▸ 01. Hey, Dead!
Der Mond versteckt sich hinter den Wolken und all die Menschen in ihren Wohnungen. Ich kann es ihnen nicht verübeln, ganz im Gegenteil. Eigentlich wäre ich am liebsten auch dort - In meiner Wohnung. Am besten noch in meinem Bett, schlafend. Seufzend lege ich den Kopf in den Nacken, in der Hoffnung, oben etwas funkeln zu sehen. Keine Sterne, Dunkelheit. Na ja, bis auf die Straßenlaternen, die den gelben Fleck in meinen Augen gnadenlos zerstören. Leise fluchend senke ich den Blick wieder und versuche die leuchtenden Punkte in meiner Sicht weg zu reiben.
Ich habe in etwa so viel Erfolg wie ich ihn auch in meinem Liebesleben habe (keinen, für diejenigen, die das nicht so ganz verstanden haben). Nach einigen Sekunden kann ich endlich wieder vernünftig meine wunderschöne Umgebung - sprich: das dreckige Viertel meiner Wohngegend - klar sehen. Was ein Genuss. Der einzige Ort hier, an den ich bis auf die U-Bahnstation mit einem Ticket bewaffnet gerne gehe, ist der Park.
Und, oh Wunder, ich stehe genau davor. Natürlich könnte ich sagen, dass meine Beine (die von dem ganzen Gelaufe übrigens etwas wehtun) mich von selbst dorthin getragen haben, weil das so ein bedeutender Ort für mich ist und Kindheitserinnerungen und dies und das... Aber das wäre gelogen, denn ich mag diesen Park wirklich nur, weil er schön ist, nichts Poetisches dahinter. Ich bin da sehr ehrlich. Meine Mutter hat mir immer gesagt, dass man nicht lügen sollte, egal, wie sehr die Wahrheit schmerzt. Das war ungefähr zu der Zeit, in der sie meinen Vater betrogen hat.
Es ist ein umzäuntes Gelände mit Kieswegen, hohen Bäumen und Wiesen, auf denen sich im Sommer kleine Kinder tummeln und sich gegenseitig Erde ins Gesicht schmeißen, einem kleinen klischeehaften Teich mit Enten und mit Goldfischen. Zumindest waren die mal da, bis sie vor einem Monat geklaut worden sind. Also muss ich mich korrigieren: Ein kleiner klischeehafter Teich mit Enten und nun einem billigen Plastikfisch als Ersatz für die Goldfische, von dem keiner weiß, wie er dort gelandet ist.
In der Hoffnung, dass keine dummen Jugendlichen auf die Idee gekommen sind, heute Nacht ein Lagerfeuer zu machen, stoße ich das schwarze Metalltor auf und husche leise hinein. Das war allerdings unnötig, denn die Scharniere wurden das letzte Mal vor geschätzten zehn Jahren geölt. Es quietscht so laut, dass in der Ferne irgendwelche Vögel flüchten. Feiglinge. Ich höre genau hin, ob ich schlechten Deutschrap, Bierflaschenklirren und betrunkenes Gelächter wahrnehme, doch das ist glücklicherweise nicht der Fall.
Beruhigt schlendere ich über die Wege. Die Steine knirschen leise unter meinen Sohlen, ein bisschen wie Schnee (aber wirklich nur ein bisschen). Eine sanfte Brise macht die schwere nächtliche Sommerluft erträglich. Die Blätter wiegen sich leicht, das Licht der altmodischen Laternen zeichnet ihre Konturen in der Finsternis. Es ist so angenehm still, so wunderbar. Ich schließe die Augen ein paar Sekunden, um die Atmosphäre zu genießen. Vielleicht hilft es mir, etwas müder zu werden.
Während meiner üblichen Runde durch den Park halte ich bei der Bank am Teich an und setze mich. Gerne würde ich jetzt die Goldfische beobachten, aber im Wasser dümpelt lediglich Dead herum. Ich habe soeben beschlossen, den Plastikfisch Dead zu nennen - Aus dem simplen Grund, dass er wie tot aussieht. Und weil er die anderen Tiere vermutlich in ihren Tod gerissen hat. Mit meiner Handytaschenlampe beleuchte ich das winzige Gewässer. Dead treibt seitlich an der Oberfläche. Zufrieden stelle ich fest, dass der Name passt.
Endlich zeigt sich der Mond. Mit einem sanften Lächeln hebe ich den Blick, werde diesmal nicht geblendet. Ein Viertel momentan und trotzdem ziemlich hell. Gefangen in dem Licht bemerke ich die Schritte erst ein paar Sekunden später.
»Dead?«, wispere ich, »Hey, Dead, hast du das gehört?«
Er antwortet mir nicht (zum Glück, das wäre reichlich unheimlich). Langsam stehe ich auf, hole mit einer Hand das Pfefferspray heraus und mit der anderen meinen Schlüssel. Man weiß nie.
»Hallo?«, frage ich in die Dunkelheit wie die Person in den Horrorfilmen, die immer zuerst umgebracht wird. Ich muss zugeben, darauf habe ich jetzt gar keine Lust, schließlich kommt morgen die nächste Folge meiner Lieblingsserie raus. Die Schritte nähern sich, sie sind schnell. Jemand rennt. Flüchtet? Scheiße, nicht einmal in Ruhe spazieren gehen kann man! Angespannt beiße ich meinen Kiefer zusammen und nehme Abstand vom Teich.
Die Silhouette einer Person wird deutlich. Ein junger Mann. Oh nein, ein junger Mann. Aber er wirkt nicht wie ein schamloser Bastard, eher verunsichert. Panisch. Ich kriege eine ganz schöne Abwechslung geboten.
»Hi?«, ruft er zurück, wobei seine Stimme bricht. Wäre das eine andere Situation, hätte ich über den Voicecrack gelacht. Meine Mutter hat mal gesagt, Männer, die so tun als wären sie unsicher, wollen dich eigentlich nur täuschen. Zu der Zeit hat sie übrigens ihre Affäre kennengelernt.
»Hallo«, erwidere ich.
»Hi«, wiederholt er sich und bleibt stehen. Er wirkt als wäre er ein ganz schönes Stück gerannt. Ich schweige ihn an und warte darauf, dass er etwas sagt. Als das nicht passiert...
»Hallo?«
»Hi?«
»Geht das jetzt so weiter?«
»Was meinen Sie?«
Ich stecke meinen Schlüssel weg. Irgendwie bezweifle ich, dass dieser verwirrte, schwer atmende und bebende Mann mir gefährlich werden könnte. Zur Sicherheit allerdings behalte ich das Pfefferspray.
»Ich meine mein >Hallo< und dein >Hi<.«
Ich mache mir nicht die Mühe, ihn zu siezen. Wer mich bei meinem Mitternachtsspaziergang stört, hat das nicht verdient. Sorry, ich mache die Regeln nicht (Okay, diese schon).
»Hä?«, bringt er zwischen seinem ganzen Keuchen heraus. Mittlerweile nervt es mich.
»Vergiss es. Willst du zu Dead oder warum bist du hier?«
»Hä?«
»Ich seh' schon, wir werden keine Freunde«, seufze ich und lehne mich von hinten gegen die Lehne der Bank. Das Pfefferspray nimmt seinen Platz in der Jackentasche ein.
»Ich brauche Hilfe«, platzt Ich-bin-außer-Puste heraus. Meine Augenbrauen wandern in die Höhe, ganz wie meine Standards bei jedem Mal, bei dem ich meine Serie anschaue.
»Erstmal brauchst du eine Pause«, murmele ich.
»Können Sie mir helfen, bitte? Ich bin auf der Flucht und ich muss das in Sicherheit bringen.«
Er zieht etwas aus seiner Umhängetasche, das wie ein kleines Glasgefäß aussieht. Der Inhalt leuchtet merkwürdig stark in einem weißlichen Licht und wabert umher wie Rauch, der von hellgrauer Struktur umhüllt ist. Sie wirkt wie eine Käfigwand, die das Wirbeln zurückhält, aber ziemlich durchlässig ist. Ich stoße mich von der Wand ab. Was ist das? Eine neue Droge?
»Würden Sie mir den Gefallen tun und das an sich nehmen? Einfach darauf aufpassen und nicht aufmachen, ich weiß nicht, was dann passieren könnte. Aber er darf das nicht kriegen, niemand darf das, okay?«
»Wer?«
»Niemand.«
»Ja, den Teil habe ich schon verstanden, ich meinte, wer dieser >er< ist. Nicht, dass es mich interessieren würde.«
Spoiler: Es interessiert mich.
»Egal. Aber könnten Sie das tun?«
Er blickt unruhig umher als würde er erwarten, dass die Schatten jeden Moment lebendig werden. Ein Zittern breitet sich auf meiner Haut aus. Diese Situation... Vielleicht schlafe ich schon und träume das. Ich schaffe es nicht, meine Augen von diesem Glasgefäß zu lösen. Eine verschreckende und zugleich anziehende Aura geht davon aus. Wie ein magisches Relikt (oder zumindest so wie ich mir ein magisches Relikt vorstelle), aber das Fläschchen sieht aus wie das einer Medizin.
»Was ist das überhaupt?«, frage ich ohne den Mann anzusehen. Er ist nicht so interessant wie dieses milchige, leuchtende Nebelding. Ich starre es mit offenem Mund an. Es glitzert. Ich liebe Glitzer.
»Wertvoll. Es darf auf gar keinen Fall kaputtgehen.«
»Warum?«
»Sie würden es nicht verstehen.«
Beleidigt schiebe ich meine Unterlippe vor und blicke Ich-bin-außer-Puste nun doch in die Augen. Er zuckt zusammen, als mein selbstbewusster Blick seinen trifft.
»Tun Sie es jetzt?«
»Was?«
»Darauf aufpassen. Einfach irgendwo in Ihrem Haus verstecken, damit es niemand mehr findet - Und auf keinen Fall öffnen.«
Krass, dass er von mir erwartet, dass ich mir ein Haus leisten kann.
»Warum vertraust du einer Wildfremden?«
Inzwischen hat sich Ich-bin-außer-Puste wieder etwas beruhigt, sodass mein liebevoll gewählter Spitzname nicht unbedingt passt. Ich scanne ihn, um etwas anderes Charakteristisches zu bemerken.
»Weil ich niemanden habe, der mir nicht fremd ist.«
»Autsch«, erwidere ich und verziehe das Gesicht. »Du solltest mal Freunde suchen.«
»Danke?«
»Bitte, bitte.«
Ich blicke das Leuchtding wieder an. Ich weiß nicht warum, aber ich will es haben. Es ist so hübsch, ganz wie ich.
»Für wie lange müsste ich das Wertvoll denn behalten?«, frage ich.
»Das was?«
Ich atme ganz tief ein und aus. Diese Unterhaltung ist die hirnrissigste, die ich seit Jahren hatte. Ganz knapp davor ist nur die Diskussion mit meinem Deutschlehrer, aber der war ohnehin nicht mehr zu retten. Kein Wunder, er hat Deutsch studiert.
»Das in deiner Hand.«
»Oh, ach so. Ich weiß es nicht.«
Manchmal wünsche ich mir wirklich, dass ich Fragezeichen aussprechen könnte. Jetzt ist einer dieser Momente. Vielleicht ist der Kurz-Nach-Deutschlehrer auf Drogen und das in seiner Hand eine neue Erfindung von IKEA. Denen traue ich aber auch alles zu. Ich kneife die Augen zusammen, um bei den mäßigen Lichtbedingungen zu erkennen, ob seine Pupillen normal groß sind. Scheint ganz so. Also doch keine Drogen.
»Und wer bist du eigentlich?«, fällt mir ein.
»Das darf ich dir nicht sagen.«
Aha. Super. Da kann ich mir aber eine Menge drunter vorstellen.
»Zusammengefasst willst du, dass ich ein unbekanntes Wertvoll von einem unbekannten Kurz-Nach-Deutschlehrer annehme und für unbekannte Zwecke einen unbekannten Zeitraum lang darauf aufpasse - Und es unter keinen Umständen kaputtmache?«
»Von einem was?«
»Dir.«
»Aha... Und, uhm, ja. Schon irgendwie.«
Er fährt sich durch die Haare und meidet meinen Blick, wie die ganze Zeit auch schon. Dafür hält er Ausschau nach nicht existierenden Verfolgern. Ich lehne mich wieder gegen meine Bank, verschränke meine Arme. Wo bin ich hier hereingeraten?
»Also... Was sagen Sie?«
Ich betrachte mein Gegenüber eine Weile, dann drehe ich meinen Kopf Richtung Teich. Solch eine Entscheidung sollte man nicht ohne vernünftige Ratschläge treffen, so dumm bin ich nicht, keine Sorge. Ich weiß, dass ich wahrscheinlich ablehnen sollte, aber es leuchtet wirklich hübsch und passt außerdem perfekt in meine Einrichtung. Deswegen frage ich lieber nochmal nach.
»Hey, Dead, wenn du in den nächsten zehn Sekunden nichts sagst, dann nehme ich das Wertvoll an, also denk gut nach!«
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