▸ 08. Die Operation braucht einen Namen!

»Projektleiter Kelian Jenson will erneut betonen, wie wichtig das Pneuma ist. Das OS ist für jeden Hinweis dankbar, der an die Polizei weitergegeben wird«, lese ich mit bebender Stimme weiter. Darauf folgt eine Beschreibung von Lysander und vom Aussehen des Glasfläschchens, das Pneuma, was alle Zweifel ausschließt. Das Teil, das ich zertrümmert habe, ist tatsächlich der Gegenstand, der vermisst wird.


Wir müssen etwas tun.
Geht es 21 gut? Kelian kann anscheinend Leute verschwinden lassen! Man sucht nach dem Pneuma, man sucht nach... mir. Siedende Hitze befällt mich und plötzlich kriege ich Stresskrämpfe, die ich seit Jahren nicht mehr hatte. Ich finde das alles nicht gut. 21 mag zwar ganz okay sein und ich muss zugeben, dass wir uns gestern super verstanden haben, aber ich will nicht auch verschwinden!


»Mallory? Jetzt musst du wieder etwas für dein Geld tun!«, ruft mich Loenie zurück. Ich schalte mein Handy auf stumm, stecke es mit dem Notizbuch in meine Handtasche, bei der ich den Reißverschluss sorgfältig schließe. Dann werfe ich meinen Mantel darüber, bevor ich aus dem Nebenzimmer rausche. Fuck, fuck, fuck. Warum muss ich so schusselig sein und das Teil zerbrechen? Ich sehe mich unruhig um, aber nur Loenie ist im Laden. Sie können mich nicht finden, oder? Sie wissen nicht, wie ich aussehe. Sie wissen nicht, wer ich bin.


Und was, wenn sie Lysander gefangen haben und foltern, bis er meinen Namen verrät? Halt, weiß er überhaupt, wie ich heiße? Ich habe es ihm nicht gesagt, oder? Nein, ich glaube nicht. Ich hoffe es. Außerdem war es dunkel. Es gibt hunderte von jungen Frauen hier, die mir ähnlich sehen. Zumindest versuche ich, mir das einzureden. 21 bleibt leise, besser so. Schließlich hat sie mir den ganzen Schlamassel eingebrockt. Je eher ich meinen Körper wieder für mich habe, desto besser.


Der Vormittag verläuft weiterhin ereignislos, abgesehen davon, dass ich innerlich ein Chaos bin. Ich gebe zwar mein Bestes, um es zu verbergen, aber natürlich fällt es Loenie trotzdem auf. Immerhin bohrt sie nicht unangenehm nach und lässt mich in Ruhe. Keine Selbstverständlichkeit, wenn man mal eine Weile mit anderen Personen verbracht hat. Für einige Zeit kann ich die ganze Thematik jedoch etwas ausblenden, da ich mich darauf konzentrieren muss, meinen Kunden das Richtige zu empfehlen.


In der Mittagspause ziehe ich mich ins Nebenzimmer zurück, während Loenie schnell etwas essen geht, und komme nicht umher, mein Handy doch hervorzuholen. 21 hat sich nach wie vor nicht gemeldet. Ich überfliege die neusten Artikel, es sind drei hinzugefügt worden, aber sie beinhalten kaum neue Informationen - Aufrufe zu Hinweisen, Erwähnungen des Pneumas (aber immer als »Instrument zur Forschung«, nie als Seele, Kelian hält den Versuch mit 21 geheim) und wie schockierend die ganze Sache ist.


Zögerlich bewegt sich mein linker Arm. Ich seufze und nicke. 21 schlägt das Notizbuch auf und eigentlich will ich gar nicht wissen, was sie mir sagen - oder schreiben - will.
Ich hoffe, du verstehst, wie wichtig es ist, dass ich meinen Körper wieder erlange und wir die Sache ans Licht bringen.
Da kann ich nicht anders als zuzustimmen.
Es gibt einen Code, der im Team untereinander bekannt ist und den ich am Eingang nennen kann. Wir sollten damit eigentlich ins Gebäude gelangen können.
»Das heißt, ich soll allein da rein?«


Du und ich, erwidert 21. Also allein, sie zählt nicht. Ich schweige. Obwohl ich ungern mit zu vielen Leuten auf einmal zu tun habe, gefällt mir Einzelarbeit auch nicht. Schon in der Schule nicht. Manchmal fehlt mir einfach der Funken, der die Idee entzündet, oder die Energie, die das Feuer brennen lässt. Zu zweit oder zu dritt hat es bisher am besten funktioniert, natürlich am liebsten mit...


Devika. Meine beste Freundin. Meine beste Freundin, die einen Job im OS hat. Mein Magen dreht sich bei dem Gedanken, dass sie mit der Angelegenheit etwas zu tun haben könnte.


»Was wäre, wenn ich Devika einschalte?«, murmele ich, aber ganz wohl ist mir bei der Sache nicht. Ich will sie auf gar keinen Fall in Gefahr bringen. Der Auftrag des OS ist echt eine Chance für sie und wenn sie jetzt Probleme mit der bekanntesten Forschungsgruppe bekommt...
Deine Freundin, mit der du gestern gefrühstückt hast?
Ich nicke. Ich sollte sie wirklich nicht reinziehen, allerdings hat sie eine verdammt vorteilhafte Position für uns. Eventuell hat Devika Schlüssel, mit denen wir innerhalb des OS abgesperrte Bereiche betreten könnten. Sie ist zwar nur - in Anführungszeichen - Informatikerin und wird daher wohl kaum Zutritt zu den Forschungslaboren haben, dennoch bin ich überzeugt davon, dass ihre Hilfe bloß nützlich sein kann.


Außerdem ist sie intelligent. Und damit ergänzt sie mich gut.
Ich weiß nicht. Mir ist nicht so wohl bei dem Gedanken, jemanden Fremden dabeizuhaben.
»Devika ist nicht fremd. Ich kenne sie seit Jahren, sehr gut sogar. Und mit ihrer Stelle im OS sollten wir sie nicht übersehen«, widerspreche ich, wobei meine Stimme zittert. Offensichtlich bin ich nicht ganz so überzeugt davon. Schließlich könnte das ihre Karriere zerstören (vielleicht, ich weiß nicht, wie das in den Informatikerkreisen läuft).


Ganz ehrlich... Am besten wäre es, wenn es nur wir beide sind. Was, wenn diese Devika versehentlich einen falschen Satz sagt und uns verrät? Kelian ist gefährlich, Mallory. Er hat Lysander verschwinden lassen und kommt damit davon. Wir müssen diesen Einbruch so schnell wie möglich durchziehen und das allein. Ich kann niemandem so schnell vertrauen, tut mir leid.
Einbruch. Das klingt extrem kriminell und ich hatte nie vor, kriminell zu werden. Das Kriminellste, was ich mache, ist die Straße bei rot zu überqueren. Und okay, einmal habe ich Schokolade gestohlen, aber da war ich neun oder so.


Wir brauchen einen cooleren Namen. Operation Seelenrückkehr. Mission Ich-gefährde-mein-normales-und-gemütliches-Leben. Nein, das ist zu lang. Streng dein Denkorgan an, Mallory!
Verstehst du mich?
Ach ja, 21 ist auch noch da. Ich lese die geschwungene Schrift mehrmals. Wenn man bedenkt, was ihr passiert ist, wie kann man sie nicht verstehen? Ich bezweifle, dass ich danach noch irgendjemandem über den Weg trauen würde. Allerdings kennt 21 Devika nicht.
»Ja. Aber du musst auch mich verstehen. Für Devika würde ich meine Hand ins Feuer legen.«
Mallory, du


Doch weiter lasse ich 21 nicht schreiben. Ich schlage das Notizbuch zu, stecke es in meine Handtasche und verlasse mit meinem Portemonnaie und Handy den Laden, während letzteres bereits mit gewählter Nummer an meinem Ohr liegt. Auf dem Weg zu meinem Lieblingssnackcafé halte ich Ausschau nach Nachrichtenmeldungen auf den großen Bildschirmen, die im Einkaufszentrum aufgestellt worden sind.


»Was ist los?«, meldet sich Devika.
»Hey. Hast du Zeit heute Abend? Du kannst zu mir kommen. Ich koche.«
Leises Lachen dringt durch den Lautsprecher.
»Du kochst? Na ja. Komm lieber zu mir rüber, ja? Wir können Sushi bestellen, ich zahle. Gibt es irgendeinen Grund, weshalb du dich so plötzlich treffen willst? Außer natürlich, dass du mich vermisst hast.«


Trotz der angespannten Situation muss ich schmunzeln. Sie schafft es mit ihrem neckenden und gleichzeitig besorgten Ton immer, mich etwas zu beruhigen. Ich habe dieses Mädchen nicht verdient, aber ich behalte sie mal trotzdem, so egoistisch bin ich. Ein Ziehen in meiner Brust verrät mir, dass das 21 gar nicht gefällt, ein Schwung ihrer Furcht kippt über mich. Ich erzittere. Sie hat Vertrauensprobleme, eindeutig. Ich sollte ihr einen Therapeuten suchen, wenn sie einen eigenen Körper hat.


»Ich muss dir etwas erzählen. Und ich brauche deine Hilfe«, gestehe ich, als ich das Café betrete. Mein Blick schweift zur Angebotstafel, obwohl ich schon weiß, dass ich sowieso wieder dasselbe wie immer nehmen werde. Die wenigen Tische sind knapp zur Hälfte besetzt, kein Wunder, viele Leute holen sich hier ihr Mittagessen. Brav stelle ich mich in die Schlange.


»Oh. Worum geht's denn?«
Im Hintergrund klackern Tasten. Wahrscheinlich arbeitet Devika gerade, ich sollte sie nicht zu lange stören. Kurz zögere ich. Ist es wirklich richtig von mir, ihre Unterstützung zu beanspruchen - Für etwas, an dem allein ich die Schuld trage? Vielleicht hat 21 Recht und es ist nicht gut, sie zu fragen... Ich schüttele den Kopf. Schwachsinn. Ohne Devika wäre ich aufgeschmissen.


Außerdem bedeutet es nicht, dass sie gleich dabei ist, wenn ich ihr von der Sache erzähle. Sie wird alles abwägen und mir dann mit vernünftigen, schlüssigen und logischen Argumenten darlegen, was ich tun sollte und was nicht. Möglicherweise wird sie mich auch in die Nervenklinik bringen, aber das Risiko muss ich eingehen.
»Ich kann dir das nicht am Telefon sagen.«
»Kriege ich zumindest irgendeine Einordnung? Gut, schlecht, kriminell?«
»Weiß nicht«, weiche ich der Frage aus, obwohl >kriminell< es eigentlich gut trifft, »Aber ich brauche auf jeden Fall deinen Ratschlag.«


Ein langes Seufzen.
»Na gut. Um wie viel Uhr willst du da sein?«
»So gegen 19 Uhr?«
»Geht klar. Ich muss jetzt weitermachen, der Auftrag ist etwas anstrengender als ich es erwartet habe. Wird schon. Wir sehen uns heute Abend!«
»Bis dann!«


Während ich dasselbe Sandwich esse, das ich die letzten Wochen bereits gewählt habe, stalke ich die Internetseite des OS und checke regelmäßig - alle fünf Minuten - neue Artikel, aber es erscheinen keine mehr. Anscheinend gibt es keine neuen Informationen. 21 bleibt stumm, aber ich spüre ihre Verbitterung in meinem Magen rumoren, so stark, dass ich mich frage, ob es nicht doch Periodenkrämpfe sind. Die sollten mich zwar erst in zwei Wochen quälen, allerdings kann man sich auf einen Rhythmus bei mir nicht unbedingt verlassen.


Der Nachmittag vergeht überraschend schnell. Da nichts weiter über Lysanders Verschwinden veröffentlicht wurde und Loenie das Thema nicht mehr angesprochen hat, kann ich mit ihr wieder über alles Mögliche reden und mich vollkommen auf die Arbeit konzentrieren. Dass das Schweigen von 21 bleibt, hinterlässt jedoch ein leichtes, unangenehmes Gefühl im Hintergrund, das ich versuche auszublenden. Selbst als ich nach Ladenschluss zurück nach Hause fahre, zeigt sich keine Regung.


So lange hat sich 21 noch nie zurückgehalten. Die Vermutung, dass ihre Seele meinem Körper entflohen ist, schleicht sich in meinem Kopf. Andererseits wäre das viel zu einfach. Ich will sie auch nicht aktiv ansprechen, schließlich sehe ich keinen Grund dafür, dass sie eingeschnappt ist, immerhin tue ich das, um ihr zu helfen! Ein kleines bisschen Dankbarkeit wäre schon angebracht, aber das ist wohl zu viel verlangt.


Trotzdem werde ich mit jedem Schritt zur Wohnung unruhiger. Habe ich doch etwas falsch gemacht? Geht es ihr gut? Hat mein Unterbewusstsein ihre Seele zerstört? So ziemlich das erste, was ich tue, als ich angekommen bin, ist, das Notizbuch und den Kugelschreiber demonstrativ auf meinen Küchentisch zu legen. Einige Sekunden lang stehe ich davor und warte darauf, dass 21 meinen Arm übernimmt und etwas hineinschreibt - So wie gestern.


Wir haben uns gestern ewig ausgetauscht, kaum über das OS, sondern über uns selbst. Ich habe ihr von meiner Serie erzählt, sie mir von einer Buchreihe, wir haben über die besten Haustiere diskutiert - Katzen, eindeutig - und über gute Weinsorten. Und jetzt meldet sie sich nicht mehr. Genervt schnalze ich mit der Zunge und begebe mich in mein Schlafzimmer, wo ich mich an den Laptop pflanze und einige Wikihow-Arikel durchforste, die mir beibringen wollen, wie man am besten irgendwo einbricht. Ich hole mir meine Tipps ja immer von Profis.


Nach einer Weile erbarmt sich 21 aber dazu, mir eine Nachricht auf dem Notizblock auf meinem Schreibtisch zu hinterlassen. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, sie ebenfalls zu ignorieren, allerdings bin ich nicht so gemein. Meistens zumindest.
Du wirst ihr alles sagen?
Was soll ich denn auslassen, hm?
»Ja. Und du wirst mich nicht davon abhalten können.«


Eine merkwürdige Gänsehaut überzieht mich und ich muss daran denken, wie 21 mich zu ihrer Wohnung geführt hat. Vielleicht könnte sie doch. Ich will es nicht herausfinden.
Verstanden. Wenn du das für das Richtige hältst.
»Das tue ich.«


Daraufhin schweigt 21, bis ich wenig später vor Devikas Wohnungstür stehe und mit klopfendem Herzen auf die Klingel drücke. Ich weiß nicht, warum ich so nervös bin, oder ob es überhaupt ich bin, die so nervös ist und nicht 21. Egal. Devika kann ich alles sagen.
»Da bist du ja endlich«, begrüßt sie mich mit einem Grinsen, ehe sie mich in eine rasche Umarmung zieht, die ich erwidere, ehe ich ihre nach Rosenkerzen duftende Wohnung betrete. Ich hänge meinen Mantel auf und stelle die Schuhe ab, bevor ich ihr in das Wohnzimmer folge. Das Sushi steht bereits vorbereitet auf Devikas Couchtisch, ich erkenne meine Lieblingssorten, der Wein ist auch schon eingeschenkt - Weißwein, ganz wie man ihn zu Sushi servieren sollte - und die Sitzkissen liegen auf ihren üblichen Plätzen. Sogar Kerzen hat meine beste Freundin aufgestellt, die als einzige Lichtquellen das Wohnzimmer in angenehm flackernd beleuchten.


Mithilfe irgendeiner merkwürdigen Hexenmagie schafft Devika es immer, ihre Wohnung sauber und ordentlich zu halten. Ich bin so neidisch auf diese Fähigkeit.
»Setz dich. Und dann spill the tea«, weist sie mich zwinkernd an. Mit einem Lächeln auf den Lippen lasse ich mich ihr gegenüber nieder und trinke erst einmal einen Schluck Wein. Während Devika sich das erste Stück Sushi in den Mund schiebt, sieht sie mich erwartungsvoll an.


Und dann erzähle ich ihr alles.

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