Kᴀᴘɪᴛᴇʟ 30
„Miss Walker. Sie haben Besuch“, teilt mir eine freundliche, rothaarige Krankenschwester mit, während sie mein Tablett mit dem leeren Suppenteller auf ihren Schiebewagen räumt und mich warm anlächelt. „Geht es Ihnen bereits besser?“
Ich schaue von meinem Buch auf und nicke dankend, woraufhin die Schwester samt dem Wagen den Raum verlässt und meinen Besuch hineinwinkt.
Die Frau, die daraufhin den Raum betritt, trägt einen beigen Wollmantel und einen schwarzen Kragenpullover, doch was vor allem hervortritt, sind ihre grünen Augen und ihr schwarzes Haar, das zu einem strengen Dutt hochgesteckt ist.
Obwohl ich sie einige Jahre nicht mehr gesehen habe, erkenne ich sie sofort wieder.
„Hey, Céline“, begrüße ich sie lächelnd und setze mich in meinem knarrenden Krankenhausbett auf.
„Hallo, Eileen. Lange nicht mehr gesehen.“ Eine Stille entsteht, die jedoch keinesfalls unangenehm ist, denn wir verbringen sie damit, uns gegenseitig neugierig zu mustern.
Schließlich räuspert sich Céline und lächelt leicht. „Ich habe mich ziemlich gewundert, als ich nach Hause gekommen bin und die Polizei mit einem kleinen Jungen vor meiner Haustür stand, der darauf beharrt hat, zu einer Céline Jackson zu müssen.“ Ihre Stimme klingt amüsiert, doch verständlicherweise auch fragend.
Ich schmunzle unwillkürlich. Mein kleiner, tapferer Louis hat es tatsächlich geschafft, zu ihr zu gelangen, der einzigen Person, die mir in Berrows Umgebung eingefallen ist.
„Das kann ich mir vorstellen“, erwidere ich verständnisvoll und betrachte meine Finger, die immer noch, Tage später, gerötet sind.
Ich horche in meine Gedanken, dort hin, wo eigentlich das Flüstern meiner Seele sein sollte, doch da ist nichts, lediglich Stille.
„Wie hast du herausgefunden, dass ich etwas damit zu tun gehabt?“, will ich interessiert wissen. „Ich hatte nämlich kurzzeitig die Sorge, dass du dich gar nicht mehr an mich, geschweige denn Louis erinnerst.“
„Als der Kleine etwas von Tante Eileen gesagt hat, bin ich hellhörig geworden. Auch wenn ich zugegebenerweise immer noch keine Ahnung habe, was das Ganze sollte.“ Sie lacht unbeschwert und ich habe das Gefühl, dass sich etwas schweres in meiner Brust löst.
„Das ist eine lange Geschichte“, erwidere ich nach einigen Sekunden der Stille und schwinge meine Beine aus dem Bett, „die ich dir natürlich gerne erzähle. Wir könnten ja mal einen Kaffee trinken gehen.“ Sie nickt lächelnd. Völlig perplex reiße ich meine Augen auf, als Céline mich kurzerhand fest umarmt.
„Ja, du hast Recht. Wir sollten uns unbedingt mal wieder sehen“, sagt sie. „Ich vermisse nämlich die Zeiten, in denen wir Eis essen waren, anstatt im Mathe-Unterricht aufzukreuzen.“
„Ja, das waren wirklich schöne Zeiten“, meine ich grinsend. Es fühlt sich gut an, wieder zu atmen, wieder zu leben.
„Ich schreibe dir dann, wenn ich mal in deiner Gegend bin, damit wir quatschen können“, füge ich hinzu, während ich meine Kleidung, die Nora mir gestern vorbeigebracht hat, ordentlich zusammenfalte. „Du bist wirklich lebensmüde“, hat sie mir zugeflüstert, als sie mich zum ersten Mal nach der Operation weinend in die Arme geschlossen hat. Louis ist neben ihr gestanden und hat mich breit lächelnd angesehen. „Ich habe mir alles gemerkt, was du gesagt hast, Tante Eileen“, hat er mir strahlend mitgeteilt und mir stolz seinen Wackelzahn präsentiert, den er seit dem Autounfall hat.
„Ich werde jetzt nämlich nach zwei Wochen endlich aus dem Krankenhaus entlassen“, erzähle ich Céline und stopfe nun noch mein Buch in den prall gefüllten Rucksack, während mir meine alte Schulfreundin beim Falten des Betttuchs hilft.
„Und danach“, füge ich leise, eher für mich selber, hinzu, während sich ein leichtes Lächeln auf meine Lippen stiehlt, „habe ich ein Date.“
***
Der Herbstwind ist kühl, während die bunten Fischerhäuser der Küstenstadt in der tief stehenden, rötlichen Sonne leuchten. Es riecht nach Salz und frischer Seeluft, und auch wenn ich den Duft von Kiefernwäldern, die hier an der Küste nicht sehr zahlreich sind, vermisse, fühle ich mich hier wohl.
Die wenigen Bäume, die an den Wegrändern thronen und direkt zu den kleinen Gartentüren und Gemüsebeeten führen, tragen kaum noch Blätter, dafür bedeckt eine rot, orangene Laubschicht den Asphalt.
Ich schlinge meinen roten Mantel noch fester um mich und achte darauf, nicht mit meinen schönen, neuen Wildlederstiefeln, in nasses Laub zu treten.
Doch auch wenn ich mich in einer Hafenstadt befinde, in der sich alles nur um den Strand, die Klippen und den Hafen selber dreht, entferne ich mich vom Meer und schlendere landeinwärts. Mit glänzenden Augen betrachte ich die kleinen, gemütlichen Geschäfte der Innenstadt, lausche dem Singen eines Straßenmusikanten, dessen liebliche Stimme, eine wohlige Wärme in meinem Körper hervorruft.
Schon lange habe ich nicht mehr so viele Menschen auf einmal gesehen, fröhliche Menschen, die die Vorweihnachtszeit genießen, Freunde und Bekannte treffen, oder einfach nur einen kleinen Einkaufsbummel machen. So friedlich. Ich lasse mich von der Menge mitziehen, lächle über süße Schaufensterdekorationen oder blicke die majestätischen Säulen der gothischen Stadtkirche ehrfürchtig an.
Doch schon bald lasse ich auch die kleine Innenstadt hinter mir, meine Absätze erklingen auf dem Kiesweg, der am letzten, heruntergekommenen Fischerhaus entlangführt und schließlich vor einem Maisfeld endet. Ich bleibe einen Moment stehen und lasse meine Augen über den weiten Horizont schweifen, wo man bereits den Ansatz der Nacht erahnen kann. Leichte Hügel sind am Ende des ansonsten flachen Küstenlandes zu sehen und eine starke Brise verwuschelt meine gerade noch ordentlich gebürsteten Haare. Doch das ist jetzt egal, oder?
Meine Beine beginnen wieder zu gehen, dieses Mal schneller, zielstrebiger, bis ich schließlich in einen Lauf übergehe, der mich über einem Feldweg, der lediglich aus sandigem Kies besteht, trägt.
Es ist kalt, doch die Wärme, die meinen Körper erfüllt hat, als ich die friedliche Hafenstadt erblickt habe, verschwindet nicht. Im Gegenteil, dieses wohlige Gefühl breitet sich noch weiter aus, als ich die malerische Landschaft Ostenglands erblicke, als meine Augen sehnsüchtig auf den Sonnenuntergang warten und doch nicht wollen, dass dieser Moment jemals vergeht.
Immer schneller tragen mich meine Beine über den Feldweg, immer hastiger wird mein Atem, der die Stille in meinem Kopf endlich singen lässt. Dieser Gedanke der Freiheit füllt jeden Zentimeter meines Körpers, lässt mich zittern und doch renne ich, bis meine Beine am Ende des Maisfeldes ankommen und ich atemlos auf ein riesiges Ackerfeld blicke, das in dem violetten Schatten der eintretenden Abenddämmerung schlummert.
Es verschlägt mir den Atem, die Welt erscheint mir auf einmal unendlich groß, unendlich weit.
Die Stille an diesem Ort ist berauschend.
Ich könnte weit weg sein, ich könnte irgendwohin laufen, ich könnte mich der Sonne nähern, vielleicht würde ich irgendwann in ihrem Licht verglühen. Vielleicht würde ich irgendwann am Ende der Welt ankommen, vielleicht...
Ich spüre seinen Blick auf mir, noch bevor er seine Stimme hebt.
Ich sehe das Lächeln auf seinen Lippen, noch bevor ich mich zu ihm drehe, um sein Gesicht anzusehen, um ihm zum ersten Mal, wieder in die Augen blicken zu können.
„Hey“, sagt er leise und in seiner Iris spiegeln sich die rot violetten Töne des Himmels, dessen Wärme uns einhüllt. Umgeben von unendlicher Weite, von Feldern, die weiter reichen, als unsere Augen sehen können.
„Hey“, erwidere ich, während meine Augen ihn forschend ansehen, als wollten sie sichergehen, dass es ihm wieder gut geht, dass er wieder der Alte ist.
Aber das ist er wahrscheinlich nicht. Genauso wenig wie ich. Denn jedes Mal, wenn ich meine Augen schließe, sehe ich Julietts Blut vor meinen Augen, spüre ich die Schläge des Chefs, der nun hinter Gittern sitzt. Der hohle Schmerz hallt noch immer durch meinen Kopf und wird wahrscheinlich nie verstummen.
„Wie geht es dir, seit du aus Berrow gezogen bist?“, fragt David, während sein dunkles Haar im Wind flattert und seine Hände in den Taschen seines schwarzen Mantels vergraben sind.
Befreiend.
„Ich fühle mich gut“, antworte ich lächelnd, denn nun kann ich meine Vergangenheit loslassen, kann die Zeit meines Seelenlesens, die Erinnerungen an all den Schmerz ein wenig vergessen und hinter mir lassen. „Und wie geht es dir hier?“, will ich nun wissen.
David lächelt. „Diese Hafenstadt gibt mir das Gefühl, nie wirklich gelebt zu haben.“ Ohne den Blick von mir zu mir nehmen, deutet er auf das Feld um uns, auf den Himmel, der mir plötzlich so unglaublich riesig vor kommt. „Ich meine, sieh dich um. Ist das nicht...“, er sucht nach Worten, die das rot, gelbe Licht beschreiben könnten, das soeben die sanften Wolken durchbricht. Worte, die diese berauschende Stille, den Duft von frischer Erde und Regen ausdrücken könnten.
„Atemberaubend“, vervollständige ich seinen Satz und nähere mich ihm ein wenig. „Wunderschön. Friedlich. Befreiend. Berauschend.“ Meine Augen spiegeln sich in Seinen und unsere Blicke vermischen sich mit der Sehnsucht, die soeben durch unsere Adern flutet.
Er tritt auf mich zu, berührt meine Wange behutsam und dreht sie sanft zur Seite, damit wir beide auf die Welt vor uns blicken können.
Dorthin, wo die Sonne blutend mit dem Horizont verschwimmt, dorthin, wo das Licht auf den Schatten der Erde trifft, wo Farben zu sehen sind, für die es keinen Namen in der menschlichen Sprache gibt.
Ich spüre seine Lippen an meiner Schläfe, an meinem Ohr, ich spüre seine Augen auf meiner glühenden Haut.
„Wie würdest du diesen Rot-Ton nennen?“, flüstert er, Richtung Horizont deutend.
Ich blicke in den Himmel, lasse meinen Blick über den rötlichen Streifen schweifen, der den Sonnenuntergang ankündigt.
„Hoffnungsrot“, sage ich schließlich und sehe, wie Davids Lippen dieses Wort stumm formen.
Ich glühe, halte mich an ihm fest, während er mich an sich drückt und seine Lippen mein Ohrläppchen streichen.
„Jetzt könnten wir doch einfach losrennen, findest du nicht?“, fragt er, seine Stimme ist stark und doch so zerbrechlich. „Du hast mir damals im Auto versprochen, dass wir bald gemeinsam so weit laufen könnten, bis wir mit dem Horizont verschwimmen.“ Seine Worte sind hoffnungsvoll, während seine Hand an meiner Taille ruht, um mich an ihn zu drücken.
„Ja“, hauche ich. „Lass uns rennen.“
Ich wende meinen Kopf wieder und reiße mich von dem atemberaubenden Ausblick los, um David anzusehen. „Aber davor...“, ich verstumme mitten im Satz, denn seine Augen verschlagen mir den Atem, ziehen mich in ihre tiefe Dunkelheit.
Ich liebe diese Dunkelheit.
Und dann senke ich meinen Blick, starre auf diese Lippen, die von seinem geheimnisvollen Lächeln geziert werden. Ich spüre seine Hand auf meiner brennenden Haut, ich fühle seinen Atem an meinen Wangen. Seine Lippen, diese wunderschönen Lippen.
Und dann treffen wir aufeinander, wie eine Kollision, wie zwei Sterne, die miteinander verbrennen.
Ja, wie zwei zersplitterte Seelen, die zu Einer werden, die sich nach einer rastlosen Suche endlich gefunden haben.
Ich lasse mich fallen, berauscht von der Nähe, von der Wärme und dieser unglaublichen Freiheit. Der eiskalte Wind scheint mich zu steifen, doch ich bin undurchdringlich, unzerstörbar, denn solange David mich hält und solange ich ihn halte, erscheint mir selbst der eiskalte Herbstwind nebensächlich.
Und inmitten dieser Unendlichkeit, inmitten dieser Felder, die weiter reichen als alles, was wir jemals gesehen haben, beginnen wir zu rennen. Hand in Hand.
Seine dunklen Augen strahlen heller als jeder Stern, und ich weiß, dass wir so lange rennen werden bis wir nicht mehr können, bis uns der Atem fehlt, bis wir uns kraftlos auf dem Feld niederlassen, um den Übergang der schönsten Rottöne zu betrachten.
Bis wir mit dem Horizont verschwimmen und unsere Herzen nur noch in einer Farbe leuchten.
Hoffnungsrot.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top