▸ 16. Sie hat damit nichts zu tun!

Nach einer weiteren undefinierbaren Weile war das Licht erneut erloschen und ich habe mich auf der Liege zusammengekauert. Mir ist übel, ich habe Hunger und Kopfschmerzen und die ganze Zeit weht der Geruch von Blut umher, obwohl ich meine Hände gewaschen habe. Trotzdem klebt es an der verfluchten fucking Glasscheibe. Irgendwann habe ich angefangen zu zählen. Bei sechshundert-irgendwas habe ich allerdings aufgehört. Ich werde noch wahnsinnig. So richtig heftig wahnsinnig, haha.

Diesmal erschrecke ich mich nicht so sehr, als sich das Licht anschaltet. Ich blinzele, bis das Weiß einigermaßen erträglich ist (setzen wir das >erträglich< in sehr fette Anführungszeichen), und erhebe mich. Sieh mal einer an. Lysander besucht seine Gefangenen erneut. Im Gegensatz zu vorhin wird er von zwei mir fremden Personen begleitet, die allerdings ähnlich wie er gekleidet sind. Verbittert wische ich mir über das Gesicht und hoffe, dass man mir nicht allzu sehr ansieht, wie sehr ich geweint habe.

Wie ein Tier warte ich und beobachte. Die kleine Gruppe schreitet zu der Zelle links neben mir. Dort, wo Kelian sein soll. Es sticht in meinem Herzen, wenn ich daran denke, wie Unrecht ich ihm getan habe. Im Nachhinein hätte ich vorher skeptisch sein müssen. 21 war so aufdringlich, wollte das Thema so klein wie möglich halten und bloß niemanden informieren. Außerdem hat sie meinen Körper ungefragt übernommen. Das hätte sie nicht getan, wenn sie eine echte Freundin gewesen wäre.

Lysander gibt eine PIN in das Tastenfeld bei Kelian ein und nach ein paar Sekunden eine weitere. Neugierig beuge ich mich vor, erwarte, dass Kelian hinausstürmt und sie mit seiner auffälligen Kraft zu Boden bringt. Aber natürlich geschieht das nicht. Einer der anderen Männer betritt die Zelle und zu meiner Überraschung schubst er den Forscher vor sich her, der wie betrunken herumtorkelt und versucht, sich irgendwo festzuhalten. Der Zustand erinnert mich an vorhin, als ich betäubt wurde.

Es muss sich um dieselbe Chemikalie handeln. Was hat 21 nochmal darüber gesagt? Dieses Gift bereitet auf eine Seelenextraktion vor. Extraktion wie in extrahieren wie in… trennen. Scheiße, diese Wahnsinnigen wollen Kelians Seele in ein Pneuma sperren. Ich will auf das Glas einschlagen, aber das bringt ja doch nichts. Mir bleibt nichts anderes übrig als fassungslos und verzweifelt zuzuschauen, wie die drei den Zellenkomplex verlassen.

Fröhlich surren die Neonröhren, während die Panik allmählich größer wird. Wenn Kelians Seele weggesperrt ist, kann er nichts verraten, diese korrupten Wissenschaftler haben ihn perfekt unter Kontrolle. Für sein Fachwissen können sie ihm dann einfach den Körper zurückgeben, ausfragen, und wieder handlungsunfähig machen. Wahrscheinlich haben sie mit mir dasselbe vor. Und mit Devika. Das darf nicht sein.

Ein paar Minuten vergehen, bis der Trupp nochmal zurückkehrt. Diesmal wenden sie sich Devika zu. Mein Atem stockt. Lysander geht genauso vor wie bei Kelian. Erste PIN. Warten. Zweite PIN. Jetzt müsste das Glas hochfahren. Ein Gehilfe betritt die Zelle, ich höre auf zu atmen. Mein Herz pocht laut und durchdringend. Nach einer gefühlten Ewigkeit kann ich sie sehen. Devika. Komplett benommen, die Handgelenke mit weißem Tape hinter dem Rücken zusammengeklebt. Ein dunkler Bluterguss in ihrem Gesicht. Oh, Gott.

Sie ist so durcheinander, dass sie mich nicht bemerkt, während sie abgeführt wird. Meine Gedanken wirbeln so heftig durcheinander, dass ich nicht weiß, was sie bedeuten, was sie sagen, was in mir vorgeht. Es wiederholt sich bloß dasselbe die ganze Zeit über. Das hätte nicht passieren dürfen. Das hätte es einfach nicht und es hätte sich verhindern lassen können. Ich hätte direkt mit der Polizei sprechen sollen. Ich hätte mich nicht so sehr von 21 manipulieren lassen sollen. Hätte, hätte, Gartenschere. Oder wie auch immer das Sprichwort geht.

Mittlerweile fühle ich mich so richtig wie das Lamm vor der Schlachtbank. Wenn ich deprimiert bin, habe ich es so mit Redewendungen, das war meinen Freunden bereits ein Dorn im Auge. Was gebe ich da eigentlich gerade für eine Scheiße von mir? Ein Lachen entweicht mir, kein fröhliches, sondern ein heiseres, verzweifeltes, beinahe hysterisches. Ich bin zur Figur eines Horrorfilms geworden, so wie ich es bei Betreten des Kellers erwartet, aber mir nicht gewünscht habe.

Keine Ahnung, ob man endlich oder leider sagen sollte, auf jeden Fall öffnet sich die Stahltür erneut. Die drei Musketiere sind zurück. Wie haben 21 und Lysander es überhaupt geschafft, andere auf ihre Seite zu ziehen? Was die beiden tun, ist in jeglicher Hinsicht falsch. Moralisch und ethisch und so. Ehrlich gesagt weiß ich es nicht, ich habe bei solchen Themen nie im Unterricht aufgepasst.

Lysander hebt die Hand, um etwas auf dem Tastenfeld einzugeben. Eine PIN – Aber Moment. Er hat sie bereits bei Kelian und Devika eingetippt, das bedeutet, dass es bei ersterem nicht ein zweiter Versuch war, weil er versehentlich eine falsche Zahl gewählt hat. Es war pure Absicht und dafür braucht es einen Grund… Die Chemikalie.

Ich höre bereits das leise Zischen der Düsen, als ich nach Luft schnappe und sie so unauffällig wie möglich anhalte. Noch nie habe ich zuvor auf etwas so sehr gehofft wie gerade darauf, dass es genügt, das Gas nicht einzuhalten. Ich sehe mich nach dem Geräusch um – Tatsächlich. In den vorderen Zimmerecken kann ich zwei graue Punkte ausmachen, das muss es sein. Obwohl ich möglichst keinen einzigen Atemzug tue, kann ich nicht verhindern, dass mir etwas schummerig wird.

Damit ich den Wissenschaftler nicht zu verdächtig aussehe, beginne ich zu schwanken, falle dramatisch gegen die Scheibe – mein Theaterlehrer wäre stolz auf mich – und halte mir den Kopf. Kinoreife Darbietung, würde ich sagen. Allerdings drückt allmählich meine Lunge, lange halte ich nicht mehr durch. Wer hätte gedacht, dass meine Schwimmlehrerin Recht behalten würde, als sie sagt, dass wir üben sollen, die Luft anzuhalten. Mit dieser Situation haben wir aber beide nicht gerechnet.

Ein ähnliches Geräusch wie das Zischen ertönt – Die Luft in der Zelle wird wieder gereinigt. Dauert ganz schön lange. Bitte nicht noch länger, es tut echt weh. Einen Moment, bevor ich bereit bin, nachzugeben, spüre ich das Glas an meiner Seite sich bewegen. Ich könnte jubeln, aber ich sinke meiner Rolle gerecht zu Boden, erlaube mir wieder zu atmen. Leichte Kopfschmerzen machen es mir einfacher, so zu tun als wäre ich vollständig betäubt. Ist Kelian nicht auf diese Idee gekommen? Er hätte doch von dem Gas wissen müssen – Oder war er so überrascht?

Grob packt mich einer dieser fremden Männer am Oberarm und zieht mich mit sich. Normalerweise würde ich mir das alles andere als gefallen lassen. Einen könnte ich ausschalten, denke ich, aber sie sind zu dritt, also muss ich auf eine passendere Gelegenheit warten. Widerwillig lasse ich mich mitschleppen, unterdrücke den Impuls, dem Typen so richtig eine reinzuhauen. Sie unterhalten sich nicht, laufen in unangenehmem Schweigen.

Immerhin bin ich endlich hinter dieser dummen Stahltür. Kurz wäge ich ab, ob es schlau wäre, mich loszureißen und wegzurennen, aber der Bereich müsste noch immer abgesperrt sein. Ich brauche Kelians Hilfe, um hier rauszukommen, und der ist benebelt wie sonst was. Die Chancen stehen super. Mir bleibt nichts anderes übrig als mich in einen Laborraum führen zu lassen. Genauso unsanft wie ich auf die Beine gezogen wurde, stößt mich der Typ auf eine Art Sessel. Neben mir sind Kelian und Devika, ihre Augen sind geschlossen.

Vorsichtshalber lasse ich meine Augenlider ebenfalls flattern. Der Raum hat zwei Türen, durch eine haben wir ihn betreten, hinter der anderen liegt abgetrennt durch eine Glaswand ein leeres Zimmer. Mehrere Tische und Schränke reihen sich an den Wänden an. 21 hat die Haare hochgebunden und steht an einem Computer. Ist das Devikas Programm? Ich beiße mir in die Wange.

»Gut, mit wem wollen wir anfangen?«, fragt 21, wobei sie allerdings nach wie vor auf den Bildschirm fixiert ist. Meine Hände kribbeln. Ich muss einen Weg finden, die vier außer Gefecht zu setzen.
»Jenson«, schlägt Lysander vor, »Er hat uns schließlich den ganzen Ärger eingebracht.«
21 nickt knapp und wendet sich um. Rasch schließe ich meine Augen, fühle mich dadurch absolut wehrlos und verloren.

Ihre festen Schritte klacken auf dem weißen Boden genauso wie die der anderen. Ich kann nur erahnen, was geschieht. Den Geräuschen nach wird Kelian aus dem Sessel geholt, die Tür zu dem Glaszimmer öffnet sich. Wenn ich richtig schlussfolgere, wird dort die Seelenextraktion stattfinden. Unruhig zucken meine Finger. Die Schleifgeräusche entfernen sich weiter von mir. Was soll ich tun? Verdammt, was soll ich nur tun?

Mehr aus Instinkt als beabsichtigt lehne ich mich so vor, dass es einigermaßen natürlich aussieht, als wäre ich eben bewusstlos oder zumindest sturzbesoffen. Ich hoffe, dass es wirkt. Immer ein kleines Stücken mehr, bis der Punkt erreicht ist, an dem das Gleichgewicht kippt. Zugegeben, es ist sehr unrealistisch, dass ich aus einer sitzenden Position vornüberfalle, deswegen helfe ich etwas nach. Mit einem schmerzhaften Krachen lande ich bäuchlings auf dem Boden. Mein Kopf pocht, meine Schulter hat böse geknackst.

21 flucht, aber immerhin halten die Gehilfen inne. Ein paar Sekunden Zeit habe ich mir verschafft, die Frage ist nur, was ich damit anstellen soll.
»Kümmert euch um sie!«, weist 21 genervt an. Ein paar Momente verstreichen.
»Dafür müsst ihr Jenson natürlich erst abladen!«
Wenn mein Orientierungssinn stimmt, bringen sie Kelian zurück auf den Sessel, dann höre ich Schritte in meine Richtung kommen. Mein Herz pocht laut. Fuck, fuck, und jetzt? So gut durchdacht war mein Plan nicht (eigentlich habe ich nicht einmal gedacht).

Es dauert nur ein paar Augenblicke, bis ich wieder auf meinem Platz bin. Schade. Dabei habe ich das doch so gut umgesetzt.
»Nur Probleme mit ihr«, meint 21 abfällig. Ich presse den Kiefer zusammen, damit mir nichts entfährt, was mein Leben kosten könnte. Langsam muss mir etwas einfallen! Kann das Adrenalin nicht eine hammergeniale Idee hervorbringen? Bitte!
»Ach, wisst ihr was?«
Mittlerweile kann ich diese Stimme nicht mehr hören.
»Wir fangen doch mit der Informatikerin an.«
Mein Atem stockt. Devika. Jetzt muss ich wirklich etwas tun, doch Angst lähmt mich und meine Finger zittern. Was nur? Was könnte ich tun, damit das nicht noch schlimmer wird? Was, verdammt?

Es knarzt leise, als sie meine beste Freundin herauszerren. Irgendeine Möglichkeit, irgendetwas, Mallory, streng deinen Denkapparat an, einmal im Leben! Nichts. Ich erhalte nichts. Ich darf mich nicht reinsteigern, ich weine gleich, aber wie soll ich das nicht tun? Immerhin geht es gerade um Devika! Um die Person, die ich seit Jahren kenne, die mich besser kennt als ich mich und die mir hilft, egal, was es ist. So zahle ich es ihr also zurück. Indem ich von Panik paralysiert rein gar nichts tue.

Das Krachen schallt so laut durch den Keller, dass ich zusammenzucken muss. Einer der Männer schreit allerdings überrascht auf und lenkt damit die Aufmerksamkeit von mir ab.
»Was ist da los?«, fragt 21 frustriert. Ich erlaube es mir, die Augen einen Spalt zu öffnen. Die zwei Gehilfen tragen Devika und stehen kurz vor dem Versuchsraum, 21 wirft Lysander einen befehlenden Blick zu, der sofort zum Computer sprintet. Lärm dringt vom Gang ins Zimmer.

Anspannung ist zum Greifen fest im Raum. Was passiert gerade? Egal, was es ist, ich bin dankbar dafür. Es könnte eventuell Devika das Leben retten. Lysander tippt etwas herum, dann dreht er sich – bleich im Gesicht – um. Kameraaufnahmen flackern auf dem Bildschirm.
»Polizei«, bringt er hervor, »Sie haben die Tür aufgebrochen. Bald sind sie hier.«
Noch nie ist solch eine Welle an Erleichterung durch mich geflossen, ich atme sogar auf, doch glücklicherweise sind die vier viel zu geschockt, um das zu bemerken.
»Fuck«, entfährt es 21. Sie hadert mit sich selbst, ehe sie sich an die Gehilfen wendet.

»Werft sie in den Raum, wir schaffen es noch, eine Extraktion durchzuführen. Wenn wir schon auffliegen, soll es sich gelohnt haben.«

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