Kᴀᴘɪᴛᴇʟ 26
Meine Kinnlade klappt noch im selben Augenblick herunter, doch mein trockener Hals bringt nichts, außer einem seltsamen, kratzigen Ton hervor. Ich bin zu perplex, um irgendwas zu denken, geschweige denn zu sagen. Meine Verwirrung übertönt jeden Funken Hass, den ich für Jonathan verspürt habe, nachdem er mich und Nora so ekelhaft gegeneinander aufgehetzt hat.
Jonathans geweiteten Pupillen bohren sich in mich und scheinen ebenso wenig zu verstehen, wie ich es tue.
Sein starrer Blick wandert langsam auf die Beifahrerseite, wo David geduckt steht und ihn mit finster und undefinierbar anblickt. Jonathan schließt kurz die Augen und massiert sich die Schläfen, doch weder David noch ich lassen ihn aus den Augen.
„Was machst du hier, Eileen?", fragt Jonathan schließlich, was ich jedoch nur dumpf durch die Glasscheibe vernehme. Wie in Trance kurbele ich das Fenster etwas hinunter, woraufhin mir ein Schwall kalter Nachtluft entgegenschlägt. Dankbar für die Erfrischung blinzele ich.
„Ich...", doch ich weiß nicht, wie ich erklären soll, dass ich mitten in der Nacht mit einem ihm unbekannten Mann vor der Haustür seiner Eltern stehe. Ich muss es ihm irgendwie erklären. Denn wir haben keine Zeit.
„Ich...wir müssen Louis holen", sage ich.
Jonathan blickt mich schweigend an, seine Pupillen sind so unglaublich riesig, dass mir fast seine kompletten Augen schwarz erscheinen. Er blinzelt.
„Du willst mitten in der Nacht, mit irgendeinem Mann, meinen Sohn holen?", spuckt er mir schließlich förmlich entgegen, was ich ihm zugegebenermaßen nicht verübeln kann.
David richtet sich langsam auf und wirft mir einen beunruhigten Blick zu.
„Es ist wichtig", beharre ich jedoch darauf und blicke Jonathan flehend an. „Louis ist in Gefahr, wir müssen ihn mitnehmen."
Jonathans kehliges Lachen erfüllt die stechende Stille.
„Ich hätte beim besten Willen nie gedacht, dass du dich mal mit Menschen wie ihm abgeben würdest, Eileen. Welche Drogen hat er dir angedreht?", meint Jonathan und lehnt sich leicht vor, um mich durch das Autofenster besser sehen zu können.
„Ich habe keine Drogen genommen, verdammt nochmal", fahre ich ihn wütend an und blicke hilflos zu David. „Bitte, Jonathan!"
„Wo ist Nora überhaupt? Ich habe sie seit einiger Zeit nicht mehr gesehen", will Jonathan wissen und die Kälte in seiner Stimme erschreckt mich. Niemals hätte ich gedacht, dass ihm Nora so egal ist. Dass ihm so wenig an ihr liegt, obwohl er vor nicht allzu langer Zeit noch ihren Heiratsantrag angenommen hat und mit ihr einen Sohn bekommen hat. Abscheu macht sich in mir breit und ich reiße, ohne nachzudenken, die Autotür auf, um ihm mit wutentbranntem Gesichtsausdruck entgegenzutreten.
„Nora wurde entführt. Genauso wie ich", entschließe ich mich kurzerhand für die Wahrheit, wobei ich auslasse, dass mein Entführer direkt neben mir steht. „Wir haben es heute geschafft zu entkommen und deshalb will ich Louis holen – weil er hier nicht mehr sicher ist." Meine Stimme wird höher und verzweifelter, als ich in Jonathans Augen sehe, dass er mir nicht ein einziges Wort glaubt.
Mit einem schiefen Lächeln hebt er die Hand und mir fällt erstmals auf, das sich in ihr eine halbvolle Flasche befindet, die sicherlich nicht mit Wasser befüllt ist.
Erst jetzt bemerke ich den strengen Alkoholgeruch, der von Jonathan ausgeht, und von dem mir übel wird. Er erinnert mich an den Abend, an dem ich mich zum ersten Mal nicht unter Kontrolle hatte. An den Abend, an dem ich einen unglaublichen Fehler begangen habe, indem ich Jonathans Kuss akzeptiert habe.
Auf Jonathans Lippen bildet sich ein bitteres Lächeln, als er meinen starren Blick auf die Flasche in seiner Hand bemerkt. „Na, du erinnerst dich an etwas, Eileen? Möchtest du deinem neuen Freund nicht davon erzählen, was für einen Spaß wir an dem Abend hatten?"
Ein lautes Klirren ertönt, gefolgt von Jonathans geschocktem Aufkeuchen. Erst dann realisiere ich, dass ich ihm die Alkoholflasche aus der Hand geschlagen habe. Ungläubig betrachte ich zuerst die Scherben auf dem Boden und dann meine gerötete Faust, die mir auf einmal so fremd vorkommt, als wäre es nicht meine.
„Eileen, wir müssen uns beeilen", sagt David unruhig. „Wir müssen ihn jetzt holen oder ohne deinen Neffen fahren."
Ich schüttele heftig den Kopf. Nicht ohne Louis.
„Du bist ein Idiot, Jonathan", sage ich leise und gefasst. „Du hast alles kaputt gemacht. Aber ich lasse nicht zu, dass du Louis' Leben auch noch zerstörst. Denn wenn wir ihn jetzt nicht mitnehmen, werden sie ihn töten. Sie werden mich mit ihm erpressen." Meine Stimme wird leiser und drohend. „Im Notfall werde ich dich bewusstlos schlagen, wenn du mich jetzt nicht zu Louis lässt." Nicht nur ich bin von der Heftigkeit in meiner Stimme überrascht, sondern auch Jonathans Augen weiten sich perplex.
Er weicht einen Schritt zurück.
Mein Blick bleibt an zwei Schatten hängen, die hinter Jonathan auftauchen und fast komplett mit der ausdruckslosen Finsternis verschwimmen. Geschockt huscht mein Blick zu David, der die zwei Silhouetten ebenfalls bemerkt zu haben scheint.
„Sind das...?", ich schaffe es nicht, die Worte über meine Lippen zu bringen. Handelt es sich bei den zwei Schatten um Mitarbeiter der Organisation oder um Juliett und Nora? Auch, wenn ich Hoffnung, die an der Wahrheit zerbricht, über alles hasse, kann ich nicht anders, als inständig zu beten, dass es Nora ist. Vielleicht kann sie Jonathan überzeugen. Vielleicht wird alles gut.
Doch umso näher die Schatten kommen, umso klarer wird mir, dass sie viel zu kräftig gebaut sind, um zu Juliett und Nora zu gehören.
Noch ehe ich reagieren kann, packt mich David am Arm und zieht mich mit sich. Ich kann kaum etwas in der Dunkelheit erkennen und die Kälte dringt mir bis in die Knochen. Ein Schauer tanzt mir über den Rücken, als würde mir eine eiserne Hand darüber streichen, und mein unregelmäßiger Atem erklingt unaushaltbar laut in meinem Kopf. Aber alles ist besser als die Stille in meinem Kopf, die sich in mich einfrisst. Sie tut so unglaublich weh.
Ich verziehe das Gesicht zu einem stummen Schrei, während David und ich das Haus erreichen und durch die Gemüsebeete im Vorgarten stolpern. Noch immer hält David meine Hand, als hätte er Angst mich hier in dieser unheilvollen Finsternis zu verlieren. Nichts, außer diesem festen Griff und seiner schwarzen Silhouette vor mir, sagt mir, dass er noch hier ist.
Wir drücken uns an der kalten, rauen Hauswand, an der die Farbe bereits abblättert, entlang und erreichen bereits nach wenigen Metern, Louis' Kinderzimmerfenster. Einen Moment verharren wir dort, ratlos und schwer atmend.
„Sollen wir...das Fenster aufbrechen?", frage ich zögernd und versuche, meinen Atem langsam wieder und Kontrolle zu bekommen.
David verengt seine Augen zu schmalen Schlitzen und nähert sich der Fensterscheibe.
„Sollen wir...", beginne ich erneut, doch ein Blick in Davids Augen, die sich langsam auf mich richten, lässt mich verstummen.
„Nicht nötig", meint er knapp. „Louis liegt nicht in seinem Bett."
Geschockt reiße ich meine Augen auf, während mich ein Zittern packt, das mich in die Knie zwingt. Ich höre nichts mehr, außer meinem ohrenbetäubenden Herzschlag, der in jeder einzelnen Faser meines Körpers zu dröhnen scheint.
„Wo kann er denn um diese Uhrzeit sein?", flüstere ich, während mir die Übelkeit gegen die Magenwände drückt.
„Ich weiß es nicht", erwidert David ehrlich und kniet sich neben mich, ehe er seine Haare hilflos rauft. Der Geschmack von salzigen Tränen macht sich in meinem Mund breit, als ich mit halb geöffneten Lippen ein kaum hörbares Schluchzen ausstoße.
Wie konnte alles so unglaublich schiefgehen?
Die aufkommende Flut an Gedanken überwältigt mich, fast schon schleichend nisten sich die schlimmen Erinnerungen Stück für Stück in meinem Kopf ein, bis ich an nichts anderes mehr denken kann. Bilder von Claires leblosem Körper auf dem kalten Steinboden, Noras leerer Gesichtsausdruck, als ich ihre Seele lesen musste, Julietts schmerzverzerrtes Gesicht. Und all das nur wegen mir.
„Du verdammtes Monster", hat Juliett mit geweiteten Augen geflüstert. „Wie konntest du nur?"
„Jetzt gebe ich dir das zurück, was ich dir vor genau zwanzig Jahren weggenommen habe", hat Claire mit entschlossenem Blick gesagt, ohne auch nur den Hauch eines Zweifels in den Augen.
Meine Augen brennen. „Eileen", erklingt Noras Stimme in meinem Kopf, während ich unkontrolliert zittere und in Erinnerungen versinke. Ihr liebevoller, schwesterlicher Blick bohrt sich lächelnd in mich, als hätte ich es verdient, überhaupt angesehen zu werden, nach all dem, was ich ihr angetan habe. Meiner geliebten Schwester.
„Eileen", sagt Nora erneut und ich spüre ein leichtes Rütteln an meinen Schultern. Unmöglich. Ich hebe den Kopf, der zuvor in meinen Händen vergraben war und richte mich mit wackligen Knien und an der Hauswand stützend auf.
Dort steht sie. Direkt vor mir. Trotz der Dunkelheit erkenne ich ihre Silhouette. Natürlich tue ich das, ich würde sie unter Tausenden erkennen. Mein leises Schluchzen setzt wieder ein, als ich Louis in Noras Armen erkenne, der friedlich zu schlafen scheint. Ohne nachzudenken schlinge ich meine Arme um Nora mitsamt Louis und drücke die zwei Menschen an mich, die mir auf dieser Welt am meisten bedeuten. Noras unregelmäßiger Atem erklingt an meinem Ohr und ich spüre eine Träne, die von ihren Wangen auf mein Schulterblatt sickert.
„Ich will euch nie mehr loslassen", flüstere ich mit belegter Stimme. „Nie. Mehr." Obwohl ich Noras Gesicht nicht sehe, weiß ich, dass sie lächelt. Ich will mich bei ihr entschuldigen, ihr sagen, wie leid mir das alles tut, doch kein Wort könnte das alles wiedergutmachen.
Mit einem seltsam klaren Kopf löse ich mich vorsichtig aus der Umarmung, streichele Louis liebevoll über die Haare und raffe meine Schultern. Meine Entschuldigung an Nora wird sein, dass ich alles dafür tun werde, sie und Louis hier lebend rauszuholen. Ich bin bereit, alles dafür zu geben. Selbst mein Leben.
Meine Augen huschen zu dem Schatten, der hinter Nora steht und eine Welle der Dankbarkeit überkommt mich. Ich will gerade meinen Mund öffnen, um Juliett dafür zu danken, dass sie Nora sicher hierher gebracht hat, als David ein leises Flüstern ausstößt und mich auf den Boden drückt. Nur einen Wimpernschlag später knien auch Juliett und Nora neben uns.
Mit angehaltenem Atem versuche ich irgendetwas in der Finsternis ausfindig zu machen, doch ich sehe nichts außer der dunklen Nacht und dem noch dunkleren Schatten der Hauswand.
Schritte, viele Schritte erklingen, nicht weit von hier und ich stoße ein leises Gebet in Richtung Himmel aus.
Mein Herz. Mein verdammtes Herz, das schon viel zu viel falsch gemacht hat, droht mir aus der Brust zu springen. Was mir mehr als Recht wäre, wenn mein Leben nicht davon abhängen würde.
„Was machen wir jetzt?“, flüstere ich und schließe für einen Moment die Augen, um meine Nerven zu beruhigen.
„Wir müssen hier weg“, erwidert Juliett schließlich. Ihre deprimierte, für Juliett untypische, Stimme versetzt mir einen Stich. Denn sie ist nur wegen mir hier. Sie ist gerade dabei, mir zu helfen, obwohl sie mich verabscheut.
„Danke, Juliett“, sage ich plötzlich und weiß trotz der Dunkelheit, dass eine Spur von Überraschung in Julietts Augen liegt. „Dafür, dass du...das alles hier mitmachst.“
Das darauf folgende Schweigen liegt schwer in der Luft, so schwer, dass ich nicht anders kann, als mich langsam wieder zu erheben, um meine Beine ein wenig auszuschütteln.
„Schon gut“, kommt es auf einmal aus Julietts Richtung. So kraftlos. Ich beiße mir nervös auf die Lippe, ohne den Blick von der Silhouette der jungen Kriminellen zu nehmen. „Ich habe das nicht für dich getan“, fügt sie kaum hörbar hinzu, doch diese scheinbar schwachen Worte sind wie ein Schlag ins Gesicht.
„Ich weiß“, erwidere ich leise. Denn natürlich weiß ich, wieso sie hier ist. Nicht, weil sie mich oder Nora so nett findet, dass sie für uns ihr Leben geben würde. Nein, sie macht das einzig und allein für ihn. Für David. Für David, der sich für mich entschieden hat. Glaube ich zumindest.
Als ich in mich hineinhorche stelle ich fest, dass da keine Wut, kein Hass oder Eifersucht ihr gegenüber ist. Einzig und allein Mitgefühl macht sich in mir breit.
„Kommt jetzt“, meint Juliett schließlich und räuspert sich, leicht beschämt über ihre emotionale Seite. Ich nicke und reihe mich hinter Nora und Louis ein, die schleichend über den Rasen des Gartens hinter Juliett her huschen. Davids warmer Atem kitzelt in meinem Nacken, was mich ein wenig besänftigt und mir die Angst nimmt, wenn ich die langen, dunklen Schatten der Bäume betrachte.
Aber diese Stille in meinem Kopf, diese kalte, leere Stille, die meine schweigende Seele in mir hinterlassen hat, die kann David nicht heilen. Er kann mir vielleicht die Angst vor meinen unheilvollen, nächtlichen Hirngespinsten nehmen, aber das hier kann er nicht.
Früher habe ich mich nicht vor der Dunkelheit gefürchtet. Im Gegenteil, ich habe mich mächtig gefühlt. Denn während jeder normale Mensch in ihr blind war, konnte ich sehen, konnte ich spüren, was um mich herum geschah. Und nun bin ich blind, sogar blinder als jeder andere, denn ich habe nie gelernt, die Dunkelheit zu respektieren, ohne in ihr zu herrschen.
Nachdem wir den Garten von Jonathans Eltern ungesehen durchquert haben, steuert Juliett auf eine kleine Seitenstraße zu, die uns in ihren finsteren Fängen verschluckt.
Und so rennen wir nun also durch die sternenlose Nacht, über kaputte, ungepflegte Straßen. Zwei Kriminelle, zwei einfache Frauen und ein kleines Kind. In der Hoffnung vor dem Grauen zu fliehen, der im selben Moment durch die Parallelstraße rennt, voller wildem Zorn. Getrieben von dem Schmerz des Verlustes seiner Frau, und dem unglaublichen Durst nach Rache.
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