Kᴀᴘɪᴛᴇʟ 5

Die Zeit ist stehen geblieben. Zweifellos.

Ich sitze immernoch auf Jonathans Schoß und starre Nora an, die am Küchentisch verharrt ist. Meine Luftröhre lässt mich kaum atmen und mein Herzschlag setzt mal aus, mal rast er urplötzlich in die Höhe.

Gedanken schwirren in meinem Kopf umher, doch ich kann trotz dieser Verwirrung einen klaren Gedanken fassen.

Ich habe Jonathan geküsst.

Ich habe Noras Verlobten geküsst.

Plötzlich keimt sie in mir auf, zuerst nur leise und kaum merklich, doch schließlich in voller Pracht. Die Wut. Auf Jonathan. Und auf mich.
Meine Unterlippe zittert und Kälte durchströmt mich, während ich mich wie in Trance an Jonathan wende. Die Wut benebelt meine Sinne, wie es der Alkohol nur wenige Minuten zuvor getan hat. Doch diesmal ist es mein eigener Wille.

„Du...", fauche ich voller Zorn und überlasse den restlichen Satz Jonathans Fantasie. Denn keine Worte der Welt könnten meine Wut beschreiben. Kein Schimpfwort der Welt könnte Jonathan und mich benennen.

Ich reiße meine Handgelenke aus Jonathans Griff, den er bereits gelockert hat. Grob drücke ich ihn von mir weg und erhebe mich auf wackeligen Beinen. Sie zittern so stark, dass ich mich an der Sofalehne fest klammere. Tränen steigen mir in die Augen, doch ich schlucke sie herunter. Ich darf nicht weinen.

Ich blicke überall hin, beobachte die Regentropfen an der Fensterscheibe, mustere den Küchentisch, alles ... Nur nicht Noras Augen.

Jonathans Blick ruht auf mir, ich spüre ihn auf meinem Rücken, was meine Wut reizt. Ich würde mich am liebsten umdrehen und ihm die Faust ins Gesicht rammen. Doch irgendetwas hält mich davon ab. Wahrscheinlich tue ich es nicht, weil Nora im Raum ist. Er ist schließlich ihr Verlobter. Wenn auch ein widerlicher, unloyaler Verlobter.

„Jonathan", krächtzt Nora schließlich, woraufhin ich zusammenzucke. In diesem einen Wort liegen so viele Gefühle, Trauer, Wut und das Bedürfnis nach einer Erklärung. Einer Erklärung, die unseren Kuss rechtfertigt und diese Handlung ungeschehen macht.

Doch es gibt keine Rechtfertigung dafür.

Hinter mir erhebt sich Jonathan. Sofort balle ich meine Fäuste und meine Fingernägel bohren sich in meine eigene Haut.

Er tritt langsam auf Nora zu und zum ersten Mal wage ich einen Blick auf sie. Ihre Augen strahlen immer noch Schock und Unverständnis aus. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals und ich spüre meine Machtlosigkeit. Ich habe einen Fehler gemacht, ich habe meine eigene Schwester verletzt. Wie kann ich so ein Monster sein?

Nicht nur meine Seele ist ein Monster. Ich bin es auch. Diese erschreckende Erkenntnis trifft mich mit einem Schlag, der mich beinahe umfegt. Ich krümme mich und umklammere die Sofalehne umso fester.

„Wie konntest du, Jonathan?", flüstert Nora und schüttelt ungläubig den Kopf. „Wie konntest du mir das antun?" Ihre Stimme ist zittrig und zerbrechlich, als würde sie jeden Moment umkippen.

Ihre Seele ist geschwächt. Ein perfekter Zeitpunkt sie zu lesen und zu belehren...

Nein! Ich würde ihr niemals so etwas antun!

Hast du das nicht schon getan? Indem du ihren Verlobten geküsst hast...?

Ich...

„Wieso hast du sie geküsst? Wieso?", fragt Nora nun schrill und langsam scheint die Erkenntnis in sie durchzudringen. Ihre Lippen sind voller Wut aufeinander gepresst und ihre Hände, ähnlich wie meine, zu Fäusten geballt.

„Ich habe sie geküsst, weil ich das wollte", erwidert Jonathan kalt und jagt mir einen Schauer über den Rücken, woraufhin ich ihn entgeistert anblicke. Wie kann er so mitleidslos sein?

„Weil wir das wollten", fügt er hinzu und deutet auf mich. Jegliche Farbe entweicht meinem Gesicht und meine zittrigen Hände beginnen zu schwitzen. Noras Blick landet auf mir und die unglaubliche Wut in ihm lässt mich zusammen zucken.

„Ich... nein... ich"

„Du warst betrunken. Schon klar", fällt mir Jonathan voller Hohn ins Wort und lehnt sich zu mir. „Aber du wolltest das. Leugne es nicht. Du hasst mich geküsst. Über meine Muskeln gestrichen. Gelacht. Du hast dir die Bluse aufgeknöpft. Du wolltest das. Du..."

„Es reicht!", brüllt Nora hasserfüllt und Jonathan fährt, wie ich, herum. „Es reicht, verdammt!", fügt sie zischend hinzu und tritt näher an uns heran. Ich stehe wie angewurzelt da, kann mich nicht rühren. Immer wieder spielt sich in meinem Kopf die Szene ab. Wie Jonathan mich küsst und Nora den Raum betritt.

Ich hasse mich. Und ich hasse Jonathan.

Nun richten sich Noras Augen auf mich, ich nehme verschwommen wahr, wie sie auf mich zu tritt und wenige Zentimeter vor mir stehen bleibt. Ich kann ihre Wut förmlich spüren. Schwach schüttele ich den Kopf, nicht in der Lage Worte zu bilden. Noras Augen glitzern, doch Tränen sind nicht zu sehen. Noch nicht.

„Eileen", flüstert Nora, Enttäuschung und Unglauben erfüllen ihre Augen. „Ich hätte niemals gedacht, dass du so etwas tun könntest." Sie befeuchtet ihre Lippen und schüttelt kaum merklich den Kopf. In meinen Augen sucht sie nach einer Erklärung, nach Verständnis, doch meine Augen sind starr. Sie können meine Gefühle nicht widerspiegeln. Sie können nicht das zeigen, was gerade in meinem Kopf vorgeht.

„Ich meine..." Nora sucht nach Worten. „Du bist meine Schwester, Eileen! Meine verdammte Schwester! Wieso...wieso küsst du Jonathan?"

Ich will weinen. Ich will Nora um Verzeihung bitten, ihr alles erklären, eine Rechtfertigung finden, mich verteidigen. Ihr erklären, wie sehr ich mich schäme und mich selbst verabscheue.

Doch meine trockene Kehle bringt nichts hervor, die Worte kommen nicht über meine Lippen. Ich bin wie versteinert und kann meine Gefühle wegen meiner ausdruckslosen Maske nicht mehr zeigen.

Noras Gesichtszüge verhärten sich und die kurze Welle des Unglaubens wird wieder durch pure Wut ersetzt.

„Raus."

Ich schließe kurz die Augen, auf die erlösenden Tränen wartend, doch sie bleiben trocken und kalt. Auch, wenn ich meinen Schmerz und Hass nicht zeigen kann, beginnt er mich innerlich zu zerfressen.

„Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt, Eileen?", faucht Nora und ich zucke leicht zusammen. Sie wendet sich erneut an Jonathan, ihr schmerzvoller Blick durchbohrt sein ausdrucksloses Gesicht. Es ist schrecklich für sie. Sie steht gerade vor den zwei Menschen, denen sie am meisten vertraut hat. Die sie hintergangen haben und nun ausdruckslos vor ihr stehen. Sie steht vor zwei Monstern.

„Ich dachte du liebst mich", flüstert sie und ein verdächtiges Glitzern in ihren Augen kündigt die Tränen an. Sie fährt sich durch ihre braunen Haare. Erste Tränen beginnen aus ihren Augen zu fließen.

Es ist unerträglich.

„Los. Hol deine Sachen, Eileen. Und hau ab", wiederholt Nora mit belegter Stimme, bevor ihr Schluchzen die Stille zerreißt. „Jonathan fährt dich nach Hause. Macht im Auto was ihr wollt. Es ist mir egal", fährt sie kraftlos fort und funkelt Jonathan an. „Ich bin mit euch beiden fertig. Ihr bedeutet mir nichts. Nichts."

Stumm fließen ihre Tränen und landen tropfend auf dem Holzboden.

Ich will bleiben. Ich will Nora umarmen und ihr beistehen.

Doch meine Füße gehorchen mir nicht. Wie in Trance laufen sie los, stur durch den Flur, die Treppe hoch.

Mir ist kalt.

Angekommen in meinem Zimmer stopfe ich kraftlos meine Sachen in den Rucksack und werfe ihn mir über die Schulter. Wie versteinert schlurfe ich über den Parkettboden, blicke mein Zimmer an. So viele Erinnerungen befinden sich hier, verborgen hinter jeder noch so unwichtigen Sache.

Wann werde ich wiederkommen?

Werde ich es je wieder wagen, dieses Haus aufzusuchen?

Ungläubig drehe ich mich weg und verlasse den Raum, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Das könnte ich nicht ertragen. Stumpf sehe ich Jonathan an, ehe ich die Haustür aufreiße. Ich habe keine Kraft mehr, ihn böse anzublicken, denn ich bin ein einziges Wrack.

Ich drehe mich zu Nora, um ihr noch ein paar Worte zu sagen, doch ich bringe nichts hervor. Ihre Augen schimmern mir kalt entgegen. Eine stumme Aufforderung, das Haus zu verlassen.

Meine Füße verlassen das Haus, ehe ich ihnen den Befehl dazu gebe. Fröstelnd trete ich über den Weg, umschlungen von meinem Wintermantel. Der kalte Wind dringt mir bis in die Knochen und dichte Wolken bedecken den dämmrigen Himmel. Bald wird es dunkel. Letzte Regentropfen landen auf dem durchnässten Boden, bis er schließlich komplett stoppt.

„Los. Geh ins Auto", drängt mich Jonathan von hinten und Noras Haustüre wird zu geschlagen. Ich fahre herum und entdecke Jonathan, der bereits vor seinem Auto steht.

Alles in mir sträubt sich dagegen, hinter ihm einzusteigen, doch ich weiß, dass ich sonst nicht nach Hause komme. Augen zu und durch.

Wortlos reiße ich die Autotür auf und hieve mich in den Sitz. Aber nicht, bevor ich Jonathan einen giftigen Blick zugeworfen habe. Starr schaue ich aus dem Fenster, während Jonathan den Motor startet und wir langsam über den Weg rollen. Meine Augen bleiben bei dem Rapsfeld hängen und sehen den gelben Blüten wehmütig hinterher. Noch heute morgen bin ich hier gewesen. Und dann hat alles begonnen schief zu laufen. Erst der bedrohliche Mann mit dem Messer und dann... das hier.

Resigniert lasse ich die Schultern hängen und entferne mich, so weit es in dem engen Auto geht, von Jonathan. Die ganze Autofahrt über spüre ich seine Blicke, doch ich wage es nicht, sie zu erwidern.

Als ob das jetzt noch etwas ändern würde...

Die Dämmerung wird schon bald von Dunkelheit ersetzt. Und anders als sonst, fürchte ich mich vor ihr. Anders als sonst, habe ich Angst vor dem,was in ihr lauert.

„Da wären wir", meint Jonathan trocken und hält an einer Straße, die nun fast in komplette Dunkelheit getaucht wird. Ich rühre mich nicht vom Fleck.

Worauf warte ich? Auf eine Entschuldigung von Jonathan?

Verächtlich lache ich auf, denn dieser Gedanke ist absurd. Jonathan würde sich niemals dafür entschuldigen. Er würde niemals zugeben, dass er meinen zu hohen Alkoholkonsum schamlos ausgenutzt hat, dass er Nora ausgenutzt hat, um an mich heranzukommen.

Ich reiße die Autotür auf, um endlich alleine zu sein, doch Jonathans fester Griff behält mich im Warmen.

„Eileen"

„Was?", fauche ich und versuche mich aus seinem Griff zu winden.

Er dreht meinen Kopf in seine Richtung und zwingt mich ihm in die Augen zu blicken. Ich kann seine haselnuss-braunen Augen nicht deuten und von seiner Seele halte ich mich, trotz des Druckes, fern.

„Ich bereue nichts", sagt Jonathan mit fester Stimme.

Kalter Hass keimt in mir auf, doch ich zeige es nicht. Meine Gefühle sind gut versteckt, hinter einem Wall aus Dornen.

Ich knirsche mit den Zähnen und erwidere seinen Blick. Ich will ihn anschreien, ihm meine Wut zeigen. Doch ich bleibe ruhig.

„Aber ich bereue es, Jonathan", flüstere ich kalt und reiße mich los. „Mehr als alles andere."

Ohne auf seine Reaktion zu warten, hüpfe ich aus dem Auto und renne über den Asphalt. Der Wind schlägt mir entgegen, während ich blitzschnell auf meine Haustür zu laufe. Die menschenleere Straße ist still. Eigentlich sollte ich froh darüber sein, denn so kann ich keine Menschenseele verletzen. Doch diese unruhige Stille macht mir Angst. Unglaubliche Angst. Vielleicht ist es nicht nur diese tödliche Ruhe, sondern auch das Gefühl in mir. Es keimt in mir auf, unauffällig und gefährlich langsam. Das Gefühl, dass sich danach sehnt zu zerstören.

Als würde es um Leben oder Tod gehen, sprinte ich zu der Holztür und krame hastig nach meinem Schlüssel. Meine Zähne klappern wild aufeinander, Angst und Kälte erfüllen mich.

Endlich stürme ich in das Treppenhaus und eile zu meiner Wohnungstür.

Nur wenige Sekunden später schlage ich sie hinter mir zu und lehne mich schwer atmend an ihr an. Mein Herzschlag dröhnt bis in meinen Kopf, während mein trockener und ausgekühlter Hals nach einem Tee ruft. Achtlos schmeiße ich meinen Mantel auf den Boden und ersetze meine Stiefel mit warmen Hauspantoffeln.

Zitternd laufe ich in die Küche und setze ein Wasser auf, um es daraufhin in meine dunkelrote Tasse hineinzugießen. Meine linke Hand umklammert die warme Tasse, während ich einen Salbei Teebeutel in ihr versenke.

In meinem Bett angekommen schließe ich die Augen und nippe an der beruhigenden Flüssigkeit, die meinen Geist zur Ruhe kommen lässt.

Ich spüre die Müdigkeit in mir hochkommen und stelle den Salbeitee vorsichtig auf meinem Nachttisch ab. Gähnend stehe ich auf und trete zum Fenster um die Vorhänge zu zu ziehen.

Mein Blick schweift aus dem Fenster, über die menschenleere Straße. Die Dunkelheit erfüllt alles, obwohl es noch nicht sehr spät ist.

Plötzlich halte ich in meiner Bewegung inne.

Ich verenge meine Augen zu schmalen Schlitzen und scanne die Straße. Dort, im matten Licht der Straßenlaterne, steht jemand. Ich zwinkere zuerst und nehme an, dass die Silhouette nur Einbildung ist, doch sie bleibt. Regungslos steht sie da.

Ich schlucke laut und will gerade an den Vorhängen ziehen, als ich draußen eine Bewegung wahrnehme. Die Person bewegt sich.

Wahrscheinlich ist es nur ein normaler Mensch, der über die Straße geht. So ungewöhnlich ist das nun auch wieder nicht.

Doch irgendwas ist seltsam. Die Art, wie sich die Person bewegt. Schleichend und unauffällig, als wolle sie auf keinen Fall bemerkt werden. Ich kann nicht erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, denn die Dunkelheit offenbart mir nur die groben Umrisse.

Den Kopf schüttelnd rüttele ich am Vorhang, der sich jedoch an der Vorhangstange verheddert hat. Genervt zerre ich an dem Stoff und knirsche mit den Zähnen. Ich will doch einfach nur schlafen. Schlafen und diesen verdammten Tag vergessen.

Endlich löst sich der Stoff des Vorhangs von der Stange und lässt sich von mir verschieben. Ein letzter, kurzer Blick aus dem Fenster lässt mich erneut erstarren.

Die Person ist weg.

Und was ist daran schlimm? Es ist doch gut, dass sie weg ist.

Seufzend ziehe ich nun endgültig am Vorhang und verhindere damit, dass mich meine paranoiden Gedanken wieder beherrschen. Ich sollte aufhören überall eine Bedrohung zu sehen.

Doch seit ich heute morgen von einem seltsamen Mann bedroht worden bin, vertraue ich der Stimme in meinem Kopf, nicht mehr. Sie will mich beruhigen und mir einreden, alles wäre in bester Ordnung.

Ist es aber nicht.

Rasch putze ich im Badezimmer meine Zähne und wasche mein kaltes Gesicht. Meine Seele breitet sich unruhig in mir aus, als wäre sie nervös. Die Stille birgt eine Gefahr, das spüre ich, und meine Angst steigt mit der zunehmenden Nervosität meiner Seele. Denn sie ist nie unruhig, ängstlich oder traurig. Sie ist kalt und furchtlos. Ihre Furcht erschreckt mich mehr als alles andere.

„Es ist alles gut", flüstere ich, während ich mich im Badspiegel betrachte. Meine Augen sind weit aufgerissen, die Pupillen geweitet, sodass meine graue Iris kaum noch zu sehen ist.

Meine Hände umklammern den Rand des Waschbeckens und Übelkeit kommt in mir hoch. Mein flacher Atem hallt in der Stille wider und ich frage mich, wovor ich mich fürchte.

Ich höre etwas. Ein leises, kratzendes Geräusch, das einen Schock in mir auslöst. Meine Seele fährt suchend umher, bereit gnadenlos zu zerstören. Aber dort ist niemand, keine Seele ist in Sicht. Langsam löse ich mich aus meiner Schockstarre und schleiche über die Fliesen, um das Bad zu verlassen.

Ein erneutes Geräusch, diesmal lauter. Es kommt aus der Richtung meiner Haustüre.

Ich bin kurz vor dem Zusammenbrechen, meine schwitzenden Hände halte ich schützend vor mich. Ist es ein Einbrecher? Den kann ich leicht überführen. Ich muss bloß in seine Seele eindringen und ihn zerstören...

Doch meine Seele schweigt. Verwirrt zieht sie sich zusammen und lässt mich alleine.

Wieso tut sie nichts? Ich stehe nicht weit von der Haustür, ich kann den Einbrecher erreichen. Aber meine Seele rührt sich nicht, dringt nicht in die Gefühle der Person ein. Jetzt, wo ich auf sie angewiesen bin, lässt sie mich im Stich.

Tränen schießen in meine Augen und ich weiche ein wenig zurück, während das Kratzen an der Tür lauter wird.

Lauf!

Panisch reiße ich die Tür zu meinem Schlafzimmer auf und schalte das Licht an. Kurz darauf stürme ich wieder heraus und verschwinde in der Küche, die sich direkt neben der Haustür befindet.

Vielleicht denkt der Einbrecher so, dass ich mich in meinem Schlafzimmer befinde, da dort das Licht brennt. Und in der Zwischenzeit fliehe ich hinter seinem Rücken aus meiner Wohnung.

Und dann? Was mache ich, wenn ich ohne Mantel draußen in der Kälte stehe?

Schwer atmend bücke ich mich und lure durch das Schlüsselloch. Das kratzende Geräusch ist verstummt, weshalb Nervosität in mir hochkommt. Ich rühre mich nicht von der Stelle und halte urplötzlich die Luft an, als ein Knacken ertönt. Langsam schwingt die Haustür auf, woraufhin ich mir mit meiner Hand den Mund zu halte, um nicht laut aufzuschreien.

Mein Herzschlag setzt aus, als ich durch das Schlüsseloch erkenne, wie eine schwarz gekleidete Person in die Wohnung huscht. So schnell, dass ich mich schon frage, ob es nur Einbildung ist.

Doch das laute Aufreißen meiner Schlafzimmertür verrät mir, dass das die kalte Realität ist.

Ich darf keine Zeit verlieren!

Ohne nachzudenken öffne ich die Küchentür und bin mit einem Satz vor der Haustür. Es handelt sich nur noch um Sekunden, bis der Einbrecher mich entdeckt. Ängstlich betrete ich den dunklen Hauskorridor und stürme spontan in den Aufzug.

Vielleicht kann ich hier abwarten, bis die Person aus meiner Wohnung verschwindet. Vielleicht...

Hastig drücke ich auf irgendeinen Knopf und beobachte ungeduldig, wie sich die Türen langsam schließen.

Schneller!

Mit einem lauten Pling beginnt der Lift sich zu bewegen und vor lauter Erleichterung seufze ich auf. Ich habe es geschafft. Vorläufig. Plötzlich kraftlos setze ich mich auf den Boden des Aufzugs und lehne mich an die kalte Wand. Ich kann nicht einschätzen, ob ich nach oben oder nach unten fahre. Doch es ist mir egal.

Hauptsache weg von hier.

Langsam normalisiert sich mein Atem und ich richte mich auf zittrigen Knien auf, woraufhin der Aufzug langsam zum Stehen kommt. Die Anzeigetafel zeigt mir, dass ich mich im dritten Stock befinde. Da es am sichersten ist, wenn ich jetzt die ganze Zeit mit dem Aufzug fahre, drücke ich erneut auf einen Knopf, diesmal auf die 1.

Mein Bauch kribbelt, als sich der Lift nach unten bewegt, ich mochte Aufzüge noch nie. In ihnen fühle ich mich so eingesperrt. Doch alles ist besser, als von dem Einbrecher entdeckt zu werden. Natürlich könnte er ein gewöhnlicher Dieb sein, der sich ein bisschen Geld von mir schnappt und danach abhaut. Aber irgendetwas in mir sagt mir, dass er wegen mir hier ist. Dass die Person hier ist, um mich auszuschalten.

Bei diesen Gedanken läuft es mir kalt den Rücken hinunter und ich frage mich, ob es der Mann von heute Morgen ist.

Doch auch, wenn das das plausibelste ist, glaube ich nicht, dass es sich um den selben Mann handelt. Denn heute morgen noch, hat meine Seele den Mann eiskalt durchbohrt. Warum scheint sie jetzt plötzlich Angst vor ihm zu haben? Sie hat eigentlich vor nichts und niemandem Angst.

Ich schrecke sofort hoch, als der Aufzug stehen bleibt und werfe einen Blick auf die Anzeigetafel. Ich befinde mich im zweiten Stock.

Stirnrunzelnd blicke ich auf die Schalter, denn ich bin mir sicher, dass ich den Knopf mit der 1 gedrückt habe, nicht den mit der 2.

Dennoch bleibt der Aufzug stehen, woraus ich schließe, dass jemand hier im zweiten Stock den Aufzug herbestellt hat. Nervös lehne ich mich an die Wand und verfluche mich selber für die Idee in den Aufzug zu fliehen.

Mein gerade noch ruhiger Herzschlag schießt in die Höhe, während sich die Aufzugtüren beinahe in Zeitlupe öffnen. Die Wand umklammernd starre ich in den dunklen Korridor des zweiten Stockes. Eigentlich müsste hier die Person stehen, die den Lift bestellt hat, doch der Gang ist leer. Niemand ist dort. Ich spüre meine unsichere Seele, wie sie langsam und suchend umherschweift, aber sie findet niemanden.

Dennoch wage ich es nicht, mich in Sicherheit zu wissen. Hastig drücke ich auf den Knopf mit der 1, damit der Aufzug endlich weiter fährt, doch er rührt sich nicht. Immer wieder versuche ich es, schlage fluchend auf einen Schalter nach dem anderen, doch die Türen schließen nicht.

Ich werfe einen kurzen, gehetzten Blick auf die Tür und erstarre.

Meine Augen bleiben bei einem Punkt hängen und eine Panikattacke kommt in mir hoch.

Die Tür schließt sich nicht, da etwas davor steht und somit den Schließ-Mechanismus behindert.

Als ich realisiere, was die Tür vom Schließen abhält, läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Es ist ein Fuß. Jemand hat seinen Fuß vor die Tür gestellt, damit sie nicht schließt.

Ich weiche zurück, meine Augen sind weit aufgerissen.

Ein letztes Mal flehe ich meine Seele stumm an, einmal etwas Gutes zu tun und mich vor dem Menschen dort zu bewahren, doch sie zieht sich zusammen, flieht tief in mein Inneres und überlässt mich mir selbst.

Als ich leise aufwimmere, springt jemand auf mich zu. Von der unheilvollen Finsternis versteckt stürmt die Silhouette gekonnt auf mich zu.

Ich schaffe es nicht einmal mehr, meine Hände schützend vor mich zu halten, als ich den dumpfen Schlag an meiner Stirn spüre. Ich schnappe nach Luft und versuche das Dröhnen in meinem Kopf zu ignorieren, doch es geht nicht.

Langsam siegt der Schmerz über meinen Körper, ich spüre noch, wie ich kraftlos auf den Boden sinke.

Doch dann ist da nur noch Dunkelheit und Schmerz.

Und gähnende Leere, finster und gnadenlos.




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