Kᴀᴘɪᴛᴇʟ 28

„Nora“, wispere ich mit einem Zittern in der Stimme, das mir meine eigene Zerbrechlichkeit vor Augen führt. Ich bin nichts mehr, nichts außer einem Trümmerhaufen.

Ich will nicht hinsehen, nein, das will ich nicht.

Du bist so ein Feigling, Eileen Walker. So ein verdammter Feigling.

Das weiß ich.

Sieh hin und tue etwas! Tue verdammt nochmal irgendetwas, dass deinen Liebsten hilft. Du sitzt in einem Auto mit deiner geliebten Schwester, deinem Neffen, der für dich alles bedeutet, dem Mann, in den du dich verliebt hast und der Frau, die dein Leben nun mehrmals gerettet hat, obwohl du es nicht verdient hast. Und du, du tust nichts?

Selbsthass schmeckt wie Blut, das weiß ich nun, denn der eiserne Geschmack breitet sich in meinem Mund aus, während ich mit aller Kraft versuche, meinen verschwommenen Blick zu fokussieren. Du hast doch Recht, du verdammte Stimme in meinem Kopf, du hast doch Recht! Das weiß ich doch!

Dann sieh hin. Hilf. Tue einmal in deinem Leben etwas, das anderen hilft und nicht nur dir, du egoistisches Monster!

Ich wehre mich nicht gegen meine Stimme, natürlich nicht. Denn sie hat Recht. Ich habe nie in meinem Leben etwas anderes getan als zu verletzen. Nie.

Wie von selbst richte ich meinen schmerzenden Rücken auf und drehe meinen Kopf, in dem mein Herzschlag viel zu laut erklingt.

Das erste, was ich sehe, sind Louis' Augen. Seine süßen, unschuldigen Augen, die mich geschockt anblicken. Sein Mund ist leicht geöffnet, doch die Angst sitzt zu tief, als dass er einen Ton hervorbringen könnte.

„Louis“, flüstere ich und er nickt benommen. Ich taste seinen Kopf ab, suche nach tödlichen Wunden, nach irgendwelchen Anzeichen auf Verletzungen, obwohl meine Arme bei jeder noch so kleinen Bewegung schmerzen. „Gott sei Dank“, stoße ich hervor, als ich feststelle, dass er unversehrt ist, und drücke Louis so fest an mich wie noch nie zuvor.

„Mami“, flüstert Louis schließlich und ich löse mich blitzschnell aus unserer Umarmung. Rasch löse ich meinen und Louis' Gurt, während ich meinen Blick umherschweifen lasse. Ich will nichts sehen! Ich will nichts wissen!

Feigling!

Ein qualvolles Stechen breitet sich in meinem gesamten Oberkörper aus, als ich an der Autotür rüttele. Fluchend drücke ich, presse mich mit meinem gesamten Gewicht dagegen, bis sie schließlich mit einem Ruck aufspringt.

„Los, Louis.“ Ächzend hebe ich meinen Kleinen hoch und hieve in auf das weiche Gras, endlich raus aus dem zerbeulten, stickigen Auto, das nach Schmerz und Blut riecht

Doch noch im selben Moment erstarre ich. Mein Blick fällt auf ein schwarzes Auto, das etwa zwanzig Meter von uns am Wegrand steht. Es hat Dellen und Schrammen an der Seite, eine Scheine ist zersplittert.

Es hat uns gerammt.

Ich weiß nicht, welche Emotionen ich verspüre, weiß nicht, ob mich Zorn durchflutet, denn ehe ich überhaupt meine Gedanken sortieren kann, erblicke ich einen hochgewachsenen Mann, der mit einem ordentlichen Jacket elegant aus der Fahrertür tritt und seinen kalten Blick auf mich richtet. Ich schnappe nach Luft, wo keine mehr ist.

„Lange nicht mehr gesehen, Miss Walker“, ruft mir der Chef zu und legt den Kopf leicht schräg, während ich wie gelähmt da sitze, mit einem Bein noch im Auto. Stille, tödliche Stille breitet sich aus.

„Scheiße“, flüstere ich kaum hörbar und kralle meine Finger unbewusst in Louis Jacke fest, der immer noch wortlos und mit weit aufgerissenen Augen vor den Sonnenblumen steht und mich geistesabwesend ansieht.

Mein Blick ist gefangen, ich kann ihn nicht von diesem Mann lösen, dem Mann, der mich in meinen Alpträumen verfolgt, der mir all das Leid zugefügt hat.

Ich weiß nicht, wie lang wir uns anstarren, wie lange sich diese schlangenartigen, verletzten Augen in mich bohren.

„Lauf, Louis“, sage ich schließlich leise. „Lauf ins Sonnenblumenfeld. So weit du kannst. Sie werden dich nicht sehen, weil die Sonnenblumen höher als du sind. Wenn du Menschen triffst, bleib bei ihnen. Ich verspreche dir, dass ich dich hole, wenn ich...hier fertig bin. Ich finde dich schon irgendwo. Wenn die Polizei dich fragt, ob du weißt, wohin du musst, sag ihnen, dass du“, ich überlege einen Moment, denn nach Berrow kann er nicht zurück, nie wieder, „sag, dass du zu Céline Jackson musst.“

Eine alte Schulfreundin, die in einer Nachbarstadt lebt und sich vermutlich nicht mal mehr an mich erinnert. Aber das ist jetzt egal.

„Dort hole ich dich ab, ok?", sage ich eindringlich, während mich Louis mit großen Augen anblickt und auf einmal weiß ich nicht, ob er meine Worte überhaupt hört oder ob er überhaupt irgendetwas wahrnimmt. Das ist zu viel für ihn. Für einen armen, kleinen, unschuldigen Jungen, den ich über alles liebe. Aber er muss es verstehen. Er muss einfach.

„Los",meine ich und schiebe ihn zu den Sonnenblumen.

Seine kurzen Beine stolpern zuerst ein wenig und sein Blick ist irritiert, als wisse er gar nicht, was ich von ihm möchte. Doch dann schluckt der Kleine und dreht sich um, um kurz darauf inmitten von den schönen Blumen zu verschwinden.

Ich darf keine Zeit verlieren. Mein Blick fällt auf den Chef, dessen Augen ich bis hierhin wütend aufleuchten sehen kann. Mit großen Schritten beginnt er in meine Richtung zu laufen. Wie das Ticken einer Uhr dröhnt mein Herzschlag in meinem Kopf, als wolle er mir die Kostbarkeit der nächsten Sekunden nahebringen.

Scheiße, scheiße, scheiße.

Angsterfüllt und mit unglaublichen Schmerzen, die mir fast den Atem rauben, rutsche ich zurück ins Auto und nähere mich David. Seine Lider sind geschlossen, seine Unterlippe aufgeplatzt und ein dünnes Blutrinnsahl sickert an seiner Schläfe entlang. Mein Herz setzt aus und mein Kopf wird leer, so leer, dass ich nicht einmal mehr meinen eigenen Atem hören kann.

„David“, flüstere ich und ohne es zu wollen, schlage ich ihm auf die Brust. Zornig und verbittert, und noch im selben Moment hasse ich mich für diesen Schlag, denn er kann ja nichts dafür. Meine Schuld, alleine meine Schuld.

Mein Blick bleibt wie gebannt auf seiner Brust liegen. Sie hebt und senkt sich leicht.

Als seine Lider flattern, schluchze ich auf. Er lebt noch. Er lebt verdammt nochmal noch.

Mit zittrigen Händen packe ihn an seinen Schultern, zerre ihn aus der Beifahrertür. Er ist schwer und meine Arme fühlen sich taub an. Schießender Schmerz breitet sich an meiner Wirbelsäule aus, doch es ist mir egal, so egal. Ich zerre und ziehe und drücke und ächze und würde wahrscheinlich nicht einmal merken, wenn mein Wirbelsäule mit einem Knacksen brechen würde.
So egal, so verdammt egal, denn er lebt, er lebt!

Ich höre ein leises Stöhnen von den Vordersitzen aus und mein Blick schießt noch im selben Augenblick nach vorne. Ich will es nicht wissen, ich will es nicht sehen!

Doch ich tue es. Denn ich bin kein Feigling, nicht jetzt, nicht jetzt, wo Nora vielleicht tot sein könnte, wo David vielleicht in meinen Armen sterben könnte, wo Louis einsam und ängstlich durch ein Sonnenblumenfeld irrt.

Nicht jetzt, jetzt ist keine Zeit, feige zu sein.

Noras Arme zittern und ein weiteres Stöhnen entspringt ihren Lippen. Ich will weinen und lachen und rufen, doch mein Mund trocknet augenblicklich aus, als sich meine Augen auf den Chef richten. Er ist nicht mehr weit. Sein feiner Anzug weht im Wind, während seine teuren, schicken Schuhe laut auf dem Asphalt hallen. Er hält kurz an, nur wenige Meter vor mir und dreht sich zum Auto, um wutentbrannt mit seinen Armen zu gestikulieren. Noch im selben Moment springen zwei Männer aus dem schwarzen Wagen und rennen fast schon widerwillig auf uns zu.

„Eileen?", erklingt Noras schwache Stimme und mein Blick huscht wieder zu ihr. Meine Augen müssen wahnsinnige Angst ausstrahlen, denn als Nora ihnen entgegenblickt, öffnet sich ihr Mund zu einem heiseren Schrei.

Ich lasse David auf dem weichen Gras liegen und stürme zur Beifahrertür, um sie kurzerhand aufzureißen. Schmerz zuckt durch meinen gesamten Körper, so ein gewaltiger Schmerz, dass ich mich einen Moment qualvoll krümme. Meine Finger klammern sich am Auto fest, ich habe das Gefühl umzukippen. Aber ich muss, ich muss stark sein. Zwanzig Jahre meines Lebens war ich ein Feigling, aber jetzt muss ich helfen, muss ich retten.

Ohne Juliett genauer anzublicken, aus Angst vor dem, was ich sehen könnte, zerre ich sie aus dem Wagen und packe daraufhin Noras Hand, um sie ebenfalls auf die Wiese zu ziehen. „Louis! Wo ist Louis?“ Noras panische Stimme ist zu laut für meinen leeren, tauben Kopf, zu laut für meine verstummten Gedanken, die sich wie ein unheilvoller Schatten in den Tiefen meiner Seele versteckt haben.

„Ihm geht es gut", flüstere ich, auf einmal kraftlos von dem ganzen Zerren. Ich will nur noch schlafen gehen, ich will, dass der Schmerz in meinem Rücken vergeht. „Ich habe ihn losgeschickt, er rennt durch das Sonnenblumenfeld.“

Das "wieso?" liegt Nora bereits auf den Lippen, doch dann erblickt sie den Chef, der mit einem irren Tempo, gefolgt von zwei Männern, auf uns zu rast. Nur noch wenige Meter trennen ihn von uns. Sie reißt ihre Augen auf, blickt mich panisch und gleichzeitig fragend an, als wisse ich, was zu tun ist.

Von einem Adrenalinkick erfüllt, knie ich mich auf den Boden und rüttele an Davids Schultern, während Nora verzweifelt beginnt, die reglose Juliett an ihren Armen ins Sonnenblumenfeld zu ziehen.

Meine Augen liegen auf David, dessen Brust sich immer noch regt, doch nur so leicht, dass sich ein schwerer Kloß in meinem Hals bildet. Nein. Nein, nein, nein.

„David! Wach doch auf!", rufe ich und rüttele seine Schultern, schlage ihm auf die Brust, ins Gesicht. Wieso habe ich nie einen verdammten Erste-Hilfe-Kurs besucht?! Wieso kann ich nur hilflos dabei zu sehen, wie sein Atem schwächer wird, wie sein schönes Herz langsam verklingt?

„Stehen bleiben, oder ich schieße!“, faucht der Chef, doch ich höre ihn nicht. Ich höre gar nichts, außer dem Rauschen meines Blutes, und meinem schnellen Herzschlag, von dem ich David am liebsten etwas abgeben würde.

Ich nehme die Waffe nicht wahr, die auf mich gerichtet wird, denn ich sehe nur Davids blutiges Gesicht vor mir, nur seine blutigen Lippen, die mir kurz vor dem Unfall noch etwas sagen wollten.

„Lass ihn liegen!“, heult Nora von irgendwo und einen Moment schießt mir tatsächlich der Gedanke durch den Kopf, einfach loszulaufen, ohne David, ohne Juliett. Doch nur einen Wimpernschlag später schäme ich mich für diesen egoistischen Gedanken, der mir noch einmal beweist, was für ein grausamer Mensch ich bin.

Feigling! Du bist genauso grausam wie alle anderen, genauso egoistisch wie die, die du dafür kritisierst!

David hätte mich auch einfach gestern erschießen können, als er den Befehl dazu erhielt. Er hätte mir einfach die verfluchte Kugel in den Kopf jagen können und wäre dann niemals in dieser Situation gelandet. Aber er hat nicht geschossen. Er hat sich nur für mich gegen eine kriminelle Organisation gestellt, die seit seiner Kindheit sein Zuhause ist. Und nun soll ich ihn einfach liegen lassen?

Angewidert von mir selber blicke ich auf und meine Augen treffen auf Noras Augen. „Lauf, Nora“, sage ich, mit einem seltsam ruhigen Ton.

Entgeistert starrt sie mich an, Angst und Zorn und Schmerz blitzt in ihren Augen auf. Natürlich. Sie versteht es nicht. Wie könnte ich auch mein Leben für meinen Entführer geben? Doch ich kann ihr die stumme Frage, die zornig in ihren Augen funkelt, nicht beantworten. Denn ich weiß die Antwort selber nicht.

„Du...du bist lebensmüde, Eileen“, flüstert Nora kaum hörbar. „Ich liebe dich, Schwesterherz. Aber ich muss zu Louis.“ Doch statt direkt loszulaufen, packt sie blitzschnell Julietts Arme. Die Waffe, die gerade noch auf mich gezielt war, richtet sich augenblicklich auf Nora, doch sie ist bereits in den Sonnenblumen verschwunden. Aber nicht alleine. Sie hat Juliett mitgenommen.

Eine plötzliche Wärme breitet sich in mir aus und ich schaffe es trotz der Situation ein gequältes Lächeln aufzubringen. „Wer ist hier lebensmüde?“, murmele ich, doch mein kurzes Schmunzeln fällt mir direkt wieder von den Lippen. Noras entschlossener Blick brennt sich in mein Gedächtnis ein und atemlos stelle ich fest, dass das vielleicht das letzte gewesen ist, was ich je von meiner Schwester sehen werde.

Die Schritte des Chefs erklingen unmittelbar neben mir, doch ich hebe meinen Blick nicht, sondern lasse ihn auf David ruhen. Seine Gesichtszüge sind so... friedlich. Fast schon weich. Sie erinnern mich an den Moment, als er mich angesehen hat und in seinen Augen so viel Wärme und Verständnis lag. Bald werden wir gemeinsam mit dem Horizont verschwimmen. Das habe ich ihm gesagt. Aber werden wir das? Vermutlich, aber nicht auf die Weise, wie ich es gemeint habe.

„Ihr zwei Miststücke“, faucht der Chef und packt mich an meinem Kragen, anstatt von seiner Waffe Gebrauch zu machen. Meine Augen tränen und es fällt mir schwer, scharf zu sehen. Den Zorn, der in dem verzerrten Gesicht des Mannes zu sehen ist, kann ich nur mit glasigem Blick erwidern. Seine Worte regnen wie Messerstiche auf mich hinab. Doch ich bin unverwundbar. Bin ich das?

„Du hast sie umgebracht! Du verdammtes Miststück! Du Biest! Du“, er schlägt mir mit der freien Faust ins Gesicht, „Hexe!“ Er schlägt nochmal zu, und ich spüre etwas Warmes an meiner Wange hinabsickern. Ein taubes Gefühl breitet sich in meinem Gesicht aus, und meine Sicht verschwimmt. Blut. Wieso hat Blut die gleiche Farbe wie die Liebe? Wieso kann rot gleichzeitig Schmerz und Heilung symbolisieren?

„Du hast mir mein ein und alles genommen!“

Ich werde mit einer enormen Kraft auf den Boden geschleudert. Obwohl ich beim Fechten immer meine Reaktionsgeschwindigkeit trainiert und perfektioniert habe, ist nichts mehr von ihr übrig, sodass ich wie ein Sack Kartoffeln auf dem Boden aufschlage, ohne den Fall mit meinen Händen abzufedern.

Ich bin so leer, so kalt, dass ich nicht mal einen Schrei ausstoße. Doch den Schmerz, ihn spüre ich. Flammend und stechend und brennend und pochend. Überall, jede einzelne Stelle meines Körpers tut weh, so sehr, dass ich den Schmerz nicht einmal mit meinem Blick ausdrücken kann.

Reglos bleibe ich liegen, mit dem Blick auf den dunklen, erdigen Boden unter mir. Ich kann meine Gliedmaßen nicht mehr bewegen, sie sind wie betäubt und doch brennen sie vor lauter Schmerz.

Wahrscheinlich wäre es besser, wenn David mich einfach gestern erschossen hätte. Denn am Ende des Tages sterbe ich sowieso. Und ein Schuss in den Kopf erscheint mir auf einmal verlockend, befreiend, gnadenvoll im Gegensatz zu dem, was mir gerade widerfährt.

Die Tränen brennen in meinen Augen, sickern in den Boden. Vielleicht wird an dieser Stelle mal eine Blume wachsen, so wie in den ganzen Märchen, die meine Mutter Nora und mir immer vorgelesen hat.

„Aber Claire wäre eigentlich vor zwanzig Jahren gestorben“, flüstere ich, eher zu mir selbst. „Sie hat damals nur wegen mir überlebt.“

Ich werde erneut gepackt und hoch gezerrt. Die Augen des Mannes brodeln. „Das ist mir so egal! Du wirst dafür büßen, dass du sie getötet hast! Und sprich ihren Namen nie wieder aus, du verdienst es nicht, ihn auch nur zu denken!“

Der nächste Schlag erschüttert meinen gesamten Körper.

Der nächste Schlag nimmt mir die Sicht.

Ich habe nicht einmal mehr die Kraft zu atmen, zu weinen, zu denken. Leer, so leer fühle ich mich.

Ich lande erneut auf dem Boden, dieses Mal direkt neben Davids reglosem Körper. Seine Hand liegt auf meiner, kalt wie die Hand eines Toten.

Nein, nein, nein! Angsterfüllt robbe ich mit meinen letzten Kräften näher an ihn heran, versuche durch meine unklare Sicht, etwas zu erkennen, doch die salzigen Tränen lassen es nicht zu.

„David“, flüstere ich und streiche über sein Gesicht, wische ihm das Blut von seiner schönen Stirn, doch neues Blut, das aus meinen eigenen Wunden fließt, tropft von meiner Wange auf sein Gesicht.

Ein leises Geräusch verlässt seine Lippen, so leise, dass ich es mir vermutlich nur einbilde. Ich lege meinen Kopf auf seine Brust, auch wenn ich meinen Blick eigentlich nie von ihm nehmen will, doch mein Kopf fühlt sich zu schwer an, um ihn noch länger zu halten.

Mit angehaltenem Atem lausche ich dem schwachen Pochen seines Herzens, lausche den Schlägen, die das Einzige sind, was mir verrät, dass er noch am Leben ist.

Deine Schuld. Alles deine Schuld.

Doch die Frage der Schuld ist mir egal. Was hilft es mir zu wissen, wer Schuld ist? Wen interessiert das jetzt noch?

Erneut erklingt ein Murmeln aus Davids Mund und ich hebe den Kopf angestrengt, um ihn anzusehen. Seine Lippen öffnen sich leicht, um etwas zu sagen, doch das ist mir auf einmal egal. Denn seine Lider flattern und öffnen sich leicht, geben den Blick frei auf die Augen, bei denen ich geglaubt habe, sie nie wieder zu sehen. Der Augenspalt ist nur ganz schmal, doch genug, um das Dunkelbraun zu sehen, die finstere Iris, in der ich das Licht sehen kann.

Ich will etwas sagen, will seine Hand noch fester drücken, will seine Augen so lange anblicken bis sie erlischen, doch der Chef packt mich ein letztes Mal und entreißt mir Davids Finger. Seine Augen blicken mich an, doch ich weiß nicht, ob er mich überhaupt sieht. „Eileen?“, flüstert er kraftlos.

„Wissen Sie, Miss Parker. Sie haben mir mein ein und alles genommen, Sie haben mir meinen Lebenssinn genommen“, ein leichtes, bitteres Lächeln ziert seine Lippen, „und deshalb werde ich Ihnen, den Ihren nehmen.“

Ich hätte nie gedacht, dass etwas mehr schmerzen könnte als die Schläge der Rache, die er mir verpasst hat, doch diese Worte ersticken den letzten Funken Hoffnung, der in meinem Inneren verborgen war.

„Ich habe dabei zwar zuerst an Ihre Schwester gedacht, aber", sein Blick liegt auf David, dessen Augen mich unentwegt ansehen, „ich denke, dass sich David auch dafür anbieten würde.“ Wie Abfall schleudert mich der Chef auf den Boden und tritt auf David zu, der reglos in einer Blutlache liegt. So etwas wie Enttäuschung liegt in den Augen des grausamen Mannes. „Ach, David. Nach all dem, was ich für dich und deine Mutter getan habe, wirst du nun wegen irgendeiner bedeutungslosen Frau zugrunde gehen“, meint er und ich spüre ein Zittern durch meinen Körper rasen.

Der fein gekleidete Mann dreht sich zu mir und lächelt ein Lächeln, das seine toten Augen nicht erreicht.

„Sehen Sie genau hin, Miss Walker“, flüstert er. „Damit Sie genau dieses Gefühl verspüren, wie ich es spüren musste, als ich meine geliebte Frau tot im Gang aufgefunden habe. Es fühlt sich an, als würde einem das Herz zerreißen, als würde es verbrannt werden. Und glauben Sie mir, kein einziger Splitter des Herzens bleibt nach diesem Feuer zurück.“

Davids Augen zucken nicht, sie ruhen immer noch auf mir.

„Nein“, flüstere ich, doch nicht einmal für dieses eine Wort bin ich stark genug. „Bitte nicht ihn. Er kann nichts dafür. Ich habe ihn gezwungen, mir zu helfen, weil ich ihm gedroht habe. Er bedeutet mir nichts, also bringt es Ihnen nichts, ihn vor meinen Augen zu töten! Nichts! Also“

„Schweig!“, unterbricht mich der Chef mit kalten Augen und mein Kopf sackt kraftlos auf den Boden. „Du Lügnerin. Ich weiß ganz genau, dass er dir etwas bedeutet! Du bist doch die, die nur die Wahrheit will, die anderen die Wahrheit zeigt, ohne zu überlegen, ob sie verletzt! Also hör. Auf. Mit diesen dreckigen Lügen.“

Er dreht sich zu David.

Ich habe mich in David verliebt. Weiß er das? Habe ich es ihm schon einmal gesagt?

Seine Augen sind undefinierbar, doch Reue ist nicht zu sehen. Weder Reue noch Zorn.

Ich hasse mich. Abgrundtief. Plötzlich ist die Frage der Schuld wieder da, erfüllt meinen Kopf, jeden Gedanken.

Meine Schuld. Alles meine Schuld.

Ich kann sowieso nichts ändern. Aber ich hasse mich trotzdem, ich bin trotzdem Schuld, ich hätte trotzdem gestern sterben sollen, ich hätte trotzdem den verfluchten Tod verdient. Den Tod, der gleich David holen wird, obwohl ihn keine Schuld trifft, obwohl...

Ich ertrinke. Ich bekomme keine Luft. Ich kann nicht mehr atmen. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Ich höre nichts, rieche nichts. Alles was ich tun kann, ist Davids Gesicht anzublicken. Hoffnungslos, machtlos.

„Fass ihn nicht an, du verdammter Idiot!“, ertönt eine laute, schrille Stimme und einen Moment glaube ich, dass es Meine ist.

Doch kurz darauf schmeißt sich jemand auf den Mann, der bereits mit der Faust ausgeholt hat, um Davids letzte Lebenskraft zu zerbrechen.

Mit blutigem Gesicht, zerstrubbelten Haaren und zerissenen Klamotten. Nichts davon erinnert an ihren eleganten, gepflegten Stil.

Doch ihre Augen funkeln. In ihnen liegt die Entschlossenheit, die Kraft, für die ich sie schon seit unserem ersten Aufeinandertreffen bewundert habe.

Die Kraft, die sie nutzt, um den Mann zu retten, in den wir uns beide verliebt haben.

„Für ihn“, flüstere ich, als ich meinen Kopf leicht hebe, um Julietts Augen zu erblicken.

Für ihn.



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