▸ 15. Ich brauche eine Erklärung.

Er ist es tatsächlich. Lysander Niaf. Der Typ, der mir die Seele von 21 überreicht hatte, als er auf der Flucht vor Kelian war. Jetzt sieht er allerdings so anders aus, dass ich ihn fast nicht erkannt hätte. Seine Frisur ist nicht wild, sondern perfekt gestylt, er trägt genauso teure Kleidung wie Kelian. Neben ihm ist 21. Anstatt des hässlichen Krankenhaushemds hat sie eine elegante weiße Bluse und eine passende Hose. Sie wirkt als könnte sie auf einem Laufsteg modeln, nicht als würde sie durch den Gang zwischen Gefängniszellen entlanglaufen.

Ich starre die beiden an. Was zum Teufel? Wie ist Lysander ins OS reingekommen, wird er nicht gesucht? Warum hat mir 21 nicht früher geholfen? Was machen sie hier? Wieso ist der Eyeliner von 21 so perfekt? Weshalb stecke ich hinter dieser dämlichen Glasscheibe wie ein Tier im Zoo? Frustriert balle ich meine Hände zu Fäusten. Die beiden unterhalten sich, ich kann sehen, wie sich ihre Münder bewegen, doch ich höre absolut nichts. Sie lachen auf, 21 hält sich vornehm die Fingerspitzen vor die Lippen. Endlich kapiere ich – Die Scheibe ist schalldicht.

Das ungute Gefühl in mir manifestiert sich zu einer gewissen Übelkeit. Etwas stimmt nicht, ich weiß nicht, was. Die ganze Situation ist falsch. 21 und Lysander scheinen ihre Konversation beendet zu haben, denn er schreitet zu meiner Zelle und tippt etwas neben dem Glas ein, gegenüber von dem Kasten auf meiner Seite. Ein Knacken ertönt aus dem kleinen Lautsprecher.

»Lange nicht mehr gesehen«, begrüßt mich Lysander. Seine Stimme gleicht der von damals in keiner Weise. Er spricht viel beherrschter, kontrollierter und selbstsicher.
»Ja, das stimmt«, bringe ich heraus. Mehr schaffe ich gerade nicht. Was soll ich auch sagen?
»Wie geht es dir?«
21 stolziert ans Glas. Obwohl ihr Körper mehrere Tage lang keine Seele in sich hatte, sieht er ungerecht gut aus. Ihre glatten Haare hat sie mit einer Haarklammer halb offen nach hinten geklemmt.

»Ich bin sehr verwirrt«, gestehe ich und reibe mir über den linken Arm, in dem das Kribbeln nicht mehr auftritt. Immerhin habe ich meinen Körper wieder.
»Verständlich.«
»Was ist passiert? Wo ist Kelian? Und… könnt ihr mich vielleicht rauslassen? Das wäre super.«
21 lacht auf.
»Nein, leider nicht.«

Kälte breitet sich in meinem Brustkorb aus. Ich umfasse meinen Ellenbogen, um mich irgendwo festhalten zu können. Ich will hier raus. Die Neonröhren surren.
»Warum nicht?«
»Du weißt zu viel.«
Ach. Das wäre ganz was Neues.

»Was meinst du?«
Sie deutet auf die gesamte Umgebung.
»Du weißt von den Fortschritten der Seelenforschung – Fortschritte, die die Außenwelt nicht erfahren darf. Aber keine Sorge, ich werde dir nicht wehtun. Versprochen.«
Ich kann das alles nicht verarbeiten. Was tut 21 da? Warum sollte sie mir wehtun? Wir haben abgemacht, dass ich in meinen Alltag zurückkehren kann, wenn wir ihren Körper gefunden haben. Wieso hält sie sich nicht daran?

Anscheinend kann man mir alle Fragen im Gesicht ablesen. 21 schmunzelt amüsiert. Mir gefällt das nicht, sie soll mich endlich gehen lassen. Wir haben getan, worauf wir uns geeinigt hatten, und ich werde ganz sicher nicht weitererzählen, was mir in den letzten Tagen passiert ist (als würde mir das jemand glauben). Ich mache einen Schritt auf das Gitter zu.

»Was ist mit Kelian?«, behaare ich auf meiner vorherigen Frage.
»Er sitzt eins weiter«, meint 21 bloß und deutet mit einem Nicken auf die Zelle links von mir.
»Du wolltest ihn der Polizei übergeben.«
»Tja, Versprochen gebrochen«, grinst sie. Ich fasse mit der Hand an das kalte Glas.

»Erklär mir das alles«, fordere ich, unsicher, ob ich es wissen will, und hundertprozentig sicher, dass ich nicht in der Position bin, etwas fordern zu können. Mein Blick huscht kurz zu Lysander. Er hält sich eher im Hintergrund, hat die Arme verschränkt.
»Nein, ich denke nicht. Das ist nicht meine Aufgabe«, erwidert 21 schulterzuckend. Ich schlage gegen die Scheißdrecksscheibe. Die Angst in mir facht meine Wut an. Das ist die Realität, die verdammte Realität, dass ich in einer schneeweißen Zelle im Keller des OS eingesperrt bin. So geht das nicht. Verzweiflung lässt meine Nase kribbeln, nein, ich will nicht heulen!
»Sag es mir, 21«, zische ich. Sie lächelt.

»ERKLÄR MIR DIESE FUCKING SITUATION!«

»Hey, hey, nicht so aggressiv«, tadelt sie mich in diesem nervigen, spöttischen Tonfall. Meine Zähne knirschen. Ewig war ich nicht mehr so wütend. 21 hat gemeint, ich kann ihr vertrauen. Sie hat es mir versprochen. Das ist also der Dank für das, was ich für sie getan habe. Toll.
»Ich werde Lysander hier lassen, er wird dir alles erzählen.«
21 beugt sich leicht zu mir vor, zwinkert ein Zwinkern, das ich ihr am liebsten aus dem Gesicht schlagen würde.

»Du entschuldigst mich sicherlich, ich muss noch einen Versuch vorbereiten. Dauert auch nicht lange, versprochen.«
Lachend – wieder mit dieser bescheuerten Hand vor den Mund – stolziert 21 Richtung Stahltür. Fassungslos starre ich ihr hinterher. Wie gerne hätte ich einen Stuhl nach ihr geworfen. Oder einen Backstein. Oder ein Brot, das vier Tage in der Auslage gelegen hat. Leider habe ich weder noch gerade da.

Das ist nicht die 21, die ich kennengelernt habe. 21 ist freundlich und zuvorkommend, interessiert. Als sie in meinem Kopf war, auf mein Handy und meine Blöcke geschrieben, mir etwas gekocht hat – Ich habe mich wirklich mit ihr verbunden gefühlt (war ich auch, aber ich meine freundschaftlich). Ich habe ihre Emotionen gespürt, ihren Zorn nachvollzogen, wegen ihr eine verdammte Straftat begangen. Der Versuch, den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken, scheitert. Wir kennen uns erst seit ein paar Tagen, aber das… das tut weh. Noch nie habe ich mich so geirrt.

Meine Unterlippe bebt, als ich mich zu Lysander drehe. Er ist nicht viel besser als sie.
»Ich warte«, will ich ihn fest und überzeugt anfahren, doch es ist ein leises Wispern, das über meine Lippen kommt.
»Nun, 22«, beginnt er grinsend.
»Ich heiße Mallory Kafro«, unterbreche ich ihn.
»Natürlich.«
Beinahe knackt mein Kiefer, weil ich ihn so stark zusammenpresse.

»Am besten… fange ich am Anfang an, nicht wahr? Gestatten, Lysander Niaf, Assistent der Teamleiterin von Team 2. Ich habe das Pneuma mit der Seele entwendet, um es zu verstecken, denn die anderen Forscher durften nichts vom Erfolg des zweiten Teams wissen. Schließlich ist es illegal, die Seele vollständig und für längere Zeit von seinem Körper zu trennen. Und zusätzlich ist etwas beim Experiment schiefgelaufen.«
»Kelian hat es geleitet, oder?«, frage ich nach, ich erinnere mich daran, dass 21 das erzählt hat. Meine Stimme ist zum Zerreißen gespannt. Lysander lacht so plötzlich auf, dass ich erschrocken zusammenzucke.

»Die Entwicklung des Pneumas, ja. Aber bei der Trennung war Kelian Jenson strikt dagegen und hat versucht, uns aufzuhalten. Er war es, der den Versuch unterbrochen und damit den Fehler verursacht hat.«
Die Puzzleteile in meinem Kopf ordnen sich nicht. Ein einziges Chaos. Ist Kelian dann… doch nicht der Böse? Ich will weiterfragen, aber mein Gehirn kann keinen vernünftigen Satz formulieren.
»Eigentlich sollte es nur eine kurze Trennung werden, probeweise und bei mir. Tja, das hat fehlgeschlagen und Projekt 21 hat eine andere aus ihrem Körper geholt. Mir blieb nichts anderes übrig als das Pneuma an mich zu nehmen und zu fliehen. Ich meine, wer will schon verhaftet werden?«

Ein trockenes Lachen entfährt mir, mit dem ich lediglich versuche, meine Unruhe zu überspielen und die Tränen zurückzuhalten. 21 hat mich angelogen. Fuck.
»Es war klar, dass die Seele in seinen Körper zurück musste, vorerst allerdings musste etwas Gras über die Sache gewachsen sein. Und dann traf ich dich. Obwohl es eine spontane und – wenn man etwas genauer darüber nachdenkt – dumme Entscheidung war, gab ich dir das Pneuma.«
Langsam nicke ich. Ich hätte es nicht annehmen sollen. Daran trägt einzig und allein Dead die Schuld.

»Ursprünglich war geplant, dass ich erst später deine Identität herausfinden und das Pneuma zurückverlangen würde – Aber du hast es zerbrochen. Glücklicherweise hast du nicht bemerkt, wie 21 Kontakt mit mir aufgenommen hat.«
Mein Herz setzt einen Schlag aus.

»Sie hat was?«
»Deinen Körper im Schlaf übernommen, mich mit deinem Handy angerufen und anschließend die Nummer aus dem Suchverlauf gelöscht.«
»Ah…«
Mir fällt es schwer, stehenzubleiben. Hitze strömt in mein Gesicht, meine Wangen kribbeln. Hinter meinem Rücken. Mein Vertrauen ausgenutzt. Mich benutzt. Das kann kein Missverständnis sein, oder? Ich dachte, mir passiert das nicht mehr.

Lysander scheint amüsiert zu sein. Er ist so viel anders als damals. Ist das der echte Lysander? Ist das der verwirrte und doch irgendwie vertrauenswürdige Fremde, von dem ich einen merkwürdigen Gegenstand erhalten habe? Ich will meinen Kopf gegen die Scheibe schlagen, bis er aufplatzt und das dunkle Chaos aus meinem Schädel quillt. Jahrelang habe ich es vermeiden können, in Gedanken abzusacken. Jetzt kehrt alles wieder.

»Aufgrund der neuen Lage haben sich die Pläne etwas verändert und alles ist aufgegangen. 21 hat dich dazu gebracht, einzubrechen und ihren Körper zu finden, und das schnell und ohne dass du es vielen erzählt hast«, berichtet Lysander als wäre er auch noch stolz darauf. Für mich war 21 also eine Freundin, für sie war ich… nicht mehr als ein Werkzeug. Eine einzelne Träne entflieht meinem Augenwinkel, rasch wische ich sie weg. Ich will nicht, dass mich Lysander flennen sieht.

»Kelian ist nicht der Schuldige an der ganzen Sache, oder?«
Lysander lacht auf, was mich zum Zusammenzucken bringt.
»In gewisser Weise ja, aber nicht auf die Art, wie man es dir gesagt hat. Er hat das Experiment unterbrochen, das schon, aber… 21, wie du sie nennst, hat dich nicht nur in dem Aspekt angelogen.«
Mein Nacken schmerzt, als ich meinen Kopf hebe, um ihn direkt anzuschauen.

»21 ist die Projektleiterin. Sie ist die Verantwortliche.«

Ich hatte es befürchtet, trotzdem sinke ich auf den Boden. Mein Atem geht zu laut, zu schnell, passt damit zu meinem Puls. Ich habe genau falsch gehandelt. 21 vertraut, Devika in die Sache hineingezogen, Kelian Unrecht getan. Dumm. Und erbärmlich und naiv und vor allem so dumm. So bin ich eben. Unglaublich dumm, verdammt nochmal.

»Kein Grund zu weinen, Mallory. Du bist nicht die erste, die auf sie hereingefallen ist«, grinst Lysander und geht in die Knie, um mit mir auf einer Augenhöhe zu sein. Ich starre ihn an, in dieses hässliche Gesicht. Nicht die erste, huh? Aber mit Abstand die dümmste.
»Was habt ihr jetzt vor?«, bringe ich heraus, jedes weitere Wort würde mich direkt heulen lassen. Meine Unterlippe zittert, ich beiße darauf, so fest, dass fast Blut spritzt.

»Ich habe leider keine Befugnis, dir das zu sagen. Die Projektleiterin ist diejenige, die hier die Pläne macht«, meint Lysander mit diesem nervigen abfälligen Grinsen und wirft einen Blick auf die Armbanduhr – Obwohl ich mich als Juwelierin eher mit anderem Schmuck beschäftige, erkennt mein Profiauge, dass das nicht nur eine gute Kopie ist.
»Und der Zeit nach muss ich zurückkehren, um sie zu unterstützen.«
»Wie viel Uhr haben wir?«, frage ich rasch, doch er wendet sich schon ab, hält trotzdem kurz inne.
»Rate.«
»Sag es mir, du kleiner Bastard.«
Lysander verdreht ungerührt die Augen und schiebt demonstrativ seinen Ärmel über die Uhr. Mein Kiefer schmerzt. Er läuft unverschämt langsam zur Sprechanlage, sein Finger ist schon über dem Tastenfeld, als er nochmal seinen Blick zu mir wendet.

»Übrigens«, meint er gedehnt, während ich mich auf die Beine ziehe, meine Hände drücken sich gegen das Glas, »Ich würde dir empfehlen zu kooperieren. Rechts von dir befindet sich deine wunderbare Informatikerfreundin… Wie hieß sie noch gleich? Devila? Wie auch immer, wir wollen ja nicht, dass ihr etwas passiert, nicht wahr?«
Ich erstarre wie eingefroren. Was? Devika? Sie ist… direkt neben mir. In Gefahr. Wegen mir. Damit, dass ich am Arsch bin, komme ich zurecht, aber sie… Galle steigt auf, aber ich weiß nicht, was ich noch auskotzen könnte. Lysander bedenkt mich ein letztes Mal mit einem kritischen, gar gehässigen Blick, ehe ein Piepen ertönt. Sprechanlage ausgeschaltet. Ich beobachte, wie er Richtung Stahltür geht, ich beobachte ihn als wäre er in einer anderen Welt.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kehrt das Leben in mir zurück. Ich schlage gegen das Glas, hämmere gegen die Scheibe, bis meine Hände schmerzen und meine Fingerknöchel bluten.
»KOMM ZURÜCK! LYSANDER, 21, KOMMT GEFÄLLIGST ZURÜCK!«
Als die Stahltür ins Schloss fällt, begreife ich, dass das nichts bringen wird. Mit zitternden Fingern wende ich mich der Wand rechts von mir zu, klopfe dagegen.

Keine Antwort. Natürlich, schließlich ist alles hier schalldicht.
»Devika? Bitte, bist du da? Es tut mir leid, es ist meine Schuld, dass du hier bist. Ich hätte dich nie um Hilfe beten sollen. Es tut mir wirklich so fucking leid, im wahrsten Sinne des Wortes, es tut richtig weh. Von Anfang an wollte ich dich nicht mit in meine Probleme ziehen.«
Ich lehne meinen Kopf gegen die kühle Wand, stelle mir vor, dass sie das auf der anderen Seite auch tut. Spreche, obwohl ich weiß, dass mich keiner hören kann. So wie ich nichts hören kann.

Nichts, abgesehen von dem Surren der Neonröhren und meinem erbärmlichen Schluchzen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top