▸ 06. Welche Hobbys sind geeignet?

»Wie sieht dieser Lysander denn aus?«, bringe ich heraus. 21 beraubt mich diesmal nicht meiner Stimme, sondern meiner Beine und holt rasch das Notizbuch und den Stift aus dem Schlafzimmer. Sie schlägt es auf dem Küchentisch auf. Es ist bereits die zweite Seite.
Er müsste so groß wie du sein, dunkelbraune Haare, schlecht rasiert. Manchmal unsichere Ausstrahlung.

»Ja, das ist er«, bestätige ich mit laut klopfendem Herzen. Kurz-Nach-Deutschlehrer heißt Lysander. Langsam fügt sich alles zusammen. Eine Idee huscht durch meinen Kopf.
»Wie heißt er mit vollständigem Namen?«
Lysander Niaf. 21 behält lediglich die Kontrolle über meinen linken Arm, dafür gibt sie mir den Rest meines Körpers wieder frei. Ich kann nicht leugnen, dass ich mich mittlerweile daran gewöhnt habe.

Erneut stürme ich in mein Schlafzimmer, diesmal wegen meines Handys. Ich bin noch nicht zurück in der Küche, als ich Google öffne und seinen Namen in der Suchleiste eingebe. Dafür kassiere ich einen Stoß des Türrahmens gegen meine geschundene Schulter. Ich gebe ein halbherziges »Au« von mir, meine Konzentration auf den Suchergebnissen. In diesem Moment spüre ich richtig, wie mir 21 zuschaut.

Ich finde Bilder von ihm. Er hat bereits als Jugendlicher an Wissenschaftswettbewerben teilgenommen und ich bin ein bisschen neidisch, als ich sehe, wie viel Erfolg er damit hatte. Ich war nie besonders außergewöhnlich. Ein Jahr lang war ich in der Schülerzeitung, wo niemand etwas auf die Reihe bekommen hat. Dann habe ich es mit Theater versucht, aber da ich niemanden kannte und wir zu viele Leute hatten, musste ich einen Baum spielen.

Wisst ihr eigentlich, wie frustrierend es ist, bei jeder Probe anwesend sein zu müssen, wenn man letztendlich anderthalb Stunden stehen muss? Ich hatte nicht einmal Text. Nicht ein Wort. Ich habe vorgeschlagen, dass ich zumindest etwas sagen könnte wie >Ay, was sitzt auf mir und winkt?< und der arme Schüler, der einen Vogel spielen musste, hätte dann >Ein Huhu< sagen können und alle hätten gelacht. Aber aus irgendeinem Grund fand das unser Lehrer nicht so witzig und hat diese grandiose Idee abgelehnt. Lustiger Fakt am Rande, dieser arme Schüler war Rion, den seine Mutter zum Wahlkurs gezwungen hatte, als sie hörte, dass ich es mal versuchen wollte. Uns hat das gemeinsame Leiden sehr zusammengeschweißt.

An den beiden Tagen, an denen wir das Stück aufgeführt haben, war ich dann übrigens krank.

Ich schüttele den Kopf, um diese Erinnerungen zu vertreiben und mich zu konzentrieren. Ein Bild stach mir ins Auge, auf dem Lysander dem Aussehen am nächsten war, das er gestern Nacht hatte. Ich wähle es aus - Es gehört zu einem Artikel, der vor einigen Monaten erschienen ist.
»Das OS wagt neue Versuche in der Seelenforschung«, lese ich vor, »>Wir haben vielversprechende Ansätze gefunden<, so Projektleiter Jenson.«

21 schickt wütende Blitze durch mich und ich realisiere. Ich klicke das Bild an, zoome etwas. Insgesamt sind es fünf Wissenschaftler, die lächelnd um einen weißen Tisch in einer Art Labor stehen, darunter Lysander. Ich erkenne diese Art der Glasgefäße, die darauf stehen.
»Wer ist es?«, frage ich, diesmal überlasse ich 21 freiwillig meinen linken Arm. Sie deutet auf den Mann in der Mitte. Er ist groß, blond, hat etwas längere Haare, die auf einem schmalen Grat zwischen perfekt messy und ungewaschen wandeln.

Sein Blick ist durchdringend und zielstrebig, er hat die Lippen zu einem matten Lächeln verzogen, einer der Mundwinkel ist weiter oben als der andere. Ein Bein ist mehr belastet, sodass er eine lockere Ausstrahlung hat, die im Gleichgewicht mit seinem fokussierten Gesicht steht. Er ist attraktiv, das kann ich nicht bestreiten.
»Das ist er«, wispere ich, meine Lippen kribbeln, »Kelian Jenson. Mein Ex.«

Sie ist so sauer, dass sie wohl kaum bemerkt, wie sie mein Handy zum Notizbuch auf den Tisch schmeißt. Ich will sie zurückhalten, aber ihre Seele ist stärker als meine. 21 knirscht mit den Zähnen und wendet sich dem Kochen zu. Ich beschließe, sie machen zu lassen, schließlich weiß ich nicht genau, was dieser Kelian mit ihr angestellt hat. Der Duft des Gerichts steigt mir in die Nase und obwohl mir bewusst ist, dass 21 gerade maximal angepisst ist, kann ich nicht anders als mich zu freuen. Ich bin eine einfach gestrickte Person - Ich habe Essen, ich bin glücklich.

Es dauert nicht lange, bis 21 alles angerichtet hat. Sie serviert Nudeln mit Stücken von gebratenem Hähnchenfleisch und Salat und setzt sich - mich - hin.
Guten Appetit, schreibt sie auf das Notizbuch und ich kann nicht anders als zu lächeln.
»Danke, 21«, meine ich. Mein Bein hört auf zu zittern. Während ich esse (und verdammt, schmeckt es gut - Wie hat sie das geschafft?), scrolle ich etwas durch die Suchergebnisse und recherchiere zusätzlich zu Kelian Jenson.

Da ich eine Null bin, was Wissenschaft angeht (nicht nur Wissenschaft, leider), kann ich seine Erfolge kaum einordnen, aber alles was ich finde, klingt beeindruckend. Mir wird schnell klar, dass er extrem gebildet ist. Ich überfliege einige Interviews. Manchmal scheint er auch arrogant zu sein, insgesamt allerdings gibt er sich große Mühe, ein gutes Image aufrechtzuerhalten. Seelenforschung ist seine Leidenschaft, die er am OS auslebt. Man bewundert ihn für seine Leistungen. Einige davon sind in Wissenschaftsartikeln erwähnt, doch ich bin zu dumm, um das richtig zu verstehen.

Ich kenne Kelian nicht, aber ihm unterstellen, dass er seine Freundin für ein Experiment genutzt hat... Das kann ich noch nicht. Bis auf die Berichte finde ich nichts über ihn, kein einziger Social Media Account. Auf dem offiziellen Profil des OS wird er nur namentlich erwähnt, nicht getaggt. Auch über 21 finde ich nichts. Sollten nicht eigentlich Suchanzeigen veröffentlicht werden? Ich schreibe die Frage auf. 21 antwortet sogleich.

Dieses Arschloch hat es wahrscheinlich geschafft, das zu vermeiden. Er war zum Zeitpunkt meiner Entführung mein einziger Angehöriger und hatte somit volle Kontrolle über das Verfahren. Später, als ich gefangen gehalten wurde, hat er mir erzählt, dass er der Polizei weisgemacht hat, dass mir die Arbeit zu viel geworden ist. Und hier gilt das freie Aufenthaltsrecht. Ich bin erwachsen, ich darf mich befinden, wo ich will.

»Und was passiert jetzt?«, hake ich zwischen zwei Gabeln nach, »Können wir nicht zur Polizei gehen und ihn anzeigen? Schließlich bist du frei. Dieser Lysander macht bestimmt eine Aussage und vielleicht finden sie Hinweise auf dieses Experiment.«
Meinst du wirklich, sie würden das glauben? Dass meine Seele in deinem Körper ist? Außerdem hat Kelian Kontakte überall. Es geht viel illegaler im OS zu als die meisten denken. Viele sind korrupt.

»Du hast mich gebeten zu helfen«, seufze ich, »Wie soll ich das denn anstellen? Eigentlich will ich damit nichts zu tun haben, weißt du. Mir ist das ein bisschen zu viel - Illegale Experimente und Entführung und Seelenforschung und so. Ich bin wirklich nicht die hellste Kerze auf dem Leuchter und nichts gegen dich, aber es wäre mir viel lieber, wenn ich die einzige Person in meinem Körper bin.«

Du hast zwei Möglichkeiten, schreibt 21 in schönster Schrift. Erwartungsvoll beuge ich mich vor.
Erstens, ich bleibe für immer bei dir.
Scheiße.
Zweitens, du hilfst mir meinen Körper wieder zu finden, damit wir getrennt voneinander unsere eigenen Leben leben können.
»Wie soll ich denn deinen verdammten Körper finden?«

Wir müssen ins OS.

»Ja, ne, klar, danke, tschüss«, meine ich darauf in einem Atemzug. 21 spinnt doch total. Wie denkt sie sich, soll ich es anstellen, in das vermutlich am besten gesichertste Institut weit und breit einzudringen? Ich bin weder Einbrecherin noch schlau genug, damit sie mich als Aushilfe oder so nehmen. Vielleicht würde ich es schaffen, mich als Putzkraft einzuschleichen... Mein Blick fällt auf den Abwasch. Nein, das auch nicht.

21 schreibt weiterhin etwas auf die Seite, aber ich ignoriere sie und esse stur weiter. Es ist wirklich komisch, mir nichts anmerken zu lassen, während mein linker Arm quasi ein Eigenleben hat. Das ist alles überhaupt nichts für mich. Wenn ich doch bloß das Glas nicht zerbrochen hätte! Dann wäre 21 noch in der Flasche drin und ich könnte normal weiterleben. Kann ich sie nicht irgendwie zurückstecken? Ich seufze. Nein, dieser kleine Käfig, den 21 vorhin erwähnt hat, ist ja ebenfalls kaputt und ohne ihn geht das alles nicht. Und außerdem - Wie soll ich es schaffen, ihre Seele von meinem Körper zu trennen, wenn selbst die besten Wissenschaftler Jahre dafür gebraucht haben?

Genau, gar nicht. Was für eine Scheiße (auch bekannt als mein Leben). Während ich dramatisch ins Nichts starre, esse ich weiter. Irgendwann reicht es mir aber damit, die Opferrolle zu spielen - Ich habe wirklich einen Hang zum Selbstmitleid - und ich sehe mir an, was 21 hinzugefügt hat.

Ich weiß, dass das viel verlangt ist, aber wir haben keine andere Wahl! Bitte, Mallory. Wenn alles rauskommt, profitierst auch du! Ich werde es dir auf jeden Fall zurückzahlen, versprochen. Und ich werde dir helfen, auf jeden Fall. Kelian hat mich oft mitgenommen, ich kenne mich im OS aus. Ich bitte dich, ich will wieder zurück. Das ist kein Zustand, für keinen von uns.

Da hat sie allerdings Recht. Aber ich bleibe stur, weil ich ein ziemlich unreifer Mensch bin, und stelle das Geschirr wortlos zum restlichen Abwasch. Es klappert etwas. Langsam wird es Zeit, dass ich mich damit mal auseinandersetze... Doch nicht jetzt. Hey, meine Serie hat eine neue Folge heute veröffentlicht, ich sollte mir die anschauen. Mein Blick bleibt am Notizbuch hängen. Scheiße, 21 hat geschafft, dass ich mich schuldig fühle. Bin anscheinend doch etwas menschlich.

»Wir können es versuchen«, gebe ich seufzend nach und überlege schon mal, welche Hobbys man auch im Gefängnis ausüben kann.

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