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Ich habe Angst. Das kann ich echt nicht leugnen.
Ich atme einmal tief ein, aber ich weiß dass das nichts bringt. Es könnte jeden treffen. Jeden. Es ist so unwahrscheinlich, dass es mich trifft. Also muss ich mich beruhigen!
Das versuche ich mir nun schon seit heute morgen einzureden. Aber auch das bringt nichts.
Ich sitze am Frühstückstisch, rühre aber nichts an. Ich könnte wahnsinnig werden, so groß ist meine Angst. Ich weiß nicht, wovor ich Angst habe. Vor dem Tod? Oder vor dem Schmerz? Oder vor der Angst selber?
Ich seufze. So komme ich nicht weiter. "Sky, iss etwas", versucht mich mein Vater zu überreden. Ich schlucke, als ich ihm in die Augen sehe. Mein Vater.
Ja, ich glaube, am meisten habe ich Angst davor, ihn alleine zu lassen. Er hat nur noch mich. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass er sein restliches Leben um mich trauern wird, wenn ich... Nein! Ich darf gar nicht darüber nachdenken was passiert wenn ich ausgelost werde...
Ich springe auf und werfe mich meinem Vater in die Arme. Sein knochiger Körper zittert, diese Umarmung fühlt sich so unglaublich zerbrechlich an, als wären wir beide aus Porzellan.
Ich brauche ihn. Er braucht mich. Ich kann ihn nicht verlassen. Ich merke die Anspannung meines Vaters. Nach einer ewig langen Umarmung entschließe ich mich, mich für die Ernte bereit zu machen.
Schon immer habe ich darüber nachgedacht, zu welchem Zweck die Hungerspiele dienen.
Denn klar, unser Präsident Snow erklärt immer wieder, dass diese Hungerspiele den Frieden zwischen den zwölf Distrikten Panems und der Hauptstadt, dem Kapitol, aufrechterhalten sollen, die sich vor langer Zeit bekriegt haben.
Aber in welcher Hinsicht schafft dieses Spiel Frieden?
Gedankenverloren öffne ich meine Tür zum Zimmer, das wie alle Zimmer in Distrikt 5 mit einem dunklen, fast schwarzen Dielenboden ausgelegt ist.
Während man sich in anderen Distrikten um essentielle Dinge wie Landwirtschaft, Technik oder Viehzucht kümmert, müssen wir in Distrikt 5 für Strom in ganz Panem sorgen.
Ich versuche immer wieder aufs Neue Verständnis für Snow aufzubringen und nach einem triftigen Grund zu suchen, der diese grausamen Hungerspiele rechtfertigt. Aber was rechtfertigt schon ein Gemetzel unter Kindern? Ein Gemetzel, bei dem aus jedem Distrikt ein Junge und ein Mädchen zwischen zwölf und achtzehn Jahren ausgelost werden, um gegeneinander zu kämpfen, bis nur einer von diesen Tributen als Sieger in sein Distrikt zurückkehren darf.
Ich trete durch den Türspalt und lasse den Blick über meine kläglich wenigen Besitztümer schweifen. Sie bestehen nur aus einem Bett und einer winzigen Kommode, in der nur die oberste Schublade gefüllt ist. In dem Kraftwerk, in dem ich mit 14 angefangen habe zu arbeiten, ist die Bezahlung schlecht, so wie in fast ganz Panem. Einzig und allein das Kapitol lebt in einem verschwenderischen Lebensstil und sieht die Hungerspiele als Unterhaltung erster Klasse an. Ja, es ist seltsam auszusprechen, doch diese reichen Bewohner sehen die Spiele im Fernsehen, suchen sich ihre Lieblingstribute und schließen Wetten ab.
In den meisten Distrikten ist es ein Schock, wenn man ausgelost wird, außer in den Distrikten 1, 2 und 4. Dort ist es eine Ehre für die Jugendlichen in die Hungerspiele zu gehen, weshalb sie sich oft freiwillig melden.
Ich verbanne die Gedanken über Hungerspiele aus meinem Kopf, denn sie bereiten mir noch mehr Angst als ich ohnehin schon habe. Auf meinem knarzenden Bett, welches schon gefühlte tausend Jahre alt ist, liegt ein grünes Kleid, dass mir bis zu den Knien geht. Es hat meiner Mutter gehört.
Meine Mutter. Jeder Gedanke an sie erfüllt mich mit einem seltsamen, dumpfen Gefühl. Denn ich habe sie immer geliebt, ja, das habe ich. Aber dann hat sie meinen Vater und mich im Stich gelassen, als sie aus Distrikt 5 geflohen ist.
Sie wollte einfach fliehen.
Ihr war egal, was aus ihrem Mann und ihrer Tochter wird. Ihr war egal, in wie viel Trauer wir leben würden.
Nur wenige Wochen nach ihrer Flucht wurde sie gefangen. Ich weiß noch wie sie vor dem Rathaus stand und hingerichtet wurde. Ich weiß noch wie gefühlskalt ich da gestanden bin, als ich in die entschlossenen Augen meiner Mutter gesehen habe. Sie haben auf mir gelegen und so eine Ruhe ausgestrahlt.
Und dann, als die Kugel ihren Iopf getroffen hat, bin ich einfach nur dagestanden. Wie betäubt. Ich habe nichts, außer einer gähnenden Leere in meinem Bauch gespürt und meine Gedanken sind alle auf einen Schlag verstummt. Und auf irgendeine Art und Weise hat diese Leere mein Herz bis heute nicht verlassen. Noch immer nistet sie tief in mir.
Jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde kreisen Gedanken in meinem Kopf, doch ich kann sie nicht richtig fassen, zu schnell fliegen sie wieder fort. Aber was ich weiß, ist, dass sie immer von meiner Mutter handeln. Denn ich will ihr Handeln verstehen, ich will verstehen, wieso sie uns verlassen wollte. Hat sie uns nicht mehr geliebt? Oder hat sie diesen Ort so sehr gehasst, dass sie in Kauf genommen hat, bei einem Fluchtversuch zu sterben?
Ich schüttele den Kopf, da ich schon wieder zu viel nachdenke und schlüpfe in das Kleid. Obwohl ich schlank bin, ist es mir bald zu eng, was ich bemerke, als ich mich keuchend in den leicht kratzigen Leinenstoff zwänge. Meine Mutter hat es zu ihrer letzten Ernte getragen.
Ich betrachte mich im verstaubten Spiegel. Ich habe fuchsrote Haare, die mir bis über die Schulter reichen. Meine blauen Augen sind wachsam und stets auf der Hut. Mein Vater meint, dass ich immer so aussehe, als würde ich über etwas nachdenken. Es sind die Augen meiner Mutter. Das wird mir jedes Mal wieder aufs Neue bewusst, wenn mein Vater mir wehmütig in die Augen blickt, in denen er stets meine Mutter erkennt.
Ich wende mich von meinem Spiegelbild ab und laufe zurück in die Küche, um zu der Ernte aufzubrechen, dem Fest, bei dem die Tribute der Hungerspiele ausgelost werden.
Der Himmel ist grau, doch ein kleiner Sonnenschein leuchtet durch das Fenster, als wolle er sagen:
"Alles wird gut."
Ich schnaube.
Ja, klar! Alles wird gut.
Es werden ja schließlich nur zwei unschuldige Jugendliche in den sicheren Tod geschickt! Ich meine, wenn's sonst nichts ist!
Ich könnte nicht töten. Vor allem keine anderen Kinder, die unfreiwillig in den Hungerspielen sind.
Aber es kann nur einen Gewinner geben. Es ist viel wahrscheinlicher unter den 23 Toten zu sein als der einzige Sieger.
Ich schrecke auf, als mir jemand die Hand auf die Schulter legt. Es ist mein Vater. "Sky, die Ernte beginnt gleich...", erinnert er mich vorsichtig.
Ich schaudere einen Moment, straffe dann aber die Schultern und stehe auf. Ich schaffe das. Ich werde nicht gezogen. Das weiß ich einfach. Es muss so sein. Mein Name ist schließlich nur einer unter so vielen.
Ich schlüpfe in meine alten Ballerinas und verlasse das kleine Haus. Wir wohnen etwas außerhalb der Stadt, weshalb ich nicht so vielen Menschen über den Weg laufe.
Meine Augen ruhen auf den stillen Bäumen, die schweigend in den Himmel emporragen. Die weiten Felder links von mir könnten schön aussehen, wenn auf ihnen nicht die hässlichen, grauen Kraftwerke aus Beton thronen würden. Die stinkenden Rauchwolken aus den Schornsteinen lassen meinen Magen rumoren, weshalb ich rasch den Blick abwende und auf die rechte Seite der Straße sehe.
Der Blick auf den friedlichen Wald, der im Grunde nur zehn Meter von mir entfernt ist, zaubert mir ein Lächeln auf die Lippen und lässt meine unruhigen Gedanken verstummen. Dort ist der Wald, in dem Bäche sprudeln, Vögel singen und die Natur tanzt. Dort ist die Freiheit. Ich erinnere mich noch daran, wie meine Mutter dort mit mir Kräuter gesammelt hat und wie mein Vater mir in einem nicht allzu tiefen Teich Schwimmen beigebracht hat.
Dort habe ich auch zum ersten Mal einen Fuchs entdeckt.
"Schau mal, Sky!", hat mein Vater mir damals zugeflüstert. "Der Fuchs hat so ein sattes orange-farbenes Fell wie deine Haare."
"Kann der Fuchs sprechen?", habe ich meinen Vater dann mit großen Augen gefragt und an meine Kindergeschichte gedacht, in der alle Tiere sprechen konnten.
"Wenn du fest daran glaubst", hat meine Mutter erwidert, als sie von hinten an uns heran getreten ist.
Und seit dem höre ich den Fuchs. Er spricht in mir, erteilt Ratschläge, flüstert mir beruhigend zu. Diese Fuchsstimme ist ein Teil von mir geworden.
"Komm, mein kleiner Fuchs, wir gehen jetzt nach Hause", hat meine Mutter lachend gesagt und mir über den Kopf gestreichelt.
Mit trüben Augen wende ich mich vom Wald ab, um die aufkommenden Erinnerungen zu verdrängen. Je näher ich dem Stadtzentrum komme, desto mehr Menschen begegnen mir und desto größer wird meine Nervosität.
Die kaputten Straßen sind voll, denn jeder hier macht sich auf den Weg zur Ernte. Und in allen Gesichtern ist Angst zu sehen.
Es ist komisch mit anzusehen wie verschieden Leute mit Angst umgehen. Ich sehe rot verweinte Gesichter, Augen, die versuchen starr auf den Boden zu schauen, als würden sie Masken tragen, um ihre Angst zu verstecken und dann gibt es noch wenige, die versuchen sich mit Gesprächen abzulenken.
Ich habe nie Freunde gehabt. Nicht weil ich unbeliebt bin oder mich nicht mit anderen Leuten abgeben will. Nein, ich möchte bloß keine Angst um jemanden haben. Es reicht mir schon, wenn ich Angst habe, dass mein Name auf dem laut vorgelesenen Zettel steht. Ich könnte es einfach nicht ertragen noch zusätzlich Angst zu haben, dass einer meiner besten Freunde ausgelost wird.
Oder was wäre, wenn ich sogar gegen einen Freund in den Spielen antreten müsste... ?
Deshalb bin ich verschlossen, vertraue mich niemandem an. Die meisten 15-Jährigen Mädchen reden über Jungs, Liebe und den ganzen Kram, während ich still auf dem Schulhof sitze und vor mich hin summe.
Der Platz vor dem Rathaus ist schon voll und ich quetsche mich an einem sich küssenden Paar hindurch, um mich zur Blutentnahme anzustellen. Schweigend lasse ich mir die kleine, spitze Nadel in den Finger stechen, mit der sie sicherstellen wollen, dass alle 12-18 Jährigen auch wirklich bei der Ernte anwesend sind. Ich versuche den Friedenswächter böse anzustarren, doch er würdigt mich keines Blickes.
Widerlich. Das ist das einzige Wort, das die Menschen aus dem Kapitol oder die Menschen, die an den Hungerspielen Spaß haben, beschreibt. Ich würde sie gerne allesamt in die Arena schmeißen. Dort können sie sich dann gegenseitig umbringen.
Ich erschrecke beinahe selber über diese aufbrausenden Gedanken.
"Hallo, Distrikt 5!", erschallt die nervigste Stimme auf Erden. Eileen Serklice. Unsere Betreuerin, die direkt aus dem Kapitol kommt.
Eine verwöhnte Frau, dessen Anblick so lächerlich ist, dass man weinen und lachen möchte.
Ja, das denke ich über sie. Ihre angeklebten Wimpern sind fast zehn Zentimeter lang. Ihre Haare sind knall pink gefärbt und zu einem riesigen Haarturm hochgesteckt. Dazu trägt sie ein langes dunkelblaues Kleid, welches voller Glitzer ist. Alles in einem ist sie einfach schrecklich. Und noch dazu diese widerlich positive Art. Als würde sie gleich zwei ausgelosten Kindern kostenlos Süßigkeiten verteilen.
Nein, Eileen, du schickst gleich zwei Kinder in den Tod, also hör auf so dämlich zu grinsen und halt einfach die Klappe, denke ich mir.
Doch von meiner Wut lasse ich mir nichts anmerken. Ich war eigentlich schon immer gut darin, meine Gefühle zu verstecken. Diese Gefühlsmaske trage ich seit meine Mutter hingerichtet wurde. Seitdem möchte ich meine Gefühle nicht mehr mit anderen teilen. Niemand soll sehen, dass ich Angst habe. Dass ich wütend bin. Oder dass ich leide.
Diese Taubheit meiner Gedanken gehört nun zu mir.
Ich reihe mich bei den 15-Jährigen ein und sehe mich um. Keine bekannten Gesichter. Ich versuche mir aber eigentlich auch niemanden zu merken. Ich möchte die Person nicht kennen, die ausgelost wird. Ich möchte nicht, dass ich auch nur eine kleine, positive Erinnerung mit der Person verbinde.
"Ich freue mich heute hier zu sein", ruft Eileen und lächelt das ängstliche Volk breit an. "Ich habe heute die Ehre zwei mutige Jugendliche auslosen zu dürfen, die bis in den Tod kämpfen werden. Die sogar ihr Leben geben würden, damit unsere Distrikte weiter in Frieden mit dem Kapitol leben werden."
Ich lächele leicht. Kein nettes Lächeln. Kein belustigtes Lächeln. Es ist ein verächtliches und wütendes Lächeln.
In Frieden mit dem Kapitol leben? Wie kann man mit Gewalt Frieden schaffen? Das ist doch ein Paradoxon.
"Ladies First"
Bei diesen Worten zucken die meisten Mädchen zusammen. Jetzt. Jetzt werde ich erfahren, ob ich gezogen werde. Es kommt mir vor wie ein Traum. Ja, wahrscheinlich ist es nur ein Traum. Ein schlimmer Alptraum. Ich kann nicht gezogen werden. Das darf einfach nicht sein.
Aber irgendjemanden muss es treffen. Irgendjemand muss ausgelost werden. Und dieser jemand kann auch ich sein.
Ich schließe die Augen. Ich sehe innerlich wie Eileen wie in Zeitlupe auf die Schale zu geht.
Ich höre das leise Rascheln als sie den Zettel auseinander faltet.
Ich kann mir vorstellen wie sie gerade breit lächelt.
Für sie ist es nur ein Name.
Zwei Wörter auf Papier, unter denen sie sich niemanden vorstellen kann. Meine Augen sind immer noch geschlossen.
Ich weiß, dass ich so nur ängstlicher aussehe, aber gerade ist es mir egal. Gerade ist mir alles egal.
Mein Herz droht, mir aus der Brust zu springen, während mich ein unglaubliches Schwindelgefühl packt.
"Unser weiblicher Tribut aus Distrikt 5 ist ..."
Mein Herz droht zu explodieren. Es schlägt unregelmäßig und wild. Ich könnte verrückt werden. Aufregung ist schlimm. Angst ist auch schlimm. Aber das hier ist eine Mischung aus Aufregung und Angst. Und es ist grauenvoll.
Ich schwitze und balle meine Hände zu Fäusten.
Ich schaffe das. Ich bin stark. Und vor allem bin ich schlau. Selbst wenn ich gezogen werde...
Nein. Ich darf das nicht denken. Ich werde nicht gezogen.
Stille.
Die Luft ist dünn, jeder scheint den Atem angehalten zu haben. Jedem Mädchen in meiner Reihe scheint schwindelig zu sein. Wir alle haben Angst. So schreckliche Angst.
Eine Sekunde bevor Eileen den Namen sagt, schlage ich die Augen auf.
Beunruhigend gefasst stelle ich fest dass ich weiß, welcher Name auf dem Zettel steht. Ja, ich weiß es. Es ist dieses wissende Gefühl in meiner Magengegend, das mich noch nie getäuscht hat. Ich weiß, welcher Name es ist. Wer heute in den Tod geschickt wird.
Und dennoch bin ich ruhig.
Ich schreie nicht.
Ich weine nicht.
Mit weit aufgerissenen Augen starre ich auf die Tribüne, zerrissen zwischen der naiven Hoffnung und der schmerzhaften Realisierung.
"Sky Wiler."
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Hallo :-)
Ich bin Melody und ich bin ein großer Fan von der Trilogie "Die Tribute von Panem" Außerdem finde ich Fuchsgesicht einen sehr spannenden Charakter und möchte jetzt aus ihrer Sicht schreiben. Ach ja und schaut unbedingt bei Quizlee vorbei. Sie hat auch eine Fuchsgesicht Geschichte geschrieben und ihr Schreibstil ist meeega B-)
Auf jeden Fall, schreibt mir unbedingt Feedback, damit ich weiß wie ich meinen Schreibstil verbessern kann. Ich freue mich über Votes und nette Kommentare
Lg
Melody
;-)
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