Kapitel 26
Ein paar Tage später besuchte Shirley wieder den Schrottplatz. Dort hatte man eine riesige Party für Alex vorbereitet, der vor kurzem aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Shirley hätte es sich nie verziehen, wenn ihm noch schlimmeres passiert wäre. Sie gab sich immer noch die Schuld an den Geschehnissen der letzten Zeit. Aber ihr Vater hatte ihr versichert, dass es nicht ihre Schuld sei.
Wer konnte schon ahnen, dass Justin und Rico solche gefährlichen Menschen waren? Die beiden saßen mittlerweile beide im Gefängnis. Nicht lange nach Leons Anruf bei der Polizei, hatte sich Jack bemüht alle Hebel in Bewegung zu setzen, um Justin zu fassen. Man konnte ihn einfach nicht frei herum laufen lassen. Nicht nach dem, was er Alex angetan hatte.
Doch das verlangte nach einer anständigen Feier, also hatte sich Shirley wieder zurecht gemacht und ein dunkles Kleid angezogen, dass ihr bis zu den Knien reichte. Auch die anderen Mädchen hatten sich verschönert, sofern das überhaupt möglich war.
Als Shirley jedoch Riki entdeckte, musste Shirley unweigerlich schlucken. Sie hatte ihre blonden Strähnen zusammen geflochten. Klar ihre Haare waren nicht so widerspenstig und struppig wie Shirleys. Außerdem trug sie einen Minirock, der gut als Gürtel durchgehen konnte und ein bauchfreies, beiges Top. Ihre Haut war sonnengebräunt.
Unbewusst sah Shirley an sich herunter. Sie war blass, zu dünn und struppig. Was hielt Leon nur bei ihr? Riki war heiß, sexy und hatte keine Probleme mit Depressionen oder komischen Exfreunden. Na super, das konnte eine prima Party werden, wenn Shirley Laune jetzt schon im Keller war.
Ihr Blick fiel auf Sam, Ian und Vince, die bei den Motorrädern standen und diskutierten. Wieder einmal wusste Shirley nicht wo sie hin gehörte. Jedem schien es so einfach sich über irgend etwas zu unterhalten. Die Stimmung schien so wie immer.
Hatten sie alle so schnell verdaut, was mit Justin geschehen war?
Plötzlich kam Sarah zu ihr. Die liebe, kleine Sarah, die so herzlich lächelte und sie an der Hand fasste.
„Hallo!", grüßte sie und zog sie über den Schrottplatz. „Was stehst du da herum. Wir haben eine Menge zu feiern."
„Sicher. Ich war nur in Gedanken."
Sarah lachte vergnügt und bat Shirley drinnen auf dem Sofa Platz zu nehmen.
„Warte einen Moment. Ich bin gleich wieder bei dir."
Damit verschwand sie. Während dessen betrachtete Shirley die anderen Gäste. Es waren viele von Tims Freunden dabei. Er selbst stand neben der Treppe und unterhielt sich mit ihnen. Dabei standen auch zwei Mädchen, die es sich nicht nehmen ließen mit Tim zu flirten. An Rikis Stelle hätte Shirley ihnen die Hölle heiß gemacht.
Das erinnerte sie gleichzeitig an ihren eigenen Freund, der sich irgendwie nicht blicken ließ. Was trieb Leon bloß die ganze Zeit?
~
Er hatte sich die schwarze Weste mit dem ROX-Logo übergestreift. Er brauchte die Stärke seiner Gang jetzt. Auch wenn sie keine Ahnung hatten, fühlte es sich an als würden sie ihn bestärken, ihm Kraft geben, wenn er die Weste trug. Er hasste den Tag jetzt schon, obwohl es nicht einmal richtig begonnen hatte.
Leon stand vor dem Spiegel im Flur und bemerkte die Schatten unter seinen Augen. Er fühlte sich schwer und kraftlos. Dabei brauchte er jetzt all seine Kraft, um diesen Tag zu überstehen.
Seine Schwester tauchte hinter ihm auf. Er fing ihren Blick durch den Spiegel auf. Sie wusste genau was ihm durch den Kopf ging. Trotzdem verstellte sie sich und setzte ein aufmunterndes Lächeln auf.
„Du sieht gut aus."
Er erwiderte nur kurz das Lächeln.
„Du meinst bis auf das blasse Gesicht und die Augenringe der Schlaflosigkeit?"
„Ja, bis auf das."
Er wandte sich ihr zu und musterte seine Schwester, die sich nicht viel Mühe mit ihrem Outfit gegeben hatte. Tina sah immer gut aus. Trotzdem sah es ihr nicht ähnlich so schlichte Klamotten zu tragen und trotzdem sprach er sie nicht darauf an.
„Du musst das nicht tun, Leon", sagte sie stattdessen.
„Ich weiß", antwortete er leise, wohl wissend wovon sie sprach. „Es ist besser so."
„Für wen? Für sie oder für dich?", fragte Tina ernst.
„Ich dachte du verstehst mich?"
„Das tu ich auch, Leon. Ich weiß nur genau wie du dich dabei fühlst und wie sehr es dich verletzen wird. Verdammt, du bist mein Bruder. Ich will nicht dass du leidest."
„Besser ich als sie."
Tina schnaufte verzweifelt und raufte sich die kurzen Haare.
„So kann sie über mich hinweg kommen."
Tina schüttelte den Kopf.
„Mir ist nicht wohl dabei. Sie ist eine ROX. Sie hat es nicht verdient so behandelt zu werden."
Das wusste Leon besser als jeder andere.
„Glaub mir Tina, es bricht mir das Herz, aber ich kann sie nicht weiter belügen. Ich habe nicht die Kraft dazu."
„Und was ist mit Rikki? Für sie wird es auch nicht leicht."
„Hör endlich auf damit, Tina", rief Leon aufgebracht. „Ich brauche jetzt deine Unterstützung nicht deinen Unmut."
Sofort wurde Tinas verzweifelte Miene weicher. Sie hatte wohl für einen Augenblick vergessen warum Leon keine andere Wahl hatte. Auch wenn er womöglich damit einen Keil zwischen seine Freunde trieb und auch wenn es ihm das Herz brach, er hatte keine Wahl. Ihm blieb nicht viel Zeit. Schon jetzt war es schwierig seine Krankheit vor den anderen zu verbergen.
„Wir sollten gehen", meinte Leon nur trocken und ignorierte sein blasses Spiegelbild, als er sich noch einmal umdrehte und seine Gesichtszüge unter Kontrolle brachte. „Du weißt Bescheid, das genügt."
Mit diesen Worten ließ er Tina in der kleinen Wohnung zurück und ging nach unten.
Sein Blick fiel auf Tim, der ihn sofort bemerkte. Er nickte seinem Freund zu, woraufhin er sich in Bewegung setzte und Leon ging nach draußen. Nur flüchtig blieb sein Blick bei Shirley hängen. Sie war so hübsch, so zerbrechlich und doch so stark und absolut wundervoll. Leon wandte den Blick ab und ignorierte den Stich in der Brust.
~
„Warum machst du so ein langes Gesicht?", fragte jemand neben ihr. Es war Tim.
„Hey, ach ich suche Leon. Weißt du wo er sich herum treibt?"
„Er wollte noch einmal über den Schrottplatz laufen, um nach Ersatzteilen für sein Bike zu suchen. Zumindest hat er mir das vorhin so gesagt."
Shirley verstand nicht, warum Leon das ausgerechnet jetzt tun musste.
„Vielen Dank", sagte sie und sprang auf. Sarah guckte etwas komisch, als Shirley an ihr vorbei rauschte, aber sie achtete nicht darauf. Sie musste Leon sehen. Jetzt sofort!
Er hatte sich die letzte Zeit so sehr von ihr distanziert, dass sie nun vor Sehnsucht umkam. Was war nur los mit ihm?
Draußen verschaffte sie sich einen kurzen Überblick. Sie fragte Sam und Ian nach Leon, aber die beiden schüttelten nur die Köpfe. Also suchte sie weiter. Sie schlängelte sich an den Autotürmen vorbei, erhaschte einen Blick in die kleine Höhle und sah Max und Toni. Sie bastelten an irgendwelchen Schrottteilen herum und blickten nur flüchtig auf, als Shirley den Kopf herein steckte.
„Hey ihr zwei, schön euch wieder zu sehen."
„Hi Shirley", sagten sie im Chor.
„Habt ihr Leon gesehen?"
Sie nickten und Max deutete mit dem Finger in eine Richtung.
„Alles klar, danke euch."
Sie folgte der angegebenen Richtung tiefer auf den Schrottplatz.
Sie musste aufpassen nicht hinzufallen, weil so viel Gerümpel auf dem Boden lag. Hier war also der etwas unschönere Teil des Schrottplatzes. Plötzlich hörte sie Stimmen. Hoffnungsvoll ging Shirley weiter um einen Autoturm herum. Sie blieb stehen und sah wen sie gesucht hatte.
Allerdings war Leon nicht alleine. Riki war bei ihm. Es sah aber nicht danach aus, als ob sie nach etwas suchten. Beide standen sich gegenüber und machten ernste Gesichter. Riki sagte etwas, doch Shirley verstand es nicht. Sie wollte gerade näher hin gehen, als Leon Riki in seine Arme zog und leidenschaftlich küsste. Sie schmiegte sich an ihn und erwiderte den Kuss.
Seine Hand wanderte auf ihren knackigen Hintern, was sie dazu brachte die Arme um ihn zu legen und in sein Haar zu greifen.
Fassungslos starrte Shirley auf die beiden, die völlig in ihrer Leidenschaft versanken und die Welt um sich herum vergaßen.
Warum? Warum nur passierte das? Seit wann lief da etwas? Oder war es nie wirklich beendet? Wenn ja, warum hatte Leon sich dann so an Shirley rangeschmissen?
Shirley wich langsam zurück. Sie wandte sich ab und ging weg. Ein paar mal stolperte sie und fiel hin, weil sie nicht darauf achtete wo sie her ging.
Sie hatte es ja gewusst.
Verglichen mit Riki, was sie eine Distel. Es wunderte sie eigentlich nicht, was sie da gesehen hatte, nur tat es trotzdem unglaublich weh. Leon hatte sie betrogen und damit sein Versprechen Shirley gegenüber gebrochen. Aber wieso auf einmal? Wieso wieder Riki? War sie nicht schon eine Ewigkeit mit Tim zusammen?
Oh Gott, Tim! Shirley machte sich gerade bewusst, in welche Schwierigkeiten sich Leon damit brachte. Tim war sein Freund. Er würde Leon umbringen. In Zeitlupe schlenderte Shirley zurück zu den anderen und der Party, von der sie wieder nicht viel mitbekam. Sie setzte sich nach drinnen aufs Sofa und starrte perplex die Wand an.
„Hey, wo ist Tim?", fragte Susan neben ihr.
„Der ist vor ein paar Minuten gegangen. Meinte, er hätte noch etwas zu erledigen", gab Vince brummend zur Antwort.
Shirley schnaubte innerlich. Wieso konnte er nicht diese Szene gesehen haben? Immerhin knutschte Leon gerade mit seiner Freundin herum.
Das Piepen ihres Handys lenkte sie vorübergehend ab und Shirley holte es aus ihrer Tasche. Joanna hatte sich gemeldet: „Hey, Shirley, wir müssen unbedingt mal wieder reden!"
Shirley stöhnte und schmiss das Handy auf den Tisch. Sie war nicht in der Stimmung sich mit Joanna zu befassen.
So langsam verdrängte Wut den Schmerz in ihrer Seele und Shirley griff automatisch nach einer Flasche Tequila, schnappte sich einen der vielen Becher dazu und schenkte einen guten Schuss ein. Sarah und Susan unterbrachen ihre Unterhaltung und schauten mit schrägen Gesichtern zu ihr hinüber. Auch Tina und Alex machten ernste Gesichter. Natürlich, sollten sie auch. Immerhin sagte Shirley immer sie würde keinen Alkohol trinken.
„Alles okay mit dir?"
Susans Stimme brachte Shirley dazu sich eine Träne zu verdrücken. Sie schüttelte den Kopf und schüttete den nächsten Becher voll.
„Willst du dich betrinken?", fragte Alex.
Shirley nickte wortlos.
Als sie den dritten Becher anhob, kam ihr eine Hand dazwischen und nahm ihr den Becher weg. Mit kalter Miene starrte Shirley Leon an, der sich jetzt das Zeug die Kehle hinunter kippte. Man hörte Tina nur japsen, aber sie sagte nichts. Leon starrte mit ausdrucksloser Miene zurück. Wusste er, dass sie ihn und Riki beobachtet hatte?
Laut seines Gesichts schon. Er zeigte nicht einmal Reue.
Shirley ignorierte ihn und nahm sich erneut einen Becher. Leon griff nach ihrer Hand, doch sie entzog sich ihm. „Fass mich nicht an!", befahl Shirley sauer und stand auf. Sofort waren alle verstummt.
Selbst die Musik schaltete jemand ab. Alle Augen beobachteten Leon und Shirley. Nein sie waren alle erschüttert über ihre Reaktion. Leon war bisher der einzige gewesen, der ihr näher kommen durfte, dem sie vertraut hatte und sich von ihm überall anfassen lies.
Das Shirley ihm nicht einmal diesen winzigen Körperkontakt gestattete, raffte keiner von den Rox. Nur Leon schien zu wissen, was los war. Auf einmal blickte er wie ein getretener Hund drein. Das kümmerte Shirley nicht. Sie stieß ihn leicht aus dem Weg und wollte an ihm vorbei gehen. Doch Leon fasste nach ihrem Handgelenk.
Schon fast panisch wehrte sie sich gegen seinen festen Griff, wagte aber nicht ihn anzusehen. Er sollte nicht ihrer Tränen sehen. Warum hielt er sie noch auf? Er sollte gar nicht erst versuchen es wieder gut zu machen. Das war unmöglich.
„Jetzt warte doch mal, Shirley."
„Ich will aber nicht."
„Sei nicht so stur!", forderte er und ließ sie nicht gehen.
Noch immer wurden sie von den anderen verständnislos angestarrt. Nun reichte es ihr. Mit einem Mal drehte sie sich um und klatschte Leon heftig mit der freien Hand ins Gesicht.
Ganz langsam ließ er sie los und Shirley wandte sich ab. Sie konnte die Tränen nicht mehr aufhalten und verließ ganz schnell das Haus. Verletzt und traurig stapfte sie über den staubigen Weg bis zum Tor.
Sie wollte unbedingt ihren Vater anrufen und ihm sagen, wie recht er doch mit Leon gehabt hatte. Er war ja so ein mieser Heuchler. Ein Lügner und sowas von nicht mehr ihr Freund. Shirley suchte in der Tasche nach dem Handy, da fiel ihr ein, dass sie es auf dem Tisch hatte liegen lassen.
Verärgert über ihre Schusseligkeit drehte sie wieder um. Dabei suchte sie draußen nach Riki. Keine Spur von ihr. Wo war sie denn plötzlich hin? Zu ihrem Freund? Warum denn noch, wenn sie ihn doch gar nicht liebte?
Sie beeilte sich zurück zur Garage zu kommen und so schnell wie möglich ihr Handy zu holen.
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