Kapitel 29
„Joanna, warum hast du das getan? Wieso nur?"
Shirley saß im Flur des Krankenhauses. Ihr schwarzes Sommerkleid mit Blut beschmiert; ihr Gesicht schwarz, von Mascara verschmiert und zerzausten Haaren.
Joanna saß wie ein Häufchen Elend neben ihrer Mutter und wagte nicht irgend jemanden anzusehen. Sie machte sich heftige Vorwürfe. Das sollte sie auch. Immerhin war sie an allem Schuld.
„Warum hast du mich die ganze Zeit im Glauben gelassen, wir seien Freunde, wenn du doch so verletzt warst?"
„Ich...ich war nur so eifersüchtig. Ich konnte es nicht verstehen. Du warst immer so abweisend zu ihm, wie konnte er sich da in dich verlieben?"
„Selbst wenn, du kannst doch nicht deswegen auf jemanden schießen."
„Ich wollte ja auch nicht ihn erschiessen", antwortete Joanna patzig.
„Du hast ja keine Ahnung was du damit angerichtet hast. Leon ist Herzkrank. So eine ernste Verletzung wird er niemals überstehen."
Wieder versank Shirley in einem Meer aus Tränen.
„Leon...ist...was?"
„Ja Joanna, er ist schwer krank. Alles was ihn noch retten kann, ist ein neues Herz. Doch so wie die Situation sich entwickelt hat, bin ich mir nicht mehr sicher, ob er die nächsten vierundzwanzig Stunden überleben wird."
„Ist das wahr?, fragte Lore jetzt ganz bedrückt.
Shirley nickte.
„Ich selbst habe es auch erst heute erfahren. Eigentlich wollte Leon es nicht einmal mir mitteilen, er hätte sogar dafür mit mir Schluss gemacht. Nur habe ich die Wahrheit nach der Meisterschaft herausgefunden."
„Wie? Er hat mit dir Schluss gemacht, weil er sterben wird?"
Wieder nickte Shirley, dieses Mal zu Joanna.
„Ich war deshalb bei deinem Vater, um es mir bestätigen zu lassen."
„Jetzt begreife ich erst, wie viel du ihm bedeutest. Ich nahm an er würde deiner bald wieder überdrüssig werden, weil du ihn ständig zurück gewiesen hast. Aber er hat dich belogen, um dir weiteren Kummer zu ersparen und heute hat er sein Leben für dich riskiert."
Joanna vergrub das Gesicht in den Händen und schrie.
„Wieso musste er nur den Abzug drücken?", fragte sie traurig.
„Er hat...den Abzug gedrückt?", fragte Lore noch einmal.
Joanna nickte schwach, immer noch die Hände vorm Gesicht.
Einen Augenblick schwiegen alle. Hatte Leon so wenig Vertrauen und Hoffnung, dass er einfach so abtreten wollte?
~
Panisch rannte Tina mit einem Tränenschleier vor den Augen durch das Krankenhaus. Die Rox hinter ihr. Sie hatte von Shirley diesen verzweifelten Anruf bekommen. Dabei hatte sie kaum ein Wort durch ihr Geschluchze verstanden. Nur, dass Leon mit einer Schussverletzung im Krankenhaus lag und dass Joanna diejenige war, die auf ihn geschossen hatte. Tina wusste, was das bedeutete. Ihr Bruder brauchte jetzt alles Glück dieser Erde, um zu überleben.
Sie schwang die breite Doppeltür auf und entdeckte sofort Shirley, Joanna und Misses Noris, Lore. Nur allein deren Anwesenheit hatte Joanna es zu verdanken, dass Tina sie nicht auf der Stelle auseinander nahm.
„Joanna!", rief sie aber quer über den Flur und stapfte mit langen Schritten auf sie zu. Joanna sprang erschrocken auf und wich vor den Rox zurück.
„Du hast auf meinen Bruder geschossen?"
„Tina bitte, ich wollte das gar nicht", krächzte Joanna kläglich.
„Ach ja? Was wolltest du dann?"
„Tina beruhige dich bitte. Sie wollte mich erschießen, Leon hat zuvor aber selbst den Abzug gedrückt", erklärte Shirley und stand auf.
Mit blankem Entsetzen starrten alle Rox Shirley an.
„Und das soll mich beruhigen?", krächzte Tina schockiert.
„Ich kann schon das eine nicht glauben, aber das andere noch weniger", knurrte Vince.
„Warum sollte Joanna auf dich schießen? Ich dachte ihr seid Freunde."
„Es geschah aus Eifersucht. Sie war es auch die mir Rico und Justin aufgehalst hat. Sie hat die beiden bezahlt, um mich von Leon zu trennen", erklärte Shirley mit monotoner Stimme.
„Ich kann nicht glauben, was ich da höre, Joanna. Ich habe dir nicht beigebracht dich so zu verhalten", schimpfte Lore gekränkt und traurig zugleich.
„Ach Mama...", begann Joanna, konnte den Satz aber nicht zu Ende führen, weil Brian Noris zu ihnen kam.
„Doktor!"
Tina kam aufgeregt auf ihn zu.
„Bitte sagen Sie mir, dass mein Bruder noch lebt."
„Ja, Tina, das tut er."
Es ertönte ein allgemeines Aufatmen.
„Allerdings nicht mehr lange, wenn wir nicht umgehend einen Spender für ihn finden. Der Blutverlust war entschieden zu hoch, als das sein Herz das auf Dauer ausgleichen könnte."
„Ist den schon etwas in Sicht?", fragte Alex.
„Noch nicht. Es ist zu kurzfristig. Wir müssten uns mit anderen Krankenhäusern in Verbindung setzen. Meine Kollegen haben auch schon damit begonnen. Es wird knapp."
Tina sackte auf der Bank zusammen. Shirley nahm sie tröstend in den Arm. Damit wollte sie eigentlich nur verhindern selber gleich durchzudrehen.
„Hat er wirklich selbst geschossen?", fragte sie leise.
Shirley nickte.
„Er wollte wohl nicht mehr leben. Er hat die Hoffnung verloren."
„Das ist es nicht, Shirley. Mein Bruder wollte nicht sterben, dass weiß ich. Ich glaube er hätte es einfach nicht ertragen uns leiden zu sehen."
Sie machte eine kurze Pause und wagte einen flüchtigen Blick zu Shirley.
„Daher hat er auch vorgetäuscht was mit Rikki zu haben. Er wollte nicht, dass du leidest, wenn er...wenn er..."
Tina seufzte schwer.
„Er wird nicht sterben. Er kann nicht einfach so abtreten. Dann werde ich in Berufung gegen Gott gehen."
Tina wagte ein leichtes Lächeln.
„Ich auch", erklärte Alex leise aber entschlossen. Die anderen ROX stimmten mit ein.
„Ihr könnt jetzt zu ihm. Doch bitte nicht alle auf einmal", sagte der Arzt in die Runde.
Tina folgte der Anweisung und bat Shirley als erstes mit ihr zu kommen. Zögernd betraten die Mädchen Leons Krankenzimmer und blieben vor seinem Bett stehen.
Dort lag Leon mit geschlossenen Augen an mehrere medizinische Geräte angeschlossen und schlief. Das war ein furchtbarer Anblick. Wie lange würde sein Herz noch durchhalten?
Vorerst lebte er zwar noch und laut Dr. Noris hatte er auch die OP an der Schusswunde gut überstanden, aber trotzdem blieb er bewusstlos.
Es stand nicht gut um sein Herz und mit jeder weiteren Stunde, schwand die Hoffnung auf ein Spenderherz.
Er stand schon länger auf der Liste, aber nun war er ein Risikofall.
„Wie viel Zeit bleibt ihm noch?", fragte Tina zwischendurch, als der Arzt ins Zimmer kam. Die Sonne war schon längst untergegangen. Ein anstrengender Tag neigte sich dem Ende zu.
„Er kann noch Tage haben, oder aber nur Stunden. Das liegt ganz bei Leon. Wir kämpfen jedenfalls um jede Minute."
Eine ehrliche aber nicht sehr hoffnungsvolle Antwort.
Shirley bekam einen Anruf von ihrem Vater, der sich mal wieder Sorgen um sie machte. Als er jedoch erfuhr was los war, kam er persönlich ins Krankenhaus.
Zu Shirleys Überraschung spielte er nicht den mürrischen Vater. Er berichtete, dass Joanna in Untersuchungshaft sitzen würde, woraufhin Shirley sofort anbot als Zeugin auszusagen.
„Das sollst du auch gerne tun, Kind, nur ist jetzt Leons Gesundheit wichtiger. Gibt es schon Neuigkeiten?"
Shirley schüttelte den Kopf.
„Wir warten immer noch auf ein Herz. Doch je länger es dauert, desto schwieriger und riskanter wird die OP."
„Verstehe", murmelte Jack nur und kratzte sich am Hinterkopf.
„Ich begreife nicht ganz was hier los ist, aber...ich hoffe, dass Leon wieder gesund wird."
„Danke!"
Stunden warteten die ROX und Shirley auf einen Anruf, eine Nachricht, irgendwas. Zwischendurch schlief Shirley vor Erschöpfung auf der Bank ein und auch keiner der ROX wollte gehen. Die Jungs hatten sogar noch ihre Trikots an. Sam saß neben seiner Freundin auf dem Fußboden und hielt den Pokal ganz fest umklammert. Seine Augen starrten vor sich auf den Boden.
Irgendwann, mitten in der Nacht, kam Brian Noris angelaufen. Er hielt eine Nachricht in der Hand und lächelte aufgeregt.
„Wir haben eines!", rief er fröhlich.
Die ROX wurden munter. Auch Tina hörte die frohe Botschaft und kam aus dem Zimmer.
„Wir haben ein Herz. Es wird soeben von einem anderen Krankenhaus hier her gebracht."
Brian schnappte nach Luft und sah in die erleichterten Gesichter der jungen Menschen. Shirley konnte sich noch nicht ganz freuen, denn erst einmal musste Leon die OP überstehen. Außerdem war nicht gesagt, dass Leons Körper das Herz auch annehmen würde.
Also wartete sie eine weitere Stunde, in der Leon auf die OP vorbereitet wurde. Sie war nervös, als man das lange Bett aus dem Zimmer schob in Richtung OP-Saal. Ganz gleich welche Uhrzeit, die Ärzte würden ihn sofort operieren und Doctor Noris würde die OP leiten.
„Geht nach Hause, ROX, ihr könnt nicht die ganze Nacht hier warten. Ich melde mich sofort bei Tina, wenn wir fertig sind, aber es kann noch einige Stunden dauern", meinte er noch zu ihnen.
Es widerstrebte den ROX zu gehen. Doch was sollten sie sich hier die Beine in den Bauch stehen. Niedergeschlagen verabschiedeten sie sich.
Ein letztes Mal fasste Shirley an Leons kalte Hand und sah ihm schwermütig hinterher, als man ihn fort brachte. Mit gemischten Gefühlen ging sie hinaus auf den Parkplatz. Dort wartete Jack auf sie, doch sie wollte bei den ROX bleiben. Zögernd willigte ihr Vater ein und ließ sie gehen.
Die ganze Nacht warteten die ROX auf das Ende.
~
(Ein paar Wochen später)
Shirley saß auf dem aufgewärmten Felsen in der Sonne und schaute ins Tal. Ein warmer Sommerwind wehte durch ihr halb zurück gebundenes Haar und ließ ihren schwarzen Rock unruhig zucken. Da winkelte sie die Beine an und hielt ihn fest. Sie hörte Musik von Roxette und hing ihren Gedanken nach.
Dieser Sommer war unglaublich. Sie war durch Höhen und Tiefen gegangen, hatte das Schlimmste durchstehen müssen. Trotzdem hatte sie sich nicht unterkriegen lassen.
Ihr Blick viel auf den Bergsee, der unter ihr halb ihm Schatten verschwand und in dem die Rox ihren Spaß hatten.
Es schien, als wäre all das mit Rico, Justin und Joanna nicht passiert. Die arme Joanna, die sich so sehr in Leon verliebt hatte, dass es ihr den Verstand geraubt hatte. Der Gedanke an ihre beste Freundin stimmte Shirley wieder traurig. Sie würde sie niemals vergessen.
Man hatte sie dank Shirleys günstiger Aussage zwar nicht verknackt, aber wegen illegalen Waffenbesitzes wurde sie zu einem Busgeld verdonnert und musste Sozialstunden leisten. Außerdem hatten Brian und Lore es für zwingend notwendig gehalten, dass Joanna eine Therapie machte.
Ihr Studium würde sie wohl später beenden müssen, was sie vorerst nicht so schnell in die Nähe der ROX brachte.
Shirley erschrak ganz furchtbar, als jemand ihr von hinten ein paar kalte, nasse Hände auf die Schultern legte. Ihr weißes Oberteil saugte die erfrischenden Wassertropfen sofort auf, als sie ihren freien Rücken hinunter bis zum Stoff liefen. Sie hob den Kopf.
Er lächelte und ließ sich neben ihr am Rande des Felsens nieder. Sein bronzefarbenes Haar lag zu allen Seiten. Dann ließ er die Beine baumeln und klaute ihr einen Stecker aus dem Ohr.
„Na was hörst du dir an?"
Sie schenkte ihm einen vorwurfsvollen Blick. Er konnte sie doch nicht so erschrecken. Noch immer hasste sie es am Rücken angefasst zu werden, aber es war nicht mehr so schlimm. Sie hatte nun kein Recht mehr dazu sich so zu verhalten.
„Von Roxette 'Listen to your Heart'."
„Ich dachte du bist eher rockig veranlagt", meinte Leon schmunzelnd und gab ihr den Stecker zurück.
„Mir war gerade danach."
„Verstehe", gab er zurück. „Ich werde auf jeden Fall das nächste Mal auf mein Herz hören, wenn es mir etwas zu sagen hat."
Sie lächelte. Unbewusst fiel Shirleys Blick auf die Narbe auf Leons freier Brust. Er folgte ihrem Blick und legte den Arm um sie. Das war nicht schlimm. Er durfte das. Leon durfte alles, solange er sie nicht verließ.
Noch einmal hatte Shirley einen Schock erlitten, als man ihr mitteilte, dass sein Herz während der Operation versagt hatte und man nur mit viel Glück das neue Herz einsetzen konnte. Danach hatte es noch viele Wochen gedauert, bis man vollkommen sicher gehen konnte, dass sein Körper das neue Herz dauerhaft annehmen würde. Er hatte sich einer anstrengenden Reha unterziehen müssen.
Solange hatten alle um Leon bangen müssen. Nun war er bei ihr. Er lebte, atmete und war gesund.
„Jetzt sind wir beide vom Leben gebrandmarkt und du musst dich nicht mehr für deine Narbe schämen."
„Ich bin nur froh, dass du noch atmest. Nur versprich mir bitte eins..."
„Was?"
„Hör auf zu rauchen, ja?"
Er grinste noch breiter.
„Ich werde nie wieder eine Zigarette anrühren, noch zu tief ins Glas schauen. Von nun an verwaltest du meine Gesundheit. Ich möchte nur noch von einer einzigen Droge abhängig sein: Nämlich von dir."
Zufrieden küsste sie Leon.
„Das lässt sich einrichten."
Nach einem weiteren Kuss schmiegte sich Shirley an ihn und lauschte seinem regelmäßigem Herzschlag.
„Es ist ein deutliches Klopfen. Beruhigend für mich."
„Ich bin unendlich dankbar für diese neue Chance. Ich verspreche sie nicht mehr zu vergeuden. Ich werde fertig studieren und etwas aus meiner Zukunft machen. Schluss mit diesem blöden Job auf dem Bau. Schluss mit Straßenkrieg und Blödsinn."
Er schaute sie fragend an. „Wann ist noch gleich dein Vortanzen?"
„In zwei Tagen. Ich bin nervös."
„Das schaffst du schon. Ich bin froh, dass du das Tanzen nicht aufgibst. Dafür kannst du es viel zu gut."
„Ich werde wieder tanzen. Denn es gibt viel schlimmere Dinge, als darauf zu verzichten zu leben. Auch wenn ich meine Mutter immer vermissen werde, ich will weiter machen. Immerhin ist das Leben ein Geschenk. Es ist so wertvoll und kann so schnell vorbei sein. Das habe ich diesen Sommer gelernt."
„Ich habe das Gefühl dieser Sommer endet nie. Doch das finde ich gar nicht schlecht."
Leon stand auf und Shirley sah ihn verwundert an.
„Denn wenn es erst kälter wird, fängst du wieder an dir mehr anzuziehen. Das gefällt mir gar nicht. Ich möchte so viel wie möglich von dir sehen. Immerhin bist du wunderschön."
„Bist du jetzt unter die Süßholzraspler gegangen?"
„Nein, ich bin einfach nur verrückt nach dir, Shirley Montez."
Leon gab ihr einen intensiven Kuss, bevor er sich plötzlich von dem Felsen ins kalte Wasser fallen ließ.
Shirley schüttelte nur den Kopf und grinste in sich hinein. Sie hatte das Gefühl zu Hause zu sein. Sie war Glücklich.
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'I know there's something in the wake of your smile.
I get a notion from the look in your eyes, yea.
You've built a love but that love falls apart.
Your little piece of heaven turns too dark.
Listen to your heart when he's calling for you.
Listen to your heart there's nothing else you can do.
I don't know where you're going and I don't know why,
But listen to your heart before you tell him goodbye.
Sometimes you wonder if this fight is worthwhile.
The precious moments are all lost in the tide, yea.
They're swept away and nothing is what is seems,
The feeling of belonging to your dreams.
Listen to your heart when he's calling for you.
Listen to your heart there's nothing else you can do.
I don't know where you're going and I don't know why,
But listen to your heart before you tell him goodbye.
And there are voices that want to be heard.
So much to mention but you can't find the words.
The sense of magic, the beauty that's been
When love was wilder than the wind.
Listen to your heart when he's calling for you.
Listen to your heart there's nothing else you can do.
I don't know where you're going and I don't know why,
But listen to your heart before you tell him goodbye.'
- By Roxette
Ende!
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