▸ 11. Selbstverständlich gehöre ich hierher.
»Sie erschrecken mich schon wieder«, lacht 21 betont locker, während mein Herz fast stehenbleibt. Als sie sich zu Delio dreht, lässt sie die Karte elegant und so geschickt in einer der Hosentaschen verschwinden, dass ich zuversichtlich bin, dass sie eine tolle Magierin wäre. Meine Mutter hat mal gesagt, dass etwas verschwinden lassen einer der einfachsten Zaubertricks ist. Was sie dann auch bewiesen hat, aber das ist ein anderes Thema.
»Was machen Sie da?«, fragt dieser neugierige Praktikant.
»Wo?«, stellt sich 21 dumm und schiebt die Schublade zu. Delio schüttelt grinsend den Kopf. Hat er eigentlich nichts Besseres zu tun? Ah, nein. Er ist Praktikant.
»Ich habe übrigens nichts gefunden«, meint er.
»Ich auch nicht. Muss wohl ein anderes Mal zurückkehren«, entschließt 21 schulterzuckend und bewegt sich Richtung Ausgang. Ich hoffe sehr, dass sie bei diesem anderen Mal wieder ihren eigenen Körper besitzt. Meine Glieder fühlen sich an wie eingeschlafen, aber nicht auf diese lustig-taube, sondern schmerzend-kribbelnde Art und Weise.
»Darf ich Sie dann begleiten?«, bietet sich Delio versucht galant an und hält mir die Tür auf, die ohnehin schon geöffnet war. Schmunzelnd tritt 21 hindurch. Ich muss gestehen, dass sie ziemlich gut in dieser Lügengeschichte ist. Eigentlich hätte ich erwartet, dass ich alles regeln muss. Nicht, dass 21 vergessen hat, dass ihr dieser Körper gar nicht gehört! Schließlich kann ich nicht einmal dagegen ankämpfen, dass sie meine Handlungen übernimmt.
»Vielleicht«, antwortet 21.
»Kriege ich dann ihre Nummer, Lory?«
21 seufzt und scheint kurz zu zögern. Die Taubheit verzieht sich aus meinem rechten Arm als wolle sie diese Entscheidung mir überlassen. Ehrlich gesagt möchte ich das ungern tun, andererseits wäre ich ohne Delio nie in das Büro gekommen. Mit ihm kann ich mich auch später beschäftigen, außerdem scheint er ganz okay zu sein. Ein bisschen verloren in der Welt, aber wer ist das nicht? Ich bin es auf jeden Fall und nicht nur ein bisschen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass er sich gut mit Rion verstehen würde. Vielleicht stelle ich die beiden einander vor.
Also zücke ich mein Handy, da ich nach Jahren noch immer meine Nummer nicht auswendig kann (Schande über mich und so, ich weiß). Doch als ich die App mit den Kontakten öffne, halte ich einen Moment inne – Und dann folge ich der Idee impulsartig. Nachdem ich Delio die Nummer diktiert habe und er sie gespeichert hat, schafft es 21 nach ein, zwei Minuten Smalltalk, ihn loszuwerden und zu seinem Feierabend zu überreden.
Erst, als ich die gläserne Eingangstür ins Schloss fallen höre, kann ich erleichtert ausatmen – Obwohl uns die wahre Aufgabe natürlich noch bevorsteht. Der eigentliche Einbruch in die Labore. Ich weiß nicht recht, was mich erwartet; Blutbespritzte, dunkle Räume mit Ketten an den Wänden wie in Horrorfilmen? Oder komplett saubere und weiße Arbeitszimmer, die auch in einer Arztpraxis sein könnten? 21 hat mir kaum etwas erzählt, nur, dass sie sich auskennt.
»Okay, lass uns gehen«, wispere ich und meine Beine setzen sich in Bewegung. Da 21 schon so lange meinen Körper – jetzt immerhin nur noch einen Teil – besetzt, schmerzen meine Beine vor Taubheit. Ich weiß, das ergibt keinen Sinn, aber man muss sich das Gefühl so wie das vorstellen, dass man hat, wenn man mit so richtig heftig eingeschlafenen Füßen läuft und das Blut zurückfließt und alles krampft und schmerzt und man einfach nur weinen möchte. Nein, Mallory, jetzt weinen wir nicht.
Der Eingang zu den Laboren befindet sich im anderen Flügel, was heißt, dass ich erneut den Eingangsbereich passieren muss. 21 nähert sich diesem erst langsam und linst so unauffällig man eben um Ecken linsen kann um die Ecke, um zu überprüfen, dass in der Zwischenzeit niemand seinen Platz am Tresen eingenommen hat. Wir haben Glück – Schon wieder. Es ist etwas verdächtig, doch beschweren will ich mich nicht. Das war auch bei meiner Chemienote so. Verdächtig gut (weil mein Lehrer ein paar Fehler bei der Korrektur übersehen hat), aber ich habe nichts gesagt. Bereue ich bis heute ehrlich gesagt… überhaupt nicht.
Selbstbewusst, als würde ich hierher gehören, stolziere ich durch den Empfangsbereich. Normalerweise bin ich Fan von Glaswänden, weil sie so lichtdurchlässig (offensichtlich) sind und den Raum größer erscheinen lassen, aber gerade hasse ich sie sehr. Ich offenbare mich sowohl dem Innenhof als auch dem Weg, der zum OS führt. Die ganze Zeit zuckt mein Blick von einer Seite zur anderen, damit ich Mitarbeiter entdecke. Eigentlich sollten sie Feierabend haben, aber es gibt immer die übereifrigen Workaholics, die trotzdem in der Arbeit bleiben. Das kann ich persönlich nicht verstehen.
Wir biegen rechts ab. Der Flur erscheint mir ewig lang, mehrere Türen an beiden Seiten führen zu Büroräumen, doch das alles interessiert mich nicht. Ganz am Ende des Gangs wurde eine weitere Glaswand inklusive Tür mit weißem Rahmen errichtet. Ich bleibe stehen. >Kellerräume: praktische Seelenforschung. Zutritt nur für Befugte< kann ich auf dem Schild lesen. Probeweise drücke ich die Klinke hinunter, aber die Tür öffnet sich tatsächlich nicht.
Ich atme tief durch, schaffe es dabei nicht, meinen lauten Herzschlag zu beruhigen. Noch kann ich einen Rückzieher machen. Noch kann ich umkehren, die Schlüsselkarte auf dem Tresen liegen lassen und gehen. Ich schrecke zusammen – Was ist mit Überwachungskameras? Fuck, daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Was, wenn ich gerade aufgenommen werde? Nicht auffällig verhalten, nicht umdrehen. Wenn ich jetzt umkehre, bin ich zu verdächtig. Warum haben wir nicht vorher daran gedacht?
21 hat offensichtlich genug von meinem Zögern, denn sie schnappt sich meinen linken Arm, zückt die Karte und steckt sie beinahe routiniert in den Kartenleser. Ein Surren ertönt, dann ein Klicken, und sie stemmt meinen Körper gegen die Tür. Ich trete ein, hinter mir fällt sie viel zu laut ins Schloss. Stille. Nur mein Atem ist zu hören, den ich langsam mal unter Kontrolle kriegen sollte, das ist ja erbärmlich. Es ist doch nichts dabei, in ein Institut einzubrechen, ich soll mich nicht so anstellen.
Ein Treppenhaus erwartet mich, das nur nach unten führt. Diesmal hadere ich bloß einige Sekunden, ehe ich endlich die Initiative ergreife und loslaufe. Rasch und so leise wie ich kann schleiche ich die Treppe hinunter. 21 hat mir erzählt, dass besonders die Forscher in dieser Abteilung gerne Überstunden machen, demnach muss ich noch vorsichtiger sein als davor. Die Aufregung lässt Adrenalin durch mich schießen, das 21 bestimmt auch spürt.
Ich weiß nicht genau, was ich erwartet habe, als ich ein Stockwerk tiefer bin. Vermutlich einen dunklen Keller mit spärlichem, flackernden Licht von einzelnen Glühbirnen, Blutflecken an den Wänden und irre lachende Wissenschaftler. Natürlich ist nichts davon hier unten. Ein sauberer, weißer Gang, der mich an ein Krankenhaus erinnert, führt weit geradeaus, in regelmäßigen Abständen führen Türen rechts und links zu weiteren Räumen. Teils ist die Wand verglast und man kann direkt in das Zimmer sehen.
Einige wenige Mitarbeiter – ich zähle sechs – sind tatsächlich noch da, ich erkenne sie durch die wenigen Glaswände, aber sie haben mich entweder nicht bemerkt oder es kümmert sie einfach nicht. Sie unterhalten sich locker, einige lachen oder sitzen an Computern und tragen irgendwelche Daten ein. Vielleicht in das Programm von Devika? Könnte möglich sein.
Gut, jetzt bin ich im Keller. Der nächste Punkt unseres Plans ist abgehakt. Nun muss ich nur noch den Körper von 21 finden, mit ihr entkommen und die Polizei rufen, damit dieser Keller untersucht wird und diese dubiosen Machenschaften aufgedeckt werden. Ich bemühe mich, meine Neugier zurückzuhalten, während ich den Flur entlanggehe. Im Augenwinkel lese ich die Bezeichnungen für die Räume, nirgends schlägt 21 Alarm. Ich bin wohl noch nicht bei dem Bereich, den sie kennt.
Wenn ich ehrlich bin, kann ich mir nicht vorstellen, dass von diesem Keller aus eine Entführung gelaufen sein soll. Weiße Neonröhren werfen ein durchgängiges, helles Licht auf den Gang, und generell wirkt alles viel zu… professionell. Die ganze Umgebung kenne ich bisher nur aus irgendwelchen Dokumentarfilmen über Bakterien oder DNA oder so, die wir damals im Biologieunterricht ansehen mussten. Ich habe nie wirklich aufgepasst, muss ich zugeben.
Wir biegen um eine Ecke am Ende des Flurs und stehen prompt vor einer weiteren Glastür, diesmal ist es allerdings Milchglas, sodass ich nicht erkennen kann, was dahinter liegt. Trotzdem, wie viele gibt es hier bitte? Wie viel hatte die arme Glasbrennerei zu tun? Ist es nicht unangenehm, wenn man weiß, dass man jederzeit beobachtet werden kann? Also ich fände das ganz schrecklich. Besonders, weil ich manchmal so dumme Sachen mache, da will ich echt nicht, dass das irgendjemand mitbekommt. Schlimm genug, dass 21 erlebt hat, wie oft ich mit der Schulter gegen den Türrahmen in meiner Wohnung krache.
»Forschungsteam 1, Forschungsteam 2, Forschungsteam 3, Forschungsteam 4«, lese ich die sehr kreative Aufschrift der Tür leise vor. Ein Kribbeln der Aufregung jagt durch meinen Körper und lässt mich erzittern. Es wird ernst. In wenigen Minuten werde ich 21 ihren Körper zurückgeben können. Merkwürdigerweise lässt mich dieser Gedanke leer fühlen. Wir kennen uns nur ein paar Tage, aber… sie ist wirklich ein Teil von mir geworden. Natürlich ist sie das, ja, schon klar. Ich kann mich echt nicht ausdrücken.
Uns wird diese komische Geschichte wohl für immer begleiten und ich bete dafür, dass sie die Grundlage für eine tolle Freundschaft sein wird. Wir haben so viel geredet, sie kennt mich mittlerweile so gut und… ich sehne mich nach mehr Leuten, denen ich vertrauen kann. Ja, ich habe Devika und Rion und Loenie und ich habe sie alle sehr lieb, dennoch fehlt etwas. Zu meiner Familie habe ich kaum Kontakt, aus der Schule sind mir nur meine zwei besten Freunde geblieben. Vielleicht kann 21 diese merkwürdige Lücke zumindest ein bisschen auffüllen. Und vielleicht kann ich ihr die Freundin sein, die sie gebraucht hat, als sie verraten wurde.
21 lässt meinen linken Arm zucken. Ich habe zu lange nachgedacht, ups. Das passiert mir eher selten. Ich weiß, worauf sie hinauswill und hole die Schlüsselkarte aus meiner Hosentasche hervor. Der Bereich der Forschungsteams hat noch ein elektronisches Türschloss, von wegen Sicherheit und so. Ich halte die schlichte Karte vor den Sensor. Es surrt leise. Dann leuchtet ein Lämpchen an dem kleinen, schwarzen Kasten rot auf. Meine Miene gefriert.
Hektisch halte ich dieses verdammten Drecksschlüssel erneut hin, die Lampe zeigt dieselbe Farbe. Das kann nicht sein, nicht so kurz davor. Ich dachte, das wäre ein Universalschlüssel? In einem letzten, verzweifelten Versuch ergreife ich die Türklinke, drücke hinunter, ziehe, lehne mich fast mit meinem gesamten Gewicht dagegen, als sich eine weitere Hand auf meine legt. Sofort erstarre ich, spüre die Wärme eines anderen Körpers an meinem Rücken, den Atem auf meinen Haaren.
»Das Türschloss ist nach 19 Uhr gesperrt, auch für die Universalschlüssel.«
Die männliche Stimme ist tief und selbstsicher. Mein Herz klopft mir bis zum Hals, ich kann nicht schlucken, atme zu flach. Panik fegt mein Hirn leerer als es sonst schon ist.
»Es sei denn, man hat eine höhere Stellung natürlich«, fügt er an, »Doch das scheint mir bei Ihnen nicht der Fall zu sein. Ich habe Sie noch nie gesehen. Mit wem habe ich das Vergnügen?«
Ganz langsam lege ich meinen Kopf in den Nacken und sehe nach oben, direkt in die zusammengekniffenen, kritischen Augen. Er ist so viel größer als ich, das hätte ich nicht erwartet. Bei seinem Anblick schießt heißer Zorn durch mich hindurch, die Emotionen von 21 kochen über. Ich weiß nicht, was ich antworten soll, also lächele ich bloß ein verzweifeltes Lächeln.
Kelian Jenson erwidert es nicht.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top