Kapitel 22
Shirley war krank vor Sorge, als der Mustang auf den Schrottplatz fuhr. Die Rox hatten überall nach Leon gesucht. Stundenlang waren sie durch die Stadt gefahren, selbst durch die West-Side, aber von Leon fehlte jede Spur. Zwischendurch glaubte Tina, dass die Polizei ihn schon geschnappt hatte. Aber Shirley versicherte ihr, das Jack sich dann bei ihr gemeldet hätte.
Wütend schmiss Alex den Autoschlüssel auf den Couchtisch und ließ sich schnaufend auf einem der breiten Sofas nieder. Seine sonst so perfekt gestylten, blonden Haare waren zerzaust. Nicht allein von Fahrtwind, sondern weil er sie sich mehr als einmal gerauft hatte.
Tina sank neben ihm in seine Arme und sah ebenso demotiviert aus. Shirley sah die andern herein kommen, die sich mit langen Gesichtern dazu gesellten. Vince holte einen Kasten Bier und verteilte ein paar Flaschen. Nicht das Shirley gerne Alkohol trank, aber selbst sie griff danach und war froh, als das kühle Getränk ihre Kehle zum gefrieren brachte. Kurz verzog sie das Gesicht.
„Shirley, in solchen Situationen greift man schnell zum Alkohol. Ich hoffe du bleibst bei deiner vorbildlichen Einstellung und siehst dies als eine Ausnahme an."
Fast hätte sich Shirley an Tinas Satz verschluckt.
„Ich verstehe es einfach nicht. Du und Leon, ihr redet manchmal so seltsam. Als wäret ihr eigentlich ganz andere Menschen", meinte sie und stellte ihr Bier auf den Tisch.
Tatsächlich zwang sich Tina zu einem Schmunzeln, wären sie zum gefühlt tausendsten Mal ihr Handy nach Neuigkeiten von ihrem Bruder prüfte. Dann sah sie zu Shirley und antwortete: „Das liegt daran, das wir eigentlich eine ganz andere Erziehung genossen haben. Zumindest solange unsere Mutter noch bei uns wohnte. Nachdem sie abgehauen war, ertrank unser Vater im Suff und zog uns mit runter. Wir mussten unser Haus verkaufen und in einer dreckige, heruntergekommene Bude ziehen. Da blieb es nicht aus, dass auch ein paar Manieren und unsere Ausdrucksweise auf der Strecke geblieben sind."
Nun wusste Shirley, warum Leon manchmal so anders redete. Er und Tina kamen eigentlich aus ganz anderen kreisen. Und wieder wurde ihr das Herz schwer. Wenn das so weiter ging, würde es bald explodieren vor Mitgefühl. So ein Leben zu führen nachdem man vornehm aufgewachsen war, musste unheimlich hart sein.
In dem Moment fiel Shirley etwas auf. Ihre Gedanken drehten sich überhaupt nicht mehr um ihre Mutter. Sie hatte es nicht bemerkt, wie sie immer weniger an sie gedacht hatte und zu guter Letzt das Bild von ihr in ihrem Kopf mit dem von Leon ersetzt wurde. Diese Erkenntnis war schockierend. Zwar hatte sie sich gewünscht nicht mehr ständig an den Unfall denken zu müssen, aber sie vollkommen zu vergessen sah Shirley nicht ähnlich.
„Was sollen wir denn tun?", hörte sie Ian ruhig fragen. Er spielte mit seinem silbernen Ohrring und forderte damit Shirleys Aufmerksamkeit.
„Wir haben überall nach ihm gesehen. Eine Suchmeldung können wir nicht aufgeben, da er bereits von der Polizei gesucht wird."
„Willst du etwa aufgeben, Ian?", fragte Tina ungläubig.
„Es ist Leon von dem wir hier reden. Mein Bruder, verdammt!", schimpfte sie und wollte aufstehen. Shirley sah, dass ihre Augen glitzerten. Würde sie weinen?
Alex hielt seinen Freundin fest und zog sie wieder zu sich hin. „Beruhige dich. Niemand hat etwas von aufgeben gesagt. Wir machen bloß eine Pause und suchen später weiter. Ich für meinen Teil kann im Moment nicht mehr los. Ich bin total erledigt."
Bestätigend wischte Alex sich mit der Hand übers Gesicht.
„Dann mache ich einen Vorschlag", kündigte Vince an.
„Wir hauen uns alle drei Stunden aufs Ohr und machen uns dann erneut auf die Suche nach Leon."
Alle waren einverstanden. Tina und Alex zogen sich ins obere Stockwerk zurück. Sam und Sarah verkrochen sich in ihrer ganz persönlichen Ecke. Vince und Ian lagen quer auf dem Teppich und Susan machte sich auf dem zweiten Sofa lang. Auch Shirley spürte die Müdigkeit. Bis jetzt war sie zu aufgewühlt und abgelenkt gewesen, um es zu bemerken.
Doch es graute ihr davor in Leons Zimmer zu schlafen, wo sein Duft sie bestimmt in den Wahnsinn treiben würde. Sie vermisste ihn, wollte ihn anfassen und ihm nahe sein.
Deprimiert machte sie es sich auf der Couch gemütlich. Sie kauerte sich zusammen und starrte die laut tickende Wanduhr an, die mittlerweile schon weit nach Mitternacht anzeigte. Sie hatte noch Ians leises Murmeln und Vince' Baumfäller-Schnarchen im Ohr, als sie einschlief.
~
Es war ein metallenes Quietschen, das sie aus ihrem traumlosen schlaf riss. Shirley rappelte sich verschlafen auf. Wieder fiel ihr Blick auf die Uhr, die nur durch eine bunt leuchtende Lichterkette erhellt wurde. Es waren keine zwei Stunden vergangen. Erneut ein Quietschen und die Eisentür schlug zu. Sofort war sie hellwach.
Sie starrte auf den dunklen Gang vor dem Tor und sah mit Fassungslosigkeit auf Leon. Er ging auf sie zu, machte sich aber nicht die Mühe sie anzusehen.
Plötzlich machte jemand das Licht an.
„Leon!", rief Tina und rannte die Treppe hinunter. Sie eilte zu ihrem Bruder und umarmte ihn stürmisch. Anschließend nahm sie sein Gesicht in beide Hände und sah ihn forschend an.
„Wo warst du nur? Wir haben nach dir gesucht."
Leon blieb still. Während dessen erwachten auch die anderen Rox und schienen ziemlich erleichtert über Leons plötzlicher Erscheinen.
„Leon, sag doch was!", forderte Tina mit schwankender Stimme.
Nun sah sein blasses Gesicht nicht mehr länger zur Seite. „Tut mir leid, ich hatte etwas Ärger."
Er ließ seine Schwester stehen und begab sich in die Küche. Shirley konnte durch die offene Tür beobachten, wie er sich etwas zu trinken zubereitete. Allerdings kein Bier oder ähnliches. Er holte doch tatsächlich eine Flasche Tequila aus dem Schrank. Shirley stand auf, doch Tina war schneller.
„Sag mal spinnst du? Du kannst doch nicht solch hartes Zeug in dich hinein kippen."
Tina zog ihm die Flasche aus der Hand. Daraufhin kassierte sie einen mörderischen Blick von ihm, der sie einen Schritt zurückweichen ließ.
„Wenn du wüsstest, welch Scheiße ich erlebt habe, dann würdest du mich darum bitten das Zeug zu trinken. Es gibt nichts, was mich sonst beruhigen könnte."
Er holte sich die Flasche zurück und wollte gerade trinken, als Shirley in von hinten umarmte. Schluchzend lehnte sie sich an ihn und weinte sich die Seele aus dem Leib. Sie hatte sich die schlimmsten Szenarien ausgemalt, was ihm alles hätte passiert sein können.
„Wir wissen es", erklärte Tina ruhig und blickte verständnisvoll zu Shirley.
In Zeitlupe ließ er die Flasche sinken und drehte sich zu ihr um. In dem Moment fiel Tina seine blutende Hand auf.
„Leon, was ist mit deiner Hand geschehen?"
Auch Shirley wollte seine Hand sehen, blieb aber an seinen Augen hängen, die sie sehr seltsam ansahen. Ohne den Blick von Shirley abzuwenden erklärte er: „Hatte eine kleine Auseinandersetzung mit einer Mauer. Ratet mal wer gewonnen hat."
„War es wirklich eine Mauer, Leon? Oder vielmehr ein Mensch?", fragte Alex an die Küchentür gelehnt. Leons Blick war mörderisch.
„Nein, es war eine Mauer. Besser gesagt eine Hauswand. Falls du auf meinen Zusammenstoß mit Justin und Rico hindeuten wolltest, muss ich dich enttäuschen. Die Leben noch."
Er stellte zu Tinas und Shirleys Erleichterung die Flasche weg und ging zu den anderen.
Sein ärmelloses Shirt war schmutzig und seine Hand blutete leicht. Kaum saß Leon auf der Couch - wo zuvor noch Shirley gelegen hatte - kam Tina mit Eis und Verbandszeug zu ihm.
„Wir dachten uns schon, dass du ihnen vielleicht begegnet bist. Was ist mit ihnen geschehen?", wollte Ian wissen.
„Sie haben mich überrascht. Keine Sorge, sie haben mir nichts schlimmes getan, nur haben sie mich erpresst."
„Womit?", fragte Tina, immer noch mit seinem Verband beschäftigt.
Shirley sah Leons merkwürdigen Gesichtsausdruck. Flüchtig blieben seine gold-braunen Augen an ihr hängen, nur um gleich wieder weg zu sehen. Noch immer liefen ihr die Tränen über die Wange und sein Verhalten machte es nicht besser. Wieso konnte er sie auf einmal nicht mehr ansehen? War ihm denn nicht klar, dass sie sich unbeschreibliche Sorgen um ihn gemacht hatte?
~
Rückblick:
Er raufte sich die Haare. Ohne jegliches Zeitgefühl blieb er sitzen und grübelte. So leer sein Kopf noch vor kurzem war, so sehr ratterten seine Gedanken nun. Wie um alles in der Welt sollte er das den Rox beibringen? Zuerst musste er selbst einmal begreifen, was Brian ihm da gesagt hatte. Leon hatte ja keine Ahnung gehabt, wie schlecht es um ihn stand. Dabei waren die Zeichen eindeutig gewesen. Eindeutig und unübersehbar. Er hatte sie nur nicht sehen wollen.
Noch immer mit sich selbst beschäftigt, bemerkte Leon viel zu spät, dass er nicht mehr alleine war.
„Sieh an, sieh an, wen haben wir denn da?", fragte Justin mit verzogener Stimme und grinste breit zu Rico rüber. Aber die beiden waren nicht alleine. Hinter ihnen standen bestimmt fünfzehn bis zwanzig weitere unheimliche Gestalten, mit grimmigen Gesichtern und ganz schlechten Absichten.
Leon erhob sich, stand nun mit dem Rücken zur Mauer und ignorierte den pochenden Schmerz an seiner Hand.
„Was wollt ihr?", fragte er mürrisch. Nach einem Lachen und einer ausbleibenden Antwort rief er lauter: „Sag, was willst du, Justin?"
„Das habe ich dir doch gesagt. Ich will, dass Shirley zu Rico zurück kehrt."
„Damit du sie weiterhin misshandeln kannst?"
„Nein, der Idiot hier will sie einfach nur wieder haben und ich helfe ihm dabei. Nur leider stehst du mir dabei im Weg."
„Und was willst du jetzt tun, deine Schläger auf mich losschicken?"
Justin schüttelte den Kopf, wobei sich kein einziges seiner festgeklebten Haare bewegte.
„Nicht doch. Ich gebe dir die Chance von allein zu gehen. Verlass Shirley und niemand muss leiden."
Leon's Blick wanderte zwischen Rico und Justin hin und her. Die beiden waren doch echt zu viel. Sie konnten doch nicht ernsthaft glauben, dass Leon ihr krankes Spiel mitspielte.
„Seid ihr auf Drogen? Ich denke nicht im Traum daran. Shirley hat Rico verlassen, weil sie ihn nicht mehr liebt und daran ist er ganz allein schuld. Er hat ihr viel bedeutet, aber sie war ihm nicht wichtig genug. Hätte er sich um sie bemüht, würde sie heut noch ihm gehören. Aber das Blatt hat sich gewendet. Shirley ist nun mein. Ich gebe sie nicht auf."
„Schöne Worte", bemerkte Rico trocken. Dann hielt er Leon ganz plötzlich eine Pistole an den Hals. „Was, wenn ich dich dazu zwinge, Leon?", knurrte er aufgebracht.
„Na los, drück ab. Erschiess mich, Rico! Damit werden alle deine Probleme auf einmal gelöst, weil du nämlich sehr, sehr lange in den Knast wandern wirst. Dann brauchen Shirley und ich dich nicht mehr zu kümmern."
Langsam legte Leon die Hand auf die Pistole und drückte sie von sich weg. „Du kannst mich umbringen, aber dann wird Shirley ganz sicher nicht zu dir zurück kommen. Weil sie mich jetzt liebt."
Plötzlich fing Justin an zu lachen.
„Ich habe eine bessere Idee. Wie wär's, wenn du jemanden umbringst?"
Zuerst verstand Leon nicht. Dann bemerkte er die glänzenden Lederhandschuhe an Ricos Händen. Immer noch grinsend drehten sich Rico und Justin zum Gehen um. Leon war unfähig sich zu bewegen. Dabei musste er dringend etwas unternehmen, sonst würde Rico jemanden erschießen.
Er zwang sich dazu auf ihn loszugehen und ihm die Pistole aus der Hand zu schlagen. Justin konnte das nicht zulassen und stürzte sich auf Leon, der ihm sogleich mit seiner eh schon verletzten Hand ins Gesicht schlug. Das machte dem Mistkerl leider gar nichts. Er packte Leon an den Armen, während Rico auf ihn einschlug. Auf die Brust, in den Bauch. Bis er einen gewaltigen Tritt von Leon kassierte, der ihn nach vorne zog und es ihm ermöglichte sich Justin's Händen zu entwinden.
Er verlor dabei seine Jacke. Justin warf sie weg und stürzte sich erneut auf Leon. In dem Moment knallte ein Schuss aus Ricos Pistole. Verwirrt starrten Leon und Justin erst auf Rico, dann auf den Typ, der zu Justin's Bande zu gehören schien und nun wie ein nasser Sack zu Boden fiel. Schockiert betrachtete Leon den Toten. Sie hatten einfach so einen Menschen erschossen. Noch dazu einen von ihnen. So sehr er sich bemühte, er konnte dafür keinerlei Verständnis aufbringen.
„Was tust du da?", brüllte Justin Rico an.
„Sorry, aber irgendeiner muss doch was tun. Tut mir leid, dass es einer von unseren war, aber andere Zuschauer haben wir gerade nicht. Es sind seine Fingerabdrücke drauf, also lass uns verschwinden. Umbringen können wir ihn leider nicht. Noch nicht."
Justin grummelte, als in diesem Moment Sirenen aufheulten.
„Bullen!", rief einer von Justin's Leuten und Panik brach unter ihnen aus. Sofort bekam Leon lange Beine und rannte weg. Er hasste es zu flüchten, aber in diesem Fall musste er so schnell wie möglich weg vom Tatort.
Schlimm genug, dass seine Fingerabdrücke auf der Tatwaffe waren. Er stoppte. Zögernd überlegte er zurück zu laufen und sich die Waffe zu schnappen. Die immer lauter werdenden Sirenen der Polizeiwagen hielten ihn davon ab. Rico hatte die Waffe bestimmt vor Ort gelassen. Nur war es zu spät. Leon würde der Polizei direkt in die Arme laufen.
Er fluchte und haute erneut gegen eine Hauswand. Es kümmerte ihn nicht, dass seien Hand noch weiter aufplatzte und das Blut an dem rauen Stein herunterlief.
Ricos Schläge waren noch immer auf seinem Körper zu spüren, aber auch das war ihm egal. Er musste verschwinden. Sofort!
Also rannte er durch die Stadt. Nur lief er nicht dort her, wo viele Menschen ihn sehen konnten. Er hielt sich versteckt, als hätte er wirklich einen Mord begangen.
Er verließ so schnell es ging das Zentrum und rannte. Er rannte so schnell und so weit er konnte. Erst als er keinen Luft mehr bekam, hielt er an und stützte sich auf den Knien ab. Sein Husten meldete sich und wie zu erwarten auch sein Herz.
Schmerzen durchzogen seine gesamte Brust, bis hinauf in den Hals und in den Arm hinunter. Die schwach beleuchtete Straße war Menschenleer. Ein paar Autos parkten am Rand. Die wenigen Häuser sahen dunkel und ruhig aus. Leon wusste nur, dass er in der Nordstadt gelandet war.
Ohne es zu merken war er in die Richtung von Tims Verschlag gelaufen. Es war gerade eine Meile entfernt. Er fasste sich schwer atmend an die Brust. Das würde er niemals schaffen. Also suchte er nach seinem Handy. Er musste Tim anrufen. Erst jetzt stellte er fest, das er sein Handy in der Jacke gelassen hatte. Er fluchte und sank auf die Knie.
Brians Worte kamen ihm in den Sinn: „Ich gebe dir höchstens noch ein halbes Jahr, Leon."
So wie sich die Dinge entwickelten, schien er sein restliches Leben im Gefängnis absitzen zu müssen. Nein er durfte nicht darüber nachdenken, sonst würde er noch ohnmächtig vor Schmerzen. Leon zwang sich zu beruhigen und abzuwarten, bis der Schmerz nachließ.
Die Rox hatten schweigsam seiner Erzählung gelauscht. Es dauerte einen langen Moment bis Vince und Alex laut anfingen zu fluchen und sich über Rico und Justin aufzuregen. Keiner stoppte sie, denn alle fühlten das gleiche. Noch immer fühlte Leon Shirley's Blick auf sich. Doch er wagte nicht sie anzusehen. Das ihn wieder ein Anfall überkommen war, hatte er bewusst ausgelassen. Auch die schlechte Diagnose von Brian. Er konnte es ihr einfach nicht sagen. Es lag nicht daran, dass er zu feige war. Er wollte nur nicht, dass sie litt. Und das würde sie.
Als sie sich neben ihn setzte schaute er bewusst in eine andere Richtung und reagierte nicht, als sie sich an ihn lehnte. Als Tina mit seiner Hand fertig war, erhob sie sich und schenkte Leon einen prüfenden Blick, aber auch ihr konnte Leon nicht lange genug in die Augen sehen. Tina würde sofort wissen, dass etwas nicht stimmt. Oder vielleicht wusste sie es schon, wagte nur nicht ihn darauf anzusprechen.
Als es Leon zu viel wurde, stand er auf. Er wollte dringend eine kalte Dusche nehmen. Wer weiß wann die Polizei auf dem Schrottplatz auftauchen und ihn mitnehmen würde.
„Bitte, ich brauche ein paar Minuten für mich", erklärte er Shirley, die sich wie eine Ertrinkende an seinen Arm heftete.
„Wir überlegen morgen wie wir meine Unschuld beweisen."
„Was wenn die Polizei noch in dieser Nacht vorbei kommt? Ich meine jeder weiß wo du zu finden bist", wandte Sarah ein.
„Ist mir egal. Sollen sie ruhig kommen. Ich bin unschuldig und das werde ich der Polizei auch beweisen."
„Du kannst aber nichts beweisen, wenn du tot bist!", schrie Tina laut. Sie ballte die Fäuste und starrte ihren Bruder verzweifelt an. Sie wusste etwas, ganz klar. Leon wich ihr aus, indem er die Treppe hinauf eilte.
„Oh nein, Leon, warte. Ich bin noch nicht fertig mit dir."
„Tina, jetzt lass ihn doch.", rief Alex noch, doch sie ignorierte ihn. Sie schlug die Tür zu und folgte Leon bis in sein Zimmer. Er hatte keine Lust mit ihr zu reden. Nicht jetzt. Er war noch nicht bereit dafür.
„Wieso bist du nicht sofort nach Hause gekommen, Leon? Du wusstest wie gefährlich es zur Zeit da draußen ist. Also wieso hast du nicht wenigstens Bescheid gesagt? Wir waren alle krank vor Sorge. Hast du mal einen Augenblick daran gedacht wie Shirley sich fühlt?"
„Lass es, Tina!"
Leon zog sich das schmutzige Shirt aus und warf die Hose in eine Ecke. Nur in Shorts bekleidet suchte er sich frische Kleidung zusammen und sah Tina nicht einmal an.
„Leon, was ist los? Ich merke doch das etwas nicht stimmt."
„Ich sag dir was nicht stimmt...", schnauzte er sie plötzlich an. „...ich habe einen verdammten Mord am Hals. Ich muss abhauen, verstehst du? Sonst kann ich den Rest meines Lebens hinter Gittern verbringen."
Das klang aber auf einmal ganz anders als vor ein paar Minuten. Irgendwas stimmte nicht und Tina hörte eine billige Ausrede daraus, sonst wäre ihr Bruder längst weg.
„Und wenn wir sagen, das es Notwehr war?"
„Wie willst du das beweisen? Ich habe Shirley zwar gesagt, dass ich versuchen werde meine Unschuld zu beweisen, aber ehrlich gesagt ist das unmöglich. Justin und Rico werden nicht gestehen. Und die Beweise sprechen eindeutig gegen mich. Sie haben mich einfach ausgetrickst."
„Wir werden deine Unschuld beweisen. Seit wann gibst du so schnell auf?"
Tina wollte ihn anfassen, aber er wich zurück.
„Seit dem mir die Zeit davon läuft und ich nicht die verbleibenden Monate meines Lebens im Knast verbringen möchte.", antwortete er zerknirscht.
Er stutzte. Hatte er das gerade laut gesagt? Nach Tinas schockiertem Gesichtsausdruck zu urteilen...ja, er hatte es laut gesagt.
„Was soll das heißen, Leon?"
Er beruhigte sich etwas und ließ sich auf seinem Bett nieder.
„Es bedeutet das, was ich gesagt habe. Wenn ich nicht ein neues Herz bekomme, oder ein Wunder geschieht, werde ich in weniger als sechs Monaten sterben."
Fassungslos sank Tina auf den Boden.
„Das Ist nicht wahr. Sag mir, dass das nicht wahr ist!", schrie sie verzweifelt. Leon fühlte ihren Schmerz. Er wollte es auch nicht wahr haben.
„Doktor Noris hat mir das bestätigt."
Ohne einen Laut von sich zu geben, saß Tina auf dem Boden und konnte nicht verhindern, dass ihr die Niagarafälle aus den Augen liefen. Einen Augenblick später stand sie auf und fiel Leon in die Arme. Sie schluchzte und weinte unaufhaltsam drauf los, während Leon sie fest in seine Arme schloss.
So verbrachten sie eine weitere Stunde. Draußen wurde es hell. Das kümmerte Leon nicht. Er war nicht mehr müde. Seine Schwester hatte sich in den Schlaf geweint und lag nun zusammengerollt auf seinem Bett.
Leon stand auf und sah aus dem Fenster. Wenn das Schicksal ein mieser Verräter war, dann musste es ihn sehr hassen. Er lehnte sich traurig gegen die Wand. In diesem Moment fasste er einen Entschluss. Er musste fort gehen. Er wollte so nicht vor den Augen seiner Freunde krepieren, vorausgesetzt er kratzte nicht im Gefängnis ab oder wurde vorher erschossen.
Also musste er sich vorbereiten. Das schwierigste würde sein Shirley zu verlassen. Er musste es tun. Auf keinen Fall sollte sich sein Tod vor ihren Augen abspielen. Das würde sie wahnsinnig machen. Nur wie stellte er es an? Er brauchte einen Plan. Nur Tim und Riki konnten ihm dabei helfen.
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