▸ 13. Wie ein Horrorfilm.

Links und rechts am Gang liegen kleine, quadratische Räume hinter – ihr habt es erraten – Glasscheiben. Eine einfache Liege mit dünner, schwarzer Matratze ist das einzige, was darin steht. Nicht einmal das, man kann die Liegefläche hochklappen. An der hintersten Wand verbirgt ein Vorhang den Rest des Raums, aber bei einigen ist er zurückgezogen. Eine Toilette, ein Waschbecken, mehr nicht. Ein Gefängnis.

Ich will etwas sagen, schaffe es allerdings nicht. Dieses aufgeregte Kribbeln in mir wird mit jedem Schritt stärker, den 21 in Richtung Ende des Flurs macht. Ich weiß nicht, ob ich sehen will, was dort hinten ist. Ich weiß es echt nicht. Mir ist so verdammt schlecht, die Angst zerreißt meinen Magen, das geht mir viel zu weit. Ich bete, dass diese ganze Situation ein Alptraum ist. Dort hinten wird der Körper von 21 sein, oder? Aber wie, verdammt, soll ich mit ihr aus diesem Keller kommen, wenn nur Kelian mir aufsperren kann?

Farbe weicht mir spürbar aus dem Gesicht. Das alles hier… ist nicht real. Ich bewege mich, obwohl ich nicht will. 21 lässt mich nicht mehr zurück. Was hat sie vor? Hoffentlich ist es bald vorbei. Ich habe ein ganz ungutes Gefühl, um es mal untertrieben auszudrücken. Kelian könnte nach mir suchen. Wenn er mich nicht an dem Arbeitsplatz von Team 4 findet, wird er misstrauisch werden. Und dann könnte er mich hier finden, oder? Er könnte mich auch in eine Zelle sperren und…

»Dein Herz schlägt sehr schnell.«
Meine Stimme ist das einzige Geräusch neben des leisen, statischen Flimmerns der Lampen. 21 spricht wieder mit meinem Mund, obwohl wir eigentlich abgemacht haben, dass sie mit mir über das Notizbuch oder meinetwegen mein Handy kommuniziert. Andererseits ist es bald vorbei. Das kann ich ihr jetzt auch noch verzeihen.

»Versuche dich zu beruhigen, Mallory. Keine Angst. Uns kann nichts passieren«, wispert sie. Es ist merkwürdig, fremde Worte mit der eigenen Stimme zu hören. Ich würde ihr gerne sagen, was uns alles passieren kann, aber… Na ja. Aus offensichtlichen Gründen funktioniert das nicht. Schließlich sind wir am Ende des Flurs angekommen, viel zu langsam dreht 21 den Kopf zur Zelle zu meiner Linken. Mein Puls setzt kurz aus.

Die erste Person, die ich in diesem Bereich nach Kelian sehe. Die erste Person ohne Seele, die ich sehe. 21 liegt auf der dünnen Matratze, die Hände gefaltet auf dem Bauch. Lange, dunkelbraune Haare fließen über den Rand der Liege fast bis auf den Boden, ihr Gesicht beinahe so bleich wie das weiße, übergr0ße Hemd, das sie trägt und das an Krankenhauskleidung erinnert. Sie hatte Recht, sie scheint tatsächlich in meinem Alter zu sein.

Ihre Augen sind geschlossen. Ich betrachte sie einige Sekunden lang. Die Brust bewegt sich kein bisschen, kein Atem. Ist sie tot? Eine Leiche? Gott, ich habe noch nie eine Leiche… Ein Zittern huscht über mich, das nicht einmal 21 kontrollieren kann. Das ist die Frau, deren Bewusstsein in meinem Kopf ist. Ich will mich übergeben, fühle mich überhaupt nicht wohl, das Kribbeln steigt meine Hals auf, erstickt mich. Die Seele von 21, sie will raus, will zu ihrem eigentlichen Körper.

Meine Glieder fühlen sich an wie heftig eingeschlafen, schmerzhaft eingeschlafen, als würde das Blut zurückströmen, es krampft, jeder Muskel. Meine Finger zucken, meine Hände, ich atme viel schneller. Scheiße, scheiße, gar nicht gut. Blickfeld dreht sich, es ist alles so hell, alles so weiß, man könnte wahnsinnig werden. 21 setzt meinen wankenden Körper in Bewegung, stolpert oder ich stolpere, kracht gegen das Glas. Es bricht nicht, sollte wehtun, tut es nicht.

In der Ferne piept etwas, surrt, brummt, knallt, Laut, Geräusch, zerreißt alles, ich weiß nicht, mein Kopf ist voll. Voll mit Watte und Nebel, verdrängt Klarheit. 21 tastet nach dem Tastenfeld neben der Zelle. Hektik, Zittern. Tippt die Zahlen ein, verschwimmt, wankt, ah, fuck, ich bin so benommen, wie betrunken, wie berauscht. Fühlen sich so Drogen an? So richtig heftige Drogen? Wo bleibt das Glücksgefühl? Nur der Rausch, ein stechender, erstickender Rausch.

Schritte. Meine? Ich laufe nicht. Nicht meine. Wessen sonst? Zahl eins eingetippt, Zahl zwei, drei, vier. Bestätigungstaste. Und >Zugriff verwehrt< in leuchtend roten, blinkenden Buchstaben, sie schreien mich an, beschimpfen mich, ich will das nicht, ein Kampf in meinem Kopf, in meinem Unterbewusstsein. Die Waffen schießen gegen meinen Schädel, sie wollen die Schlacht woanders austragen, sollten es woanders austragen, sie können nicht. 21. 21, verdammt, was geschieht?

Erneute Kombination. Finger krallen sich an Glas fest, Person kommt näher. Wer ist es? Kann Blick nicht abwenden. >Zugriff gewährt.< Glas fährt nach oben. Falle hinein. Spüre, wie sich die andere Seele bündelt, steigt aus meinen Beinen hinauf, sie sacken ein, aus meinem Unterkörper, nehmen die Schmerzen mit sich, meine Arme erschlaffen, mein ganzer Körper gibt nach. Blick verfolgt die leuchtende Kugel aus Rauch, die direkt zu 21 rast. Dieselbe feste Hand an meiner Taille, die mich erneut vom Fallen abhält.

»Team 4 verwendet die neue Software gar nicht«, wispert Kelian in mein Ohr, ich verstehe nicht ganz, meine Benommenheit klingt ab, als ein süßlicher Duft in meiner Nase aufsteigt. Tuch vor meinem Gesicht, wie in den Filmen, scheiße, nein, ich schlage reflexartig um mich. Wie war diese Selbstverteidigungstechnik? Es fällt mir nicht ein, so ein Dreck, fuck, er ist zu stark, hat mich zu sicher gepackt. Ah… Meine Gedanken werden wieder… träge…

Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie 21 sich erhebt, kurz sich selbst mustert als wäre sie überrascht, wieder ihren Körper zu besitzen. Ich bilde mir ein, dass der Griff um mich vor Schock leichter geworden ist. Entschlossen trete ich nach hinten aus, doch mittlerweile bin ich so jämmerlich schwach (als wäre es zu normal anders), dass ich bestimmt nicht viel ausrichte. Dennoch lässt er mich los, ich stolpere nach vorne, krache auf den Boden.

»Was hast du mit ihr gemacht?«, brüllt Kelian 21 entrüstet an. Was zum Teufel? Ich will mich aufstützen, aber ich bin zu erschöpft und bleibe seitlich liegen. Der merkwürdige Professor steht 21 gegenüber. Ihre Haltung ist selbstsicher, provokant, ich zucke zusammen. Sie hat ihren Körper wieder, sie ist wieder sie selbst. Und ich bin endlich wieder allein in meinem. Nie habe ich mich so wohlgefühlt - Wären da nicht die verschwommenen Ränder meines Sichtfelds und meine bebenden Muskeln. Erst entflieht eine Seele meinem Körper, dann werde ich beinahe betäubt. Die Chemikalie strömt durch mich hindurch.

»Gar nichts, Kelian.«
Er will sie angreifen, realisiere ich. Verzweifelt reiße ich den Mund auf, um ein verzweifeltes, klischeehaftes >Nein!< zu schreien, doch meine Lippen entflieht lediglich ein erbärmliches Wimmern. Kelian stürzt sich beinahe auf 21 und ich will schon wegsehen, als 21 ihm so richtig heftig eine scheuert. Blut spritzt auf die reinweißen Wände und die Übelkeit, von der ich dachte, dass 21 sie mit sich genommen hat, kehrt prompt zurück. Ein Alptraum. Ein wahrer Alptraum. Die Neonröhren flackern, surren.

»Fuck«, flucht Kelian leise und hält sich die Nase. 21 hat ihm nicht nur eine geklatscht, sie hat ihn geschlagen. Ist das ein Lächeln in ihrem Gesicht, als sie ihre Fingerknöchel knacksen lässt? Ich meine, ja, nimm dir deine Rache an deinem Ex, aber bitte schau nicht ganz so gruselig dabei aus, okay? Kann sie es schaffen, Kelian zu überwältigen, der so viel größer und stärker ist? Ich muss ihr helfen. Ein Rauschen in meinen Ohren, das mich an das statische Geräusch eines alten, defekten Fernsehers erinnert. Meine Sicht flimmert genauso. Ich muss schon zu viel von diesem Chemiezeug eingeatmet haben. Ist das Chloroform? Habe ich das nicht einmal in Chemie gehabt? Warum habe ich nicht aufgepasst? Würde mir das jetzt etwas bringen? Wieso bin ich so?

21 schlägt Kelian erneut. Obwohl sie deutlich kleiner ist und alles verschwommen scheint, erkenne ich, dass sie eine sportliche Statur hat, gefährlich wirkt. Kelian gibt einen Laut von sich, der halb wie ein Wimmern, halb wie ein Fluch klingt, er hält sich den Kopf. Wahrscheinlich sieht er gerade dasselbe wie ich - Alles verwaschen und in so schlechter Qualität wie ein Video, wenn sich das Internet für drei Millisekunden aufhängt. Diesen Moment nutzt 21 aus, reißt ihm das Tuch aus den Händen und einen Augenblick später presst sie es in Kelians Gesicht.

Er will sie von sich stoßen, doch sie tritt ihn heftig, wodurch er gegen die Wand hinter ihm fällt, genau auf die Blutspritzer. 21 drückt ihn mit ihrem Fuß auf seiner Brust und ihrem gesamten Körpergewicht nach unten, da ist Wahnsinn in ihrem Ausdruck. Mein Hand knickt ein, ich stürze fast komplett auf den Boden, mir ist so übel. Ständig wollen sich meine Augen schließen, nur mit Mühe und ganz viel Willenskraft halte ich mich im Bewusstsein. Diese Chemikalie war extrem stark - Was auch Kelian feststellen muss.

Panik zeichnet Furchen in sein Gesicht, während er versucht, sich gegen 21 zu wehren, die ihm eindeutig überlegen ist, obwohl sie erst vor wenigen Sekunden ihren Körper wiedererlangt hat. Das ist verdammt unheimlich. Kelian gibt sein Bestes, um wach zu bleiben, doch nach endlos scheinenden Sekunden kippt sein Kopf zur Seite. Langsam nimmt 21 das Gewicht von ihm, lehnt sich zurück. Atmet durch.

Und dann lacht sie.

Noch nie zuvor habe ich jemanden so scheiße unheimlich lachen hören, meine Benommenheit scheint alles zu verschlimmern. Es hallt in meinen Ohren wider, dahinter das merkwürdige Rauschen, es sirrt und knistert, sie lacht voller Triumph und ich versuche einfach nur, aufzustehen. Tränen, die ich gar nicht will, strömen über meine Wangen, tropfen auf den schneeweißen Boden wie das Blut vorhin. Die Erkenntnis, dass unsere Mission nun Erfolg hat, dringt noch nicht zu mir durch. Ich muss erst verarbeiten, eine heiße Dusche nehmen und meine Serie anschauen, während ich Pizza fresse. Gott, freue ich mich auf meine winzige Wohnung.

»Hey, 21«, bringe ich über meine zitternden Lippen und endlich wendet sie sich mir zu, kniet sich zu mir hinunter. Obwohl sie tagelang hier unten gelegen sein musste, sind ihre Haare ungerecht hübsch. Ihre - berechnenden? - Augen mustern mich.
»Hey, Mallory. Danke dir.«
Die Stimme von 21 ist genauso gruselig wie ihr Lachen. Könnte aber auch an der Situation und dem Ort liegen - Eine geheime, reinweiße Zelle im Keller eines ominösen Instituts, Blutspritzer und ein bewusstloser Mann an der Wand und 21, die mit ihrem Hemd aussieht wie ein Geist aus einem dieser Krankenhaushorrorfilme. Nicht, dass ich mir je einen angeschaut hätte, aber so stelle ich mir diese vor. Unter größter Mühe schaffe ich es, mich aufzusetzen, wobei mich 21 genau beobachtet. Erschöpft stütze ich mich auf dem Boden ab. Immerhin liege ich nicht mehr da wie jemand, der ein paar zu viele Drinks an einem Samstagabend hatte.

»Alles… verschwommen«, murmele ich. Meine Augen fallen für ein paar Sekunden zu. Ich lehne mich nach vorne, will mich gegen 21 lehnen, will sie für unseren Erfolg umarmen.
»Ich weiß.«
Sie rückt von mir weg.
»Das habe schließlich ich hergestellt. Sehr effektiv, um jemanden auf eine Seelenextraktion vorzubereiten - Kelian hätte das nie in seine Hände bekommen sollen, aber nun gehört es endlich wieder mir.«
Ich verstehe nicht ganz.
»Huh?«, verdeutlicht meine Verwirrung.
»Danke, ich muss dir wirklich so sehr danken - Für deine Leichtgläubigkeit, deine Kontakte, deine Dummheit. Danke, Mallory - Oder eher Projekt 22?«

Mit einem hinterlistigen Lächeln presst sie das Tuch in mein Gesicht.

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