sie mich an sich drückt, wie sie mir sanft über die Haare streicht und flüstert:

"Du bist wahrlich ein Geschenk des Himmels, Sky"

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