▸ 14. Ganz allein, alles weiß.

Die Decke ist weiß, die Wände sind weiß, der Boden ist weiß. Kein bisschen Farbe irgendwo. Langsam richte ich mich auf, mein Rücken schmerzt, es pocht in meinem Kopf. Ich nehme mir ein paar Sekunden, um es abklingen zu lassen. Die Drecksmatratze ist genauso hart wie man es erwarten würde, sogar noch schlimmer als diese elendigen Schullandheimbetten. Ich befinde mich in einer dieser Alptraumzellen. Es ist kalt. Ich ziehe die Kapuze über, immerhin trage ich meine eigene Kleidung und nicht eines dieser Krankenhaushemden.

Endlich kann ich wieder klar denken, ein bisschen zumindest. Wie viel Zeit ist vergangen, seit 21 Kelian niedergestreckt und mich betäubt hat? Was hat sie nochmal gesagt und wieso, zum Teufel, hat sie mir nicht geholfen? Vielleicht ist das alles auch nur ein Missverständnis. Ja, bestimmt ist es das. Ich taste nach meinem Handy – Scharf ziehe ich die Luft ein. Es ist weg. Hektisch durchsuche ich den Rest meiner Hosentaschen. Alles weg. Handschuhe, Notizbuch, Stift, Schlüsselkarte, Handy.

Nur ein Missverständnis, Mallory. Ich muss mich beruhigen. Nicht so einfach, wenn man in dieser Zelle sitzt. Warum sind die Wände so nah beieinander? Wo ist 21? Oder Kelian? Irgendwer? Unsicher lasse ich mich von der Liege gleiten und gehe den Schritt zur Glasscheibe. Tatsächlich, sie ist hinuntergefahren. Wie ein Kleinkind am Aquarium halte ich mein Gesicht dagegen und blicke in den Gang. Niemand. Die Stahltür ist verschlossen.

Verwirrt lasse ich mich zurück auf die Matratze fallen. Bei der raschen Bewegung rauscht es in meinem Kopf, so ganz scheint die Chemikalie noch nicht abgeklungen zu sein. Was hat 21 dazu gemeint? Dass sie es selbst entwickelt hat? Aber sie war doch keine Wissenschaftlerin, wie kann sie also…? Ein lautes, frustriertes Stöhnen von mir zerschneidet die unangenehme Stille. Ich hasse diese Stille und dieses Nichts und dieses Weiß und diese ganze Situation.

Weil ich keine andere Möglichkeit habe, stehe ich erneut auf und hämmere gegen die Glasscheibe. Bruchsicher, klar. Wäre auch zu einfach.
»Hallo? Ist da jemand?«
Noch klischeehafter geht's echt nicht. Wenn ich schon einmal dabei bin…
»Hey, ich will nicht sterben! Holt mich hier raus!«

Gut, dann kann ich das auch von meiner Bucketlist abhacken. Gehört hat mich allerdings keiner. Wie oft kommt überhaupt jemand hierher? Ich betrachte die Umgebung genauer. Da sind Kameras! Das rote Blinken ist die einzige Farbe weit und breit. Es ist genau auf mich gerichtet. Gänsehaut überzieht meine Haut. Was passiert gerade? Ich verstehe nichts mehr. Plötzlich klingelt es in meinen Ohren, doch das muss Einbildung sein, so leise wie es ist.

Einzig, um diese Stille zu durchbrechen, schlage ich gegen die Scheibe, atme lauter. Ist es enger geworden? Mir bricht der Schweiß aus, mein Sichtfeld dreht sich. Ich stütze mich an der Wand ab. Galle steigt in meinem Hals auf, ist es Angst? Panik? Fuck. Überstürzt wirbele ich herum, reiße den Vorhang auf und erbreche in die Toilette. Unglaublich, wie viel ich kotze, als wolle mein Körper den ganzen Ekel und die Panik loswerden. So, wie ich 21 losgeworden bin. Was bleibt sie? Hat Kelian sie erwischt?

Das Wasser ist eiskalt, trotzdem wasche ich mir damit Hände und Gesicht. Normalerweise soll kaltes Wasser helfen, sich zu sammeln, bei mir zeigt es keine Wirkung. Okay. Dennoch. Ich schaffe es. Ich komme raus hier. Es ist wie einer der Escape-Rooms, in dem ich mal mit Devika war. Dumpf erinnere ich mich daran, wir waren in der zehnten oder elften Klasse. Sie hat alle Rätsel gelöst, während ich… Egal. Nicht daran denken.

Ich mustere den Raum nochmal. Diesmal fällt mir auf, dass rechts neben der Glasscheibe ein kleiner, schwarzer Kasten auf Augenhöhe hängt. In der Hoffnung, dass sich ein Tastenfeld dahinter verbirgt, rüttele ich daran, aber nichts tut sich. Dafür erkenne ich eine Art Mikrofon und diese komischen Löcher, die anzeigen, dass es sich um einen Lautsprecher handelt. Hm. Ich werfe einen Blick auf die leere Zelle gegenüber von mir. An der Seite ist tatsächlich auch von außen eine ähnliche Apparatur installiert.

»Kann mich jemand hören?«, spreche ich in das Mikrofon, »Test, eins, zwei, drei. Hier Mallory und in Schwierigkeiten – Kann mich jemand bitte rausholen? Wäre echt super. Bitte?«
Obwohl ich einige Sekunden warte, geschieht nichts. Ich seufze. Zusätzlich knurrt nun mein Magen, weil ich seinen gesamten Inhalt entleert habe. Im Nachhinein betrachtet war das nicht so schlau.

Dramatisch lehne ich meine Stirn gegen das kalte Glas. Damit habe ich nicht gerechnet, als ich hier eingebrochen bin. Entweder verhaftet oder geflüchtet, das waren die Optionen, von denen ich ausgegangen bin - Dass ich in diesem Scheißkeller eingesperrt werde, war nicht der Plan. Ich sehe zur Stahltür hinüber. Sie erscheint mir so riesig wie die Tresortür in Banken in diesen komischen Actionfilmen. Ich wünschte, irgendein Superheld würde mit seinen Laseraugen ein Loch hineinschneiden und mich befreien. Meinetwegen auch 21, die den richtigen Code eingibt.

Nichts passiert. Das statische Surren macht mich wahnsinnig und ich fange an, leise zu singen. Nicht, dass ich das kann - deswegen habe ich auch keine Rolle in diesem Theaterstück bekommen, bei dem einige wie in einem Musical singen durften -, sondern weil ich die Stille nicht mehr aushalte. Obwohl sich mein Puls beruhigt hat, höre ich mein Herz klopfen. Es ist ein ganz unangenehmes, ungewohntes Gefühl. Allmählich verliere ich das Zeitgefühl, schlimmer als die grässlichen Unterrichtsstunden damals. Ein bisschen fühle ich mich wie an einem Durchschnittstag unter der Woche, an dem kein einziger Kunde in den Laden kommt.

Apropos Laden, habe ich mich für den nächsten Tag beurlauben lassen? Nein, tatsächlich nicht, glaube ich. Wir sind davon ausgegangen, dass die Sache in einer Nacht abgehakt werden konnte. So viel dazu. Meine Füße beginnen zu schmerzen und so setze ich mich auf die Liege, lehne mich gegen die hässliche Wand und ziehe meine Beine an. Wie ein Kleinkind umarme ich mich selbst. Gibt es keine Heizung? Die können mir doch nicht erzählen, dass dieses erfolgreiche Institut kein Geld für eine Heizung hat.

Aber anscheinend haben sie nicht einmal Geld für Strom. Die einzige Vorwarnung ist ein heftiges Flackern, bevor die Neonröhren erlöschen. Ich sitze im Dunkeln. Erstarre. Das ist jetzt echt scheiße.
»Wer hat das Licht ausgemacht?«, frage ich ins Nichts, erhalte keine Antwort. Ich drücke mich noch näher an die Wand. Ewig hatte ich nicht mehr dieses Bedürfnis, an einem anderen Ort zu sein.

»Da muss doch jemand sein«, wispere ich, um meine Stimme zu hören. Ich lasse meinen Blick schweifen - Das heißt, ich will es, allerdings ist alles komplett schwarz. Da! Ein Blinken. Es ist die Kamera. Rasch lege ich meinen Kopf auf meinen Knien ab, kneife die Augen zusammen. Ich will das eigentlich nicht sehen. Ich will weg. Nichts passiert. Und das für eine ganze, ewige Weile lang, sodass ich das Zeitgefühl verliere. Irgendwann höre ich auf, mich zu bewegen, zittere nur noch. Immerhin kann ich in der Dunkelheit nicht die Illusion haben, dass die Wände auf mich zu kommen. Haha.

Ich singe wieder etwas, aber irgendwann werde ich leiser, bis ich schließlich komplett verstumme. Meine Stimme ist zu dünn, zu weinerlich. Mir ist bewusst, dass die Situation scheiße ist, da muss ich mich nicht auch fast heulen hören. Zeit verstreicht und lässt mich mit meinen Gedanken allein. War es falsch, mich auf 21 einzulassen? Warum hat sie mich betäubt und mir nicht geholfen? Wie kann das ein Missverständnis sein? Oder sind das vielleicht falsche Erinnerungen, die von dieser Chemikalie ausgelöst worden sind? Hey, das könnte möglich sein.

Obwohl ich versuche, mir das einzureden, glaube ich mir selber nicht so ganz. Ich weiß nicht mehr, wer der Böse in dieser Geschichte ist. Seit Anfang an dachte ich, es wäre Kelian - Daran hat sich ehrlich gesagt nicht so viel verändert. Ich mag ihn nicht. Er war mir viel zu nah und unfreundlich, wollte mich davon aufhalten, 21 ihre Seele zurückzugeben und ich meine, er war es wohl, der dafür verantwortlich ist, dass es im Keller dieses Instituts dieses verdammte Gefängnis ist. 21 hat mir erzählt, was für ein Dreckskerl er ist. Was hätte er mit uns angestellt, wenn er uns erfolgreich überwältigt hätte? Ich will es gar nicht wissen.

Trotzdem kriege ich den Moment nicht aus meinem Kopf, in dem sich 21 vorgebeugt und mich betäubt hat. Warum? Warum nur? Ich verstehe es einfach nicht. Ich verstehe gar nichts mehr. Wieso muss mir so ein Mist passieren? Vor einer Woche hätte ich bloß trocken gelacht, hätte mir jemand gesagt, dass ich eine fremde Seele aufnehme, im OS einbreche und dann eingesperrt in einer Zelle lande, die mich an eine Irrenanstalt erinnert. Vor einer Woche war noch alles gut. Na ja. Außer mein Abwasch, der stapelt sich seitdem. Aber daran hat sich in den letzten Tagen nichts geändert.

»Wenn ich hier lebend rauskomme, spüle ich ab«, verspreche ich mir selbst. Ob ich mich daran halten werde? Mal sehen. Momentan ist es meine einzige Motivation. Meine Gedanken schweifen ab und eventuell döse ich sogar etwas weg, was mich selbst überrascht. Wie kann man in einer solchen Situation einschlafen, fragt ihr euch? Ich mich auch. Ich vermute, es hat mit meinem Schlafmangel zu tun. Oder mit dem ganzen Stress heute, der mich so ermüdet hat.

Als es piept, denke ich erst, dass es wieder das komische Klingeln in meinen Ohren ist, weil mittlerweile auch das Surren verstummt ist und ich wahnsinnig werde. Ich schrecke auf, erhebe mich vorsichtig mit ausgestreckten Armen - Als gäbe es etwas in dieser mickrigen Zelle, gegen das ich laufen könnte. Mit einem beinahe amüsierten Lächeln lasse ich die Hände fallen. Da ist bloß die Wand gegenüber von mir, aber so dumm bin ich auch… Ah, fuck. Doch, so dumm bin ich.

Genauso unerwartet wie es erloschen ist schaltet sich das Licht ein und mein total geliebtes Brummen kehrt zurück. Aus irgendeinem Grund habe ich das Bedürfnis, Neonröhren zu zerschmettern, ich weiß nicht. Ich blinzele ein paar Mal, benötige ein paar Sekunden, um mich an die Helligkeit zu gewöhnen. Mein Rücken schmerzt, nachdem ich so lange in meiner schlechten Shrimp-Haltung gewesen bin. Als sich meine Sicht einigermaßen klärt, weiten sich meine Augen.

»Kurz-Nach-Deutschlehrer?«, entfährt es mir.

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