Kᴀᴘɪᴛᴇʟ 1

Ich weiß, dass sie hier ist.

Ich sehe sie kaum, nur ihre Silhouette hebt sich leicht von der schwarzen Nacht ab. Sie läuft gebeugt, ihre Haltung ist niedergeschlagen und voller Trauer.

Scheinbar unbeirrt laufe ich weiter durch die Kälte, die dicke Wollmütze über die Ohren gezogen und die warmen, schwarzen Lederstiefel um meine Beine geschmiegt.

Ich werfe einen kurzen Blick auf die andere Straßenseite, wo ich, dank dem weißen Mondschein, die Frau erkennen kann.

Sie zittert. Doch nicht wegen der Kälte, wie ich. Sondern wegen dem Schmerz.

Parallel zu mir überquert sie die Kreuzung, an der schon seit Jahren die Straßenlaternen defekt sind. Aber wer kümmert sich schon darum? Ich meine, es ist schließlich nur eine kleine, englische Stadt mit ein paar tausend Einwohnern und einem inkompetenten, alkoholkranken Bürgermeister.

Meine Absätze hallen laut auf dem kaputten Asphalt wider und ich versuche das Jucken des Wollmantels in meinem Nacken zu ignorieren.

Die Frau läuft zügig weiter, im spärlichen Licht erkenne ich, dass sie nur ein dünnes Oberteil und eine durchlöcherte Jeans trägt, ihre schmalen Beine schlurfen über den Fußweg.

Ich würde das bei dieser Kälte nicht überleben, wenn ich schon im Herbst in Winterklamotten fast erfriere.

Ich versuche der hochkommenden Versuchung zu widerstehen, die mich dazu drängt, die Frau anzublicken, in ihre Seele einzudringen, alles zu sehen und zu lesen, was sie zu dem macht, was sie gerade ist. Zu einer zerstörten Frau.

Ihre Seele scheint mich anzuziehen, ihre verzweifelte Haltung erweckt unbändige Neugierde in mir.

Ich will ihr zeigen, was sie fühlt, wieso sie so fühlt. Ich will ihr zeigen, was in ihr vorgeht, was sie dazu zwingt so zu fühlen. Ich will in ihren Erinnerungen kramen, sie ihr offenbaren und ihr somit Klarheit über sich selbst verschaffen...

Meine Hände sind zu Fäusten geballt, die Anspannung bringt mich dazu wie verrückt auf meiner Lippe zu kauen.

Ganz ruhig. Ich muss nicht in ihre Seele blicken. Es ist mitten in der Nacht, die Frau fühlt sich mental zerstört und niedergeschlagen. Ich muss mich zusammenreißen.

Ein einsames Auto donnert an uns vorbei, erhellt die junge Frau kurz im gelben Licht der Scheinwerfer und lässt die dunkle Straße in Stille und Finsternis zurück. Nur die Frau und ich sind hier.

Ich darf nicht zu der Frau blicken. Ich darf nicht zu der Frau blicken. Ich...

Ich schließe kurz die Augen, um den Druck standzuhalten. Mein Herz pumpt Unmengen an Blut durch die Adern und mein Kopf dröhnt bei jedem Schlag. Bumm. Bumm. Bumm.

Es ist unerträglich.

Tief in mir streiten sich Stimmen, die ich noch nie zuvor gehört habe. Sie flüstern mir Worte zu, Anweisungen, denen ich zu folgen habe.

Widerstehe der Versuchung, du hast nicht das Recht in die Gedanken und Gefühle der Frau einzudringen!

Aber ist es nicht genau das, was meine Gabe, mir zu tun vorgibt? In die Seelen anderer zu blicken und ihnen alles zu zeigen? Ihnen zu zeigen, wer sie wirklich sind?

Ich weiß es nicht.

Ich weiß nur, dass ich diesem Druck nicht standhalten kann, dieser Versuchung nicht widerstehen kann.

Ich stoße die Luft aus meinen Lungen und drehe mich ruckartig zu der Frau. Sie bleibt stehen.

Stille. Unsere Schritte sind verklungen und wir stehen einfach nur da, blicken in die Finsternis, blicken in die Richtung, wo wir die dunkle Silhouette des anderen erkennen können.

Es ist kalt.

Ich weiß, dass die Frau zittert. Ich spüre es.

Ich muss es jetzt tun. Wieso kann ich nicht von ihrer Seele ablassen? Wieso kann ich jetzt nicht einfach nach Hause gehen und schlafen? Ich bin totmüde...und doch kann ich nicht fortgehen, bevor ich nicht die Wahrheit, die Geschichte der Frau erfahren habe.

„Lauf!", will meine innere Stimme ihr entgegenrufen. „Lauf, solange ich dich noch nicht zerstört habe!" Diese Stimme will die Frau schützen, sie will sie vor sich selbst bewahren, ihr die Wahrheit ersparen.

Doch sie rennt nicht weg von mir. Sie hat schließlich keine Ahnung, dass sie gleich von ihren eigenen Gefühlen und Erinnerungen überwältigt wird, dass sie gleich Dinge über sich erfahren wird, die sie zu vergessen versucht hat. Ja, sie hat keine Ahnung, wozu ich im Stande bin.

Und deshalb bleibt sie stehen, betrachtet mich von der anderen Straßenseite aus, still und mit verquollenen Augen.

Ich will wegrennen und ihr all das ersparen, doch etwas hält mich fest. Ein unzertrennbares Band zieht mich zu ihr und zwingt mich zu bleiben. Mit Willenskraft und Disziplin könnte ich mich vielleicht von ihr entfernen und sie vor mir schützen, doch ich habe es bereits aufgegeben.

Denn Widerstand bringt nichts. Ich bin nicht stark genug, um meiner Seele standzuhalten. Meiner grausamen, dunklen Seele, die wie ein durch jeden Winkel meines Körpers strömt. Sie erfüllt mich und ist immer präsent, egal, wo ich mich befinde oder, wie ich mich gerade fühle. Sie ist immer da, wie ein dichter Schleier umhüllt sie mich.

Ich hasse meine Seele. Ich hasse, hasse, hasse sie. Und doch kann ich nicht ohne sie, denn sie ist alles, was meine klägliche Existenz ausmacht. Sie erfüllt mich mit einer Sehnsucht, schenkt mir eine Aufgabe, die es zu erfüllen gilt. Das Seelenlesen. Ich hasse es, und doch zwingt mich die Gier jedes Mal dazu, eine Seele zu zerbrechen. Mit der grausamen Wahrheit.

Einen Moment spüre ich Stärke in mir. Mein Gewissen fordert mich dazu auf, umzukehren und die bereits gebrochene Frau ziehen zu lassen. Doch ich ziehe diesen Gedanken nur für einen Bruchteil einer Sekunde in Erwägung, dann verraucht er und lässt einzig und allein meine dominierende Seele zurück.

Ich kann nicht anders.

Meine Seele stürzt sich auf ihre, durchströmt sie. Meine Augen bohren sich in ihre, saugen aus ihr jede Erinnerung, jedes Gefühl. Ich entdecke Bilder in ihrem Kopf. Sie sind schnell, wie ein Film, der das ganze Leben abspielt, jeden Moment perfekt kopiert, als wäre er echt. Ich will, dass die Frau jedes ihrer alten Geheimnisse, jede einzelne Erinnerung wieder im Kopf hat, als wäre sie gestern gewesen. Ich konfrontiere sie mit sich selber, ich zeige ihr ihr wahres Ich.

Ich zeige ihr die Wahrheit.

Meine Seele fühlt sich befreit, erlöst von der Sehnsucht, die in ihr aufgekommt, wenn sie eine andere Seele betrachtet. Ich spüre, wie die Last leichter wird, wie sich mein Herzschlag langsam wieder beruhigt.

Die Frau blickt mich an. Fassungslos. Ich sehe es nicht, doch ich weiß es, denn ihre Seele ist von Schock erfüllt. In ihr kommt Trauer hoch, unglaubliche Trauer, die ihr die Luft zum Atmen nimmt. Schmerz flammt in ihren Adern auf, ihre Brust schnürt sich zu. Die Wucht der Erinnerungen schlägt auf sie ein. Es ist zu viel für einen zerbrochenen Menschen. So viel kann sie nicht tragen, das weiß ich.

Ein Schluchzer ertönt. Sie weint.

Wegen mir.

„Was ...", ertönt es aus ihrer Richtung, zittrig und schwach. Ich stehe still da und lausche ausdruckslos ihren Schluchzern. „W...was hast du getan?", flüstert sie erneut, der Hass ist nicht zu überhören.

Ich weiß, was ich getan habe. Doch sie wird es nicht verstehen, niemand kann das. Denn niemand weiß, wie es ist jemanden verletzen zu müssen. Jeden. Verdammten. Tag. Niemand weiß, wie schwer es ist, sich selbst kontrollieren zu müssen, um nichts Falsches zu tun.

Deshalb schweige ich, lasse diese Frage in Stille verklingen.

Es hat sowieso keinen Sinn.

Fühle ich mich schlecht? Fühle ich mich schuldig, weil ich die bereits trauernde Frau noch tiefer gezogen habe...?

Ich weiß es nicht.

Vielleicht spüre ich tief in mir Hass, Hass mir selbst gegenüber, denn ich bin ein Monster, oder?

Aber ich habe mich daran gewöhnt. Ich habe akzeptiert anders zu sein, andere zu verstehen, denn das scheint meine Aufgabe zu sein. Ich habe aufgehört mich gegen mich selbst aufzulehnen und den Hass anderer zu beachten.

Es klingt seltsam, doch ich habe mich daran gewöhnt, andere zu verletzen.

Die Frau beginnt zu rennen, ihre Schritte lassen den Boden erzittern und dröhnen in meinem Kopf wie Hammerschläge. Mein Atem ist gleichmäßig und ich starre in die Dunkelheit. Ausdruckslos blende ich das leise Weinen und die Schritte der Frau aus, um zur Ruhe zu kommen.

Dann ist sie fort.

Und ich bin alleine, alleine in der finsteren Stille, die mir vor Augen bringt, wer ich bin. Und mir zeigt, wozu ich verdammt bin.

Ich habe mich verändert. Das spüre ich mit jedem Atemzug, mit jedem Blick auf eine Seele, die ich belehren will. Ja, es ist schwerer geworden, ich bin unberechenbar geworden. Meine Seele ist voller Sehnsucht und Begierde darauf, andere zu lesen und zu verstehen, ihnen alles zu zeigen, ihnen alles zu verraten. Früher war es leichter für mich, mich zusammenreißen, mich selber zu zwingen, die andere Seele in Ruhe zu lassen. Doch seit einiger Zeit kann ich nicht mehr anders. Ich muss in die Seelen blicken. Ich...

Ich starre in die Dunkelheit, meine Hände zittern leicht, denn die herbstliche Kälte nagt an meinem Körper. Ich schlinge den Mantel noch fester um mich, ziehe mir die Mütze über die Ohren und vergrabe meine Hände tief in den Manteltaschen.

Die Straße ist leer, niemand außer mir ist um diese Uhrzeit noch draußen, da morgen ein gewöhnlicher Arbeitstag ist.

Doch ich kümmere mich nicht. Meine dunklen Augen starren in die Leere, in die unendlich dunkle Nacht. Und vor meinen Augen formt sich ein Satz.

Ich habe die Kontrolle über mich selbst verloren.

***

Ich öffne vorsichtig die schwere Haustür, von der bereits die rote Farbe abblättert. Ich habe schon lange mit dem Gedanken gespielt, sie blau zu streichen, doch mein Vermieter hat nicht den gleichen Geschmack wie ich, was er mir mehr als deutlich gemacht hat. Auch Nora hat mich bei ihrem letzten Besuch bei mir darauf angesprochen. Ich denke an ihre kritischen dunklen Augen, als sie gemeint hat, dass dieser Rotton ziemlich geschmacklos sei.

Doch gerade habe ich nicht die Nerven, über die Farbe der Tür nachzudenken. Meine Gedanken schweifen umher, stets denke ich an den Blick der Frau. Sie konnte nicht glauben, dass ich ihr so etwas antun konnte.

Sie hasst mich.

Auch, wenn ich mir schon oft versucht habe einzureden, dass mich die Menschen nicht wirklich hassen, weiß ich es. Natürlich hassen die mich. Denn ich hinterlasse Narben, Narben, die vielleicht nie verheilen werden.

Gedankenverloren öffne ich die Tür und betrete meine winzige Wohnung, die ich mir gerade noch mit meinem Kellnerjob leisten kann.

Ich entledige mich meiner Schuhe, die ich ordentlich in den schmalen Korridor neben meine Hausschlappen stelle. Erschöpft und achtlos werfe ich meine Winterkleidung auf einen Stuhl und gehe schnurstracks in mein kleines Badezimmer.

Die kalten Fliesen lassen mich zusammenzucken, als ich den Raum betrete. Ich tapse zum Waschbecken und wasche mein kühles Gesicht mit lauwarmem Wasser.

Das tut gut.

Ich seufze auf und genieße die wohltuende Flüssigkeit auf meiner trockenen Haut, die inzwischen schon zu meinem abendlichen Ritual gehört.

Es versetzt mir einen Stich in der Brust.

„Jeden Abend musst du das machen, hörst du, Eileen? Damit du auch immer fleißig dein Gesicht wäscht", ertönt die Stimme meiner Adoptivmutter in meiner Erinnerung. „Die Haut trocknet sonst aus, wenn du das nicht machst."

Dabei hat sie mich stets angelächelt und man konnte ihre Wangengrübchen erkennen. Ich mochte dieses Lächeln von ihr. Es ließ sie immer so ... gesund wirken. So gesund, als wäre sie es wirklich. Auch Nora hat sie immer ermahnt, abends ihr Gesicht zu waschen, doch sie hat nie darauf gehört und ist lieber breit grinsend und voller Dreck im Gesicht schlafen gegangen. Sie war schon immer wild und unabhängig, während ich still das getan habe, was mir gesagt wurde.

Ich konnte schon damals die Seelen anderer lesen, doch meine Gabe war im Vergleich zu heute fast unbemerkbar und ich habe sie selten angewendet.

Nora redet selten über unsere Adoptivmutter. Sie erinnert sich nicht gerne an vergangene Dinge, an Tragödien, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Doch ich versinke jeden Tag in den Erinnerungen. Ich kann nicht aufhören an sie zu denken, an meinen Verlust zu denken. Ich weine schon lange nicht mehr, doch die unterdrückten Tränen nehmen mir täglich die Luft zum Atmen und bilden einen Knoten in meinem Bauch.

Es ist nun schon drei Jahre her...

seit sie gestorben ist.

Ich habe es von Anfang gewusst. Schon als die Ärzte ihr mitgeteilt hatten, dass ihre Krankheit schwer zu heilen war, habe ich gewusst, dass sie sterben würde. Ich weiß noch, wie Nora an dem Tag kraftlos nach Hause gekommen ist, sich neben mich auf das Sofa geworfen und geschwiegen hat. Ich war damals sechzehn und landete nur deshalb nicht im Waisenhaus, weil Nora mit zwanzig Jahren meine Erziehungsberechtigte geworden war.

Ja, ich wäre fast zum zweiten Mal im Waisenhaus gelandet, denn erst, als ich vier Jahre alt war, wurden Nora und ich von unserer Adoptivmutter adoptiert. Meine leibliche Mutter habe ich nie kennengelernt, doch ich nehme an, dass sie bereits verstorben ist.

Und jetzt, nachdem ich zwei Mütter verloren habe, sind Nora und ich auf uns alleine gestellt. Wir müssen nun weiterleben...irgendwie.

Ich blicke in den runden Spiegel über dem Waschbecken und bohre meine grauen Augen in die meines Spiegelbildes. Meine dunkelblonden, schulterlangen Haare liegen an meinem kantigen Gesicht. Ich spüre wie eine Träne an meiner Wange hinab läuft und ein gequältes Lächeln erscheint auf meinen aufgesprungenen Lippen.

Wie gerne hätte ich meiner Adoptivmutter alles anvertraut. Wie gerne würde ich ihr jetzt alles erzählen, was mich bedrückt, ihr mein Herz ausschütten, ihr verraten, was meine Seele mit mir macht...

Aber ich habe es nie getan, als sie noch am Leben war. Ich habe niemandem außer meiner Schwester Nora von meiner Gabe, nenn es Fluch, erzählt. Nur sie weiß, dass ich jeden Tag verletzen muss, obwohl ich es nicht will. Doch nicht einmal sie wird jemals verstehen, was in mir vorgeht, wie schwer es wirklich ist.

Niemand kann das.

Ich beisse auf meine Unterlippe, um weitere Tränen zu unterdrücken. Ich sollte für immer alleine bleiben. Dann könnte ich niemanden verletzen, niemanden zerbrechen...

Aber ich würde zerbrechen...

Meine Finger schmerzen, da sie sich zu fest am Waschbecken festgekrallt haben, weshalb ich den Griff lockere und mich noch ein letztes Mal im Spiegel mustere.

Ich sehe müde und motivationslos aus, genauso wie ich mich fühle.

Ich versuche nicht an die Frau zu denken und mich nicht zu fragen, wo sie gerade ist. Es ändert sowieso nichts mehr. Ich habe sie bereits kaputt gemacht.

Ich schließe die Augen und atme tief durch, während ich langsam das Badezimmer verlasse. Die Müdigkeit scheint gegen die Frustration zu gewinnen, denn kurz darauf habe ich meine Kleidung auf den Stuhl geschmissen und mich in mein altes, klappriges Bett gelegt.

Ich habe nicht mehr viel Zeit zum Schlafen, da ich morgen schon um sieben Uhr in dem kleinen Café um die Ecke sein muss, um zu arbeiten. Ohne einen Blick auf die Uhr zu wagen, rücke ich mein Kissen zurecht und schließe erschöpft die Augen.

***

„Eileen! Hör auf zu träumen!", ertönt Kylas Stimme dicht hinter mir und ich fahre erschrocken herum.

Ein Klirren.

Mist.

Kylas Augen starren mich wütend an, während sie auf die Scherben einer gelben Kaffetasse auf dem Boden deutet.

„Das", zischt sie, „erklärst du dem Chef!"

Ich nicke entschuldigend, zu müde, um etwas dagegen einzuwenden und bücke mich, damit ich die Scherben aufsammeln kann. Mein kleiner Finger beginnt leicht zu bluten, als ich mich an einer winzigen Scherbe schneide.

Ich seufze genervt auf und erhebe mich auf der Suche nach einem Pflaster. Kyla würdigt meine Wunde keines Blickes, sondern faucht mich an, ich solle die Scherben jetzt fertig aufheben.

Ich werfe ihr einen wütenden Blick zu und drücke ein Küchentuch auf meinen Schnitt, um das Blut zu stoppen.

„Wo bist du auch immer mit deinen Gedanken?", will Kyla wissen, während sie einen neuen Kaffee zubereitet und mich schräg anblickt.

„Du solltest dich echt besser konzentrieren, sonst explodiert noch das ganze Café!", wirft sie mir vor, als ich nur mit den Schultern zucke.

„Du musst mich ja nicht so erschrecken", murmele ich, wissend, dass sie eigentlich nichts dafür kann.

Kyla schnaubt und stellt den fertigen Kaffe auf ein Tablett, um ihn einem Kunden zu servieren. Obwohl sie wütend auf mich ist, kramt sie aus ihrer Tasche ein Pflaster heraus und wirft es mir zu.

„Danke, Kyla", sage ich und lächele ehrlich, während ich mir meine Wunde überklebe.

„Bilde dir bloß nicht ein, ich hätte dir verziehen!", erwidert sie gespielt beleidigt, doch ich kann ein kleines Lächeln auf ihren Lippen erkennen.

Bei Kyla und meinen anderen Kollegen lese ich nicht die Seelen. Das würde bloß dazu führen, dass ich ich gefeuert werden würde. Es ist schwer, doch mit viel Willenskraft schaffe ich es, meine Seele von meinen Kollegen und Nora fernzuhalten. Natürlich weiß niemand dessen Seele ich lese, dass dies meine Gabe ist, doch sie merken, dass sie, wenn sie mich ansehen, von Erinnerungen überschwemmt werden. Deswegen meiden mich die Menschen.

Ich spüre den Druck in mir. Meine Seele will wieder sehen, zeigen und fühlen. Ich versuche den Drang zu unterdrücken, wobei ich wie verrückt auf meiner Unterlippe kaue.

Es ist so schwer. Wieso ist es so verdammt schwer geworden meine Seele unter Kontrolle zu haben?

Ich weiß, dass Kyla mir ansieht, wie nervös ich gerade bin, denn ich spüre ihre seltsamen Blicke den ganzen Tag auf mir.

Ich schiebe es gekonnt auf die Müdigkeit.

„Was ist los mit dir, Eileen?", fragt Kyla schließlich und verschränkt die Arme vor der Brust, während ich überall hinschaue, bloß nicht in ihre Augen.

„Es ist nichts."

„Meinst du ich sehe nicht, wie nervös du bist?" Kyla lacht spöttisch und tippt sich gegen die Stirn.

„Jetzt mal im Ernst."

Ich lache gespielt, doch Kyla scheint es mir abzukaufen, denn ihre Schultern entspannen sich ein wenig.

„Es ist nichts. Wirklich. Ich bin bloß müde", lüge ich und gähne betont.

Was soll ich auch sonst tun? Soll ich ihr erzählen, wie meine Seele nach ihrer greifen will, während ich versuche alles mögliche zu tun, um das zu verhindern? Soll ich ihr erzählen, wie gefährlich es für sie ist, sich so nah bei mir aufzuhalten, vor allem jetzt, wo es schwieriger geworden ist?

Kyla mustert mich noch ein paar Sekunden prüfend, wobei ich künstlich grinse.

Dann dreht sie sich wieder zu ihrem Latte Machiato, in den sie gerade schäumige Milch schüttet und anschließend auf ein Tablett stellt. Sie reicht es mir und deutet auf die hintere Sitzecke am Fenster.

„Bring das zu Tisch 6."

Ich nicke und stelle noch den Käsekuchen für Tisch 3 auf das runde Tablett. Vorsichtig balanciere ich es durch die Reihen, meine Seele schreit sehnsüchtig in meinem Kopf. Sie will den Menschen die Wahrheit zeigen.

Nein, nicht hier!

Meine Hand zittert ein wenig, doch ich laufe unbeirrt weiter.

Ich reiche dem älteren Herrn im dunklen Jacket seinen Latte Machiato und gehe weiter zu dem jungen Paar, das sich den Käsekuchen teilen wird.

Lächelnd stelle ich vor ihnen den Teller ab und wünsche ihnen einen guten Appetit, woraufhin ich zurück zur Theke laufe.

Heute scheint viel los zu sein, denn eine große Gruppe von Menschen drängelt sich lachend in das kleine Café und Kyla nickt mir zu. Ich seufze und mache mich auf den Weg zu den neuen Kunden, um ihre Bestellungen anzunehmen.

„Hallo! Was kann ich für euch tun?", begrüße ich die Gruppe lächelnd, nachdem sie sich um einen langen Tisch gesetzt hat.

„Himbeerkuchen!", ruft eine junge Frau von weit hinten und ich beginne hektisch zu schreiben.

Dring in ihre Seelen ein! Belehre sie! Zeig ihnen alles! Zeig ihnen die Wahrheit...

Ich darf nicht! Ich muss mich zusammenreißen. Ich muss...

Meine Hände zittern, ich spüre die Panik in mir hochkommen, während die Stimme in meinem Kopf immer lauter wird. Meine Seele flüstert. Und ich schweige.

Vor meinen Augen verschwimmt alles, ich kralle mich an der Tischdecke fest.

Tu es.

Ich kann nicht.

Meine zittrigen Finger lassen den Kugelschreiber fallen, der natürlich bei meinem Glück unter den Tisch rollt. Ich werde rot und murmele eine Entschuldigung, doch die Kunden scheinen nicht zu merken, wie unwohl ich mich fühle. Ein junger Mann reicht mir grinsend den Kugelschreiber.

„Müde vom Arbeitstag?", fragt er lächelnd, während mich seine blauen Augen voller Mitleid anblicken. Ich nicke und schreibe hastig die bereits aufgegebenen Bestellungen auf meinen kleinen Block.

„Und jetzt bist du also auch noch zu müde den Stift zu halten?", will Kyla skeptisch wissen, als ich wieder bei ihr bin, woraufhin ich grinsen muss. Sie scheint wohl jeden kleinsten Fehler zu bemerken.

„Ja, ich bin zu müde. Tut mir ja echt leid, aber...", setze ich an, doch verstumme als ich Nora durch die Tür treten sehe. Ihre hellbraunen Haare sind zu einem Dutt hochgesteckt und ihr Gesicht strahlt. Als sie mich entdeckt winkt sie und grinst noch breiter.

„Ich bin gleich wieder da, Kyla, ok?", sage ich an Kyla gerichtet und schaue sie flehend an. Sie stöhnt genervt, nickt aber letztendlich, sodass ich Nora zurückwinke.

„Eileen!", haucht Nora, ihre braunen Augen strahlen voller Glück.

Wieso ist sie denn so gut gelaunt? Hat sie im Lotto gewonnen? Doch egal was es ist, es zaubert mir ebenfalls ein Lächeln auf die Lippen. Ich drücke sie an mich und verharre einen Moment in unserer Umarmung. Sie ist alles, was ich noch habe. Und auch, wenn ich niemals wieder so glücklich sein kann, wie ich es vor dem Tod meiner Adoptivmutter war, liebe ich den Gedanken, dass Nora wieder glücklich ist. Sie hat einen Freund, einen Sohn und mich. Ja, sie ist glücklich und das ist alles, was ich will.

„Wie geht es dir, Nora?", flüstere ich in ihre Haare, ich spüre wie aufgeregt und fröhlich sie ist.

„Du glaubst nicht, was passiert ist!"

Sie löst sich aus unserer Umarmung und fasst mich bei den Schultern.

„Ich...er...ich habe ihm einen Heiratsantrag gemacht!"

Ihre Augen blicken in meine, erwartungsvoll.

Überrascht reiße ich meine Augen auf.

„Du hast WAS?", frage ich ungläubig und mit einem breiten Lächeln. Meine Schwester heiratet!?

„Ja", sagt Nora leise, in ihren Augen bilden sich Freudentränen und auch ich spüre etwas feuchtes in meinen Augenwinkeln. „Ich habe ihm einen Heiratsantrag gemacht", wiederholt sie, eher zu sich selbst, als könnte sie es noch nicht realisieren.

Erwartungsvoll blicke ich sie an, meine Augen sind riesig und warten begierig auf eine Antwort. „Und?", frage ich atemlos.

„Er hat 'ja' gesagt. Und mich geküsst."

Ich lache und drücke Nora an mich. Ein paar Cafégäste blicken mich seltsam an und ich entdecke Kyla hinter dem Tresen, die ein Lachen unterdrückt. Doch es ist mir egal. Ich meine...meine Schwester heiratet!

„Nora...ich weiß nicht was ich sagen soll...es...ich freue mich so für euch", flüstere ich und versuche die Tränen zu unterdrücken.

Wieso werde ich so verdammt emotional?

Ich stelle mir vor, wie Nora in einem weißen, wunderschönen Brautkleid zum Altar schreitet und wie Jonathan sie anblickt. Es ist unbeschreiblich.

Nora blickt mich nach einer Weile prüfend an und ich merke, wie sie ein wenig bedrückter wird.

Oh nein...sie darf nicht bemerkt haben, wie nervös ich bin.

„Ist alles in Ordnung bei dir?", fragt sie besorgt und streichelt meine Schulter. Ich spüre, wie ihr Blick mich durchbohrt und alles in mir liest, als könnte sie ebenfalls Seelen lesen. Sie weiß, was mich bedrückt, dafür kennt sie mich zu gut.

Ich nicke, in der Hoffnung, sie würde wieder anfangen zu strahlen und mir von ihren Hochzeitsplänen erzählen, doch ihr Blick bleibt ernst.

„Du hast riesige Augenringe, Eileen", stellt sie fest, so ernst, als wäre sie meine Mutter.

Ich rolle mit den Augen und zwinge mir ein Lächeln auf.

„Es ist nichts. Du bist heute schon die zweite, die die ganze Zeit fragt, ob alles in Ordnung ist", erwidere ich und deute auf Kyla, die gerade Geschirr spült.

„Nora, du bist jetzt VERLOBT!", lenke ich geschickt vom Thema ab und klatsche aufgeregt in die Hände.

„Ich weiß schon, was es unbedingt zum Essen geben muss", beginne ich euphorisch. „Und die Trauung könnte im Rosenschloss stattfinden, wir könnten Tische im Park aufbauen und dein Blumenstrauß könnte..."

„Eileen." Noras Augen blicken mich ernst an, während sie meinen Arm nimmt und mich Richtung Ausgang schiebt. Ich protestiere, doch sie hört nicht auf.

Ich werfe Kyla noch einen entschuldigenden Blick zu, ehe ich von Nora aus dem Café gezogen werde.

„Hey! Ich muss noch arbeiten!", beschwere ich mich, doch Nora schüttelt den Kopf.

„Ich meine es ernst, Eileen! Erzähl mir bitte, was los ist", beharrt sie und schaut mich auffordernd an. Nervös betrachte ich meine Fingernägel. Ich will ihr nicht den Tag ihrer Verlobung ruinieren.

„Ist es wegen deiner Seele?", fragt Nora, bevor ich antworten kann und mir bleibt nichts anderes übrig als leicht zu nicken.

Eine Sorgenfalte entsteht auf ihrer Stirn und mein Gewissen beginnt mich zu kritisieren.

Ich hätte ihr nie davon erzählen dürfen. Sie macht sich unnötig Sorgen um mich.

Doch so sehr mein Kopf mir auch davon abrät, ihr alles zu erzählen, sehne ich mich danach, jemandem mein Herz auszuschütten. Und wem, wenn nicht meiner Schwester?

„Es ist schwerer geworden", gebe ich kleinlaut zu und Nora atmet tief durch. Sie flucht leise.

Meine Seele reckt sich nach ihr, versucht nach Nora zu greifen, doch das lasse ich nicht zu. Das würde ich niemals zulassen. Niemals.

„Seit wann ist das so?"

„Ich weiß es nicht." Ich kaue auf meiner Lippe. „Gestern...da..." Ich verstumme, als ich mich wieder an die Frau erinnere.

„Was war gestern?", fragt Nora leise und drängend, während sie ihre Augenbraue fragend hebt.

„Da..." Ich schließe kurz die Augen. „Gestern bin ich nach der Spätschicht nach Hause gelaufen und da...da war eine Frau. Ich bin in ihre Seele eingedrungen, aber es war anders. Es war..." Ich suche nach den richtigen Worten. „...Es war halt schwieriger mich zusammenzureißen, ich konnte nicht anders als ihr die Wahrheit zu zeigen."

Ich verstumme und blicke auf den Boden, nicht bereit Noras Gesichtsausdruck zu erblicken.

Wir schweigen.

Unaufhörlich kaue ich auf meiner Unterlippe bis ich das eiserne Blut auf meiner Zunge schmecke.

„Wann hast du Feierabend?", durchbricht Nora schließlich die Stille und ich blicke hoch, dankbar für den Themawechsel.

„In einer Stunde."

„In Ordnung. Du kommst wie geplant über das Wochenende zu uns, oder?"

Ich nicke.

Nora lächelt. Doch ich kenne sie gut genug, um zu erkennen, dass das Lächeln nicht die Augen erreicht.

Ich habe ihr den Tag kaputt gemacht...

„Gut, dann hole ich dich Freitag Nachmittag bei dir ab", beschließt Nora und umarmt mich. Ich halte sie fest, am liebsten noch viel länger, doch sie löst sich von mir.

„Mach's gut, Eileen", sagt sie, ich sehe, wie bedrückt sie ist. „Pass auf dich auf."

Sie wirft mir noch ein Lächeln zu und steigt anschließend in den gerade haltenden Bus ein.

Ich fröstele, denn erst jetzt scheine ich die herbstliche Kälte zu bemerken. Hastig betrete ich wieder das Café, um wieder in die Wärme zu gelangen. Erleichtert seufze ich auf und erhalte damit einen fragenden Blick von Kyla.

Ich winke ab und beginne Bestellungen aufzuschreiben.

Doch ich bin nicht mehr bei der Sache. Alles, woran ich denken kann, ist meine flüsternde Seele, Noras seltsamer Gesichtsausdruck.

Und die Frage der Frau, die ich gestern gebrochen habe.

„Was hast du nur getan?"

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