Kapitel 20

Brian nickte leicht. Danach runzelte er die Stirn. „Ist das so erschreckend, dass du so ein Gesicht machen musst?"
Shirley räusperte sich und strich sich mit der Hand die Haare zurück. „Nein, natürlich nicht. Ich war nur kurz erstaunt."
„Du bist mit Leon zusammen, stimmt's?"
Shirley nickte zaghaft.

„So etwas spricht sich schnell herum. Leon ist sehr beliebt, wie du sicher weißt."
Er zwinkerte ihr kurz zu.
„Da weiß nach kürzester Zeit die gesamte East-Side, dass Leon Rassey eine neue Freundin hat und noch viel schneller finden die Leute heraus, wer das ist."
Shirley schluckte.

„Außerdem schwärmt meine Tochter neuerdings von dir."
„Ach ja?"
„Sie mag dich wirklich sehr. Weshalb ich ihr den Wunsch nicht abschlagen konnte, dir zu helfen. Wobei...ich mir nicht helfen kann. Warum bist du hier und nicht bei deinem Freund? Ich nahm an du seist nun Mitglied der Rox."

„Sie wissen erstaunlich viel über die Rox."
„Nun,", er lachte leise, „Leon ist mein Patient. Und das schon sehr, sehr lange. Man kennst sich einfach."
„Sagen Sie, Brian, was ist mit Leons Gesundheit?", Shirley hatte einfach diese Frage stellen müssen.
„So leid es mir tut, Mädchen, aber auch in meiner Freizeit unterliege ich der ärztlichen Schweigepflicht."

Sie hatte so eine Antwort schon erwartet, wollte es aber später nicht bereuen es nicht wenigstens versucht zu haben.
„Mach dir keine Gedanken", sagte Brian mit beruhigender, weicher Stimme und streichelte ihre blonden Haare, die sie sich nach der Dusche zu einem Zopf gebunden hatte. „Ich werde mich gut um deinen Freund kümmern."

Shirley nickte wieder.
„Nun entschuldige mich, ich habe noch etwas Papierkram zu erledigen, bevor ich mich zu Bett begebe."
„Ja, gute Nacht."

Nach einer unruhigen Nacht wurde Shirley am Morgen von Joanna geweckt und beide machten sich zurecht.
Nach dem Frühstück brachte Brian sie mit dem Wagen zum College - dafür war Shirley heilfroh. Jedes Mal wenn sie nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren musste ersparte ihr vielleicht eine Konfrontation mit Rico oder Justin.

Naja, Justin zumindest. Rico würde sie ja auf jeden Fall im College sehen. Und ihren verdammt sexy aussehenden und ziemlich grimmigen Freund, der schon bei ihrem Spind auf sie wartete. Shirley verkrampfte. So wollte sie niemals von Leon angesehen werden.

Sie ging zu ihm hin. Es blieb ihr keine andere Wahl, als zu ihm und ihrem Spind zu gehen. Dort musste sie nämlich ran.
Wie versteinert lehnte Leon gegen den benachbarten Spind und heftete seine gold-braunen Augen auf sie. Sie machte keinerlei Anstalten etwas zu sagen. Dabei ignorierte sie ihn nicht. Sie blickte ein paar mal zu ihm, während sie ihre Bücher in die Tasche stopfte.

„Willst du mich wirklich anschweigen, Shirley?", knurrte Leon. Sein Ton gefiel ihr gar nicht.
„Nein, ich schweige dich nicht an."
„Oh doch, das tust du. Du antwortest auf keine meiner Nachrichten. Du sagst mir nicht einmal 'Hallo'."
„Hallo", holte sie die versäumte Begrüßung nach.
Urplötzlich haute Leon ihren Spind zu und kam ihr bis auf wenige Zentimeter nahe.
„Abstand ja? Ich glaube du überschätzt dich ein wenig, Miss Montez."

Mit der einen Hand schlang er um ihre Taille und zog sie zu sich, mit der anderen griff er in ihren Nacken und verhinderte somit ihren Rückzug. Dann lagen auf einmal seine Lippen auf ihren. Es dauerte nicht lange, da sprach Leon an ihr Ohr: „Ich will keinen Abstand. Sag so etwas nie wieder!"

„Leon, bitte!", flehte Shirley verzweifelt. „Ich will nicht, dass dir was passiert."
„So ein Blödsinn. Dir ist da oben eine Sicherung durch gebrannt."
Er tippte ihr an die Stirn. „Was willst du denn machen, um mich zu beschützen? Dich von mir fern halten und womöglich zu diesem Weichei Rico zurück gehen? Ist das dein Plan? Damit bin ich nicht einverstanden."

Shirley spürte die Tränen erneut hochkommen und ignorierte den Kloß in ihrem Hals.
„Ich will nicht zurück zu ihm. Ich will nur nicht, dass man dich verletzt."
Sie drückte sich von ihm.
„Glaubst du, da ist nur Watte drin?", fragte er und deutete auf seine muskulösen Arme.
„Ich weiß mich schon zu verteidigen, wenn einer was von mir will."
Shirleys Blick blieb eine Sekunde zu lange an seinen Muskeln hängen.
„Ich weiß nicht wie stark du bist, Leon. Ich weiß nur, dass du nicht ansatzweise so grausam bist, wie Justin.

„Ich habe von Justins Grausamkeit und Brutalität gehört. Immerhin war Charlie nicht umsonst gestern bei mir."
Shirley wurde lauter: „Wie kannst du dann so ruhig bleiben?"
„Weil er mit Gewalt sein Ziel niemals erreichen wird. Du solltest dich nicht so von ihm einschüchtern lassen."
Shirley seufzte und lehnte sich an.

„Ich mische mich ja nur ungern ein...", sagte Joanna plötzlich. Shirley hatte sie für eine Sekunde vergessen. „...aber Leon hat Recht. Wenn du dich jetzt schon von Justin verängstigen lässt, dann hat er schon gewonnen."
„Du hast es ihr erzählt?", fragte Leon und hob die Augenbraue. Sein Gesicht wirkte nicht mehr ganz so zornig, aber unglaublich blass.

„Ja, ich musste ihr doch verklickern, warum ich halb verstört vor ihrer Haustür stand."
„Ganz so schlimm war es nicht", wollte Joanna beruhigend einwenden. Doch nach einem schiefen Blick von Shirley revidierte sie ihre Aussage ganz schnell. „Nagut, du hast ziemlich verstört ausgesehen."

„Du musst in deinen Kurs. Wir reden in Sport weiter. Da habe ich etwas mehr Zeit für dich."
Leon drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich bin in deiner Nähe, vergiss das nicht."
Seine Gegenwart war so unglaublich tröstend. Am liebsten wäre sie mit ihm irgendwo hin gefahren. Ganz weit weg. Aber Leon war nicht fürs Weglaufen. Also ließ sie sich einen letzten Kuss geben, bevor er um die nächste Flurecke verschwand.


~



Nach dem Gespräch mit Leon ging es ihr etwas besser. Ihn zu sehen, hatte ihr Sicherheit und Trost gespendet. Nachdem sie ihm nicht mehr nah war, kam alles wieder zurück. Die Unsicherheit, die Angst und der überwältigende Drang wegzulaufen. Nur wohin? An welchem Ort würde Justin sie nicht finden?!

So sehr hatte sich Shirley auf Sport gefreut. Doch ihre Freude verflog sehr schnell, als sie Rico sah. Er war tatsächlich auch in diesem Kurs. Noch bevor sie flüchten konnte, erklang ein schriller Pfiff und Shirley sah einen gestikulierenden Mr. Connor, der sich die Pfeife aus dem Mund nahm und zu Leon ging. Dieser stand mitten in der Halle und stützte sich auf seinen Beinen ab. Er war verschwitzt und schenkte seinem Trainer einen gequälten Gesichtsausdruck.
War das besagtes Einzeltraining?

„Gleich nochmal, Rassey. Wenn du dich nicht konzentrierst, kannst du die Meisterschaft vergessen."
„Sir, ich habe nicht einmal daneben geworfen."
„Hier geht es nicht um deine Trefferquote, sondern um deine Kondition und die ist nicht gerade berauschend."
Leon nickte etwas deprimiert. Sobald sein Blick auf Shirley fiel richtete er sich auf und lächelte zaghaft.

Nach einem Räuspern von Mr. Connor schenkte Leon wieder ihm seine Aufmerksamkeit.
„Hast du zuhause trainiert?"
Leon schüttelte den Kopf. „Solltest du aber."
Mr. Connor wandte sich um.
„Mach eine Pause. Wir machen gleich weiter."
Dann trommelte er die anderen zusammen.

Shirley dachte nicht daran zum Coach zu gehen. Sie schlenderte an ihm vorbei auf Leon zu, der sich gerade mit einer Flasche Wasser beschäftigte. Auch Tina ging zu ihrem Bruder und Shirley hörte was sie miteinander sprachen.
„Alles okay?", fragte Tina und setzte sich neben ihn auf die Tribüne. Dabei musterte sie ihren Bruder und ließ ihn nicht aus den Augen.

„Sicher. Ich muss nur einfach mehr trainieren."
„Vergiss es, Leon."
Er sah sie entschlossen an.
„Tina, ich will bei der Meisterschaft nicht auf der Bank sitzen. Also muss ich mehr trainieren."
„Du sollst Sport machen, ja, aber dich nicht dabei umbringen."
Leon schnaubte. „Übertreib nicht."
„Ich weiß noch was dein Arzt gesagt hat. Je mehr du dich anstrengst, desto schädlicher ist es für dich." Wütend erhob sie sich und ließ ihn alleine. Es dauerte eine Sekunde, bis er Shirley bemerkte und vermutlich auch ihr besorgtes Gesicht.

„Hey", grüßte er, aber schaute ihr dabei nicht in die Augen. Er fuhr sich mit der Hand durch die bronzefarbenen Haare und wich ihrem Blick weiter aus. Vermutlich war es ihm unangenehm, das jeder sich um ihn sorgte. Dabei meinten sie es nur gut.
„Musst du noch weiter trainieren?", fragte Shirley und brachte ihre Gesichtszüge unter Kontrolle.

„Ja gleich. Geh mal zu den anderen. Wir reden gleich."
Leon hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und ging dann ans andere Ende der Halle. Er nahm sich den Basketball und legte los. Shirley hätte ihm sehr gerne zugeschaut, aber langsam musste sie zu Mr. Connor gehen.

Gesagt, getan. Während der Coach noch weitere theoretische Erklärungen abgab und die Rox zumindest so taten, als würden sie ihm zuhören, kam Rico zu ihr. Natürlich. Er konnte sie nicht in Ruhe lassen.
Shirley versteifte sich. Zu ihrer Beruhigung wurde sie von Ian und Alex beobachtet. Sie würden nicht einschreiten, solange Rico seine Finger von ihr ließ, aber zumindest hatten sie ein Auge auf ihn.

„Mensch, da hast du dir einen echt harten Kerl ausgesucht."
„Was willst du, Rico?"
„Ich bin ganz harmlos, versprochen." Er hob unschuldig die Hände. Sein schlanker Körper bekam durch ein enges T-Shirt mehr Beachtung. Nur Shirley war es egal. Sie wollte ihn gar nicht beachten.
„Ich hätte mehr von ihm erwartet als nach ein paar Körben schlapp zu machen."
„Ach sei still! Du kennst ihn doch gar nicht."

„Will ich auch gar nicht. Das was ich sehe, beeindruckt mich nicht wirklich. Er hätte nicht einmal im Traum eine Chance gegen mich."
Shirley spürte ihr Blut in Wallung geraten und krallte ihre Nägel in ihren Oberschenkel.
„Wenn du ihn auch nur anrührst..."

„Ah-ah-ah! Ich krümme ihm schon kein Haar. Das überlasse ich eher Justin."
Sie wandte sich zu ihm und funkelte ihn boshaft an. Doch er ließ sie nicht sprechen. Er trat einen Schritt näher und grinste.
„Immerhin kann er es dir besorgen. Aber wird er mich jemals wirklich ersetzen können, Shirley? Du weißt es doch am besten... du warst mir immer schon mit Leib und Seele verfallen. Wenn ich dich so anfassen würde, wie er..."

Ihr stockte der Atem. Mit erweiterten Pupillen starrte sie ihn an. Sie konnte nicht darüber nachdenken. Bloß nicht darüber nachdenken!
Mit dem Zeigefinger fuhr er langsam an ihrem linken Arm entlang.
„Na was meinst du würde er davon halten, wenn ich dich an eine Wand drücke und dich wahnsinnig mache?"

Shirley konnte nicht mehr. Voller Abscheu stieß sie ihn heftig zurück. Sie holte aus, um ihm eine zu kleben, da hielt Ian ihr Handgelenk fest.
„Mach dir nicht die Hände schmutzig, Kleine. Das Blut dieser schleimigen Qualle soll nicht an dir kleben."

Shirley zog ihre Hand zurück. Sie würde kein einziges Wort mehr von Rico ertragen. Was hatte sie nur jemals an ihm gefunden? Er war gar nicht mehr wieder zu erkennen. Peinlich berührt, aufgrund seiner Worte eilte Shirley aus der Halle. Mr. Connor rief noch ihren Namen, aber sie ignorierte ihn. Das würde ja fantastische Noten ergeben, wenn sie jedes Mal davon rannte. Zum Glück verhinderten Ian und Alex, dass Rico ihr nachkam.

Seit wann war sie so schwach? Selbst gegen die fiesen Kerle aus dem Bus hätte sie sich behauptet. Aber in Ricos und Justins Nähe verließ sie jedes Mal der Mut. Leon hatte unrecht gehabt. Sie war ganz und gar nicht mutig. Eher feige und verletzbar.

Im Flur mit den Umkleiden blieb sie stehen. Sie lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. Sie war ein naives, dummes Ding, weiter nichts. Und die Rox würde sie mit ins Unglück stürzen. Sie musste sich zurück ziehen. Auch wenn es falsch und dumm war. Sie musste weg. Ganz weit weg. Wenn Rico ihr folgen würde, ließ er zumindest Leon in Ruhe.

Leon! Warum musste er sie nur hinter das College ziehen und solche Dinge mit ihr anstellen. So sehr sie ihn begehrte, es war ein Fehler gewesen.
„Shirley?!"
Natürlich hatte Leon sie verfolgt und stand nun wenige Meter von ihr entfernt und stützte sich gegen die Wand. Die andere Hand stemmte er in die Seite. Er war blass und atmete schwer vom harten Training.

„Lass dich doch nicht von ihm verunsichern. Das will er doch nur."
Er verzog das Gesicht.
„Was soll ich tun? Er wird mir überall hin folgen?"
„Du musst dich wehren. Wenn du ihn nicht anzeigen willst, dann lass uns die Sache für dich beenden."
„Ja sicher", Shirley verdrehte die Augen, „damit ihr im Krankenhaus landet oder sogar..."
Sie wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Nein, so etwas würde Justin nicht tun. Oder doch?

„Shirley,...", Leon richtete sich auf. „Shirley!", rief er lauter, als sie immer noch wie ein Zombie vor ihm stand und an ihm vorbei schaute.
„Du hast schon wieder diesen Ausdruck in den Augen. Wie ein scheues Reh, das... kurz davor ist...wegzulaufen."
Shirley bemerkte nur am Rande, dass er zwischendurch nach Atem rang.
Erst als er direkt vor ihr stand und sie sein blasses Gesicht aus der Nähe betrachtete, überkam sie Entsetzen.

„Leon..."
„Versprich mir... nicht mehr wegzulaufen. Langsam wird es schwierig...dir zu folgen."
Er lächelte. Nein, versuchte zu lächeln.
„Kein Wegrennen mehr..."
Seine Augenlieder flackerten und sein Kopf fiel auf ihre Schulter. Sie hörte seine unregelmäßigen Atemzüge.

„Leon, was hast du?"
„Es geht mir gut. Ich will nur nicht mehr laufen."
Sie nahm seinen Kopf, hielt sein Gesicht in den Händen und zwang ihn sich wieder aufzurichten. Er sah furchtbar aus. Und einen Moment später wollte er schon wieder den Kopf senken. Shirley ließ ihn nicht.
„Was hab ich dir nur angetan?", brachte sie schon fast hysterisch hervor. Seine Augen konnten sich nicht mehr fixieren. Panisch nahm sie ihn in den Arm.

„Leon, ich werde nicht weglaufen. Ich bin hier, also bitte beruhige dich wieder."
„Es geht mir gut, Shirley. Bitte hör auf zu schreien. Und wenn du dich... so an mich klammerst, bekomme ich keine...Luft."
„Oh!"
Sofort ließ sie ihn los.
„Nicht ganz so weit weg", beschwerte er sich eine Sekunde später und zog sie wieder zu sich.

Sie lehnte sich an seine bebende Brust und atmete seinen Duft ein. Das er verschwitzt war, störte sie nicht. Sie wollte nur dem unruhig schlagendem Herz in seiner Brust lauschen.
Nach einer Weile fragte Leon: „Was hat diese Qualle zu dir gesagt?"
„Das willst du gar nicht wissen. Dann regst du dich nur wieder auf und ich muss fürchten, dass du..."

Ehe sie den Satz beenden konnte, drückte Leon ihr seine warmen Lippen auf den Mund. Nur flüchtig, aber bestimmend.
„Sag es nicht. Mir geht es gut!"
Seine Stimme und sein folgender Kuss duldeten keinen Widerspruch.



~



So sehr wollte Leon sie beruhigen. Ihr stand die Panik ins Gesicht geschrieben, dabei hatte sie gestern noch von Abstand gesprochen. Er konnte ihre Ängste irgendwie verstehen, nur sollte sie sich nicht noch um seine Gesundheit sorgen. Es reichte schon, wenn Tina ihm täglich Stress machte deswegen. Allerdings beunruhigte ihn seine Schwindelanfälle.

Bisher hatte Leon es verbergen können. Doch nach der starken Anstrengung konnte er sich nicht mehr verstellen.
Er musste so bald wie möglich zu Doktor Noris gehen. Er hatte die letzten Termine wegen Shirley sausen lassen. Leon war sich auch sehr wohl im Klaren darüber, dass er die ein oder andere Zigarette zu viel geraucht hatte.

Wie aufs Stichwort musste er husten und trat von Shirley weg. Schon wieder dieser merkwürdige Gesichtsausdruck von ihr.
Leon grinste und nahm sie wieder in den Arm.

Nach dem wieder versäumten Kurs fuhr Shirley mit den Rox zum Schrottplatz. Natürlich informierte sie Jack darüber. Er war nicht begeistert, konnte sie aber nicht davon abhalten. Er wollte unbedingt mit ihr reden. Jack verstand ihre Reaktion überhaupt nicht. Wie auch? Sie hatte noch immer keine Zeit gefunden ihm die Wahrheit zu sagen.

Leon hätte es selbst gerne getan. Nur hätte Jack ihn wahrscheinlich nicht mal angehört.
Tina prügelte ihn später schon fast zu seinem Arzt. Dabei war ihre Sorge absolut unbegründet. Es war nichts passiert. Ihm ging es gut. Er hatte nur etwas mit dem Sport übertrieben. Das war alles.

Brian Noris erwartete ihn wie immer in seiner Praxis. Er hatte sich extra die letzten Termine frei genommen, um sich intensiv mit Leon zu befassen. Genervt ließ Leon die vielen Tests und Untersuchungen über sich ergehen.
Zum Abend hin war Brian Noris mit allem fertig und beäugte kritisch die Ergebnisse.

„Ich weiß schon", begann Leon ohne den nötigen Ernst in der Stimme. „Wenn ich so weiter mache fahre ich mein Leben vor die Wand und ende sehr bald in einem Leichenwagen." Trotz der makaberen Vorstellung musste Leon ein Lachen unterdrücken. Alle machten so eine ernste Sache daraus. So bald würde er schon nicht ins Gras beißen.

„Ja", sagte Brian nur. Das einzelne Wort reichte schon aus. Sofort gefror das Lächeln auf Leons Mund.
„Ich weiß, du hast es nicht leicht, Leon. Im Moment hast du viele Schwierigkeiten zu bewältigen. Da kann ich es verstehen, wenn du viel rauchst und öfters zur Flasche greifst. Nur geht das ab sofort nicht mehr. Du hast alle Warnungen bisher ignoriert und einfach weiter gemacht. Das Ergebnis ist eindeutig."

„Welches Ergebnis?"
„Ich kann nichts mehr tun, um den Verlauf deiner Krankheit zu beeinflussen und in irgend einer Weise zu verlangsamen, wenn du mir nicht hilfst. Du wirst wieder Anfälle bekommen. Sie werden jedes Mal schlimmer. Sobald regelmäßiger Schwindel und Atemprobleme auftauchen, kann ich so gut wie gar nichts mehr tun."

Leon gab seinem Arzt einen vielsagenden Blick.
„Es hat schon angefangen, oder?", fragte Brian und holte hörbar Luft. Er drehte sich um und stützte sich auf seinem Schreibtisch im Sprechzimmer ab.

„Wann?"
„Vor ein paar Tagen. Es kam ziemlich schnell."
Leon sah das schwache Nicken von Brian, der sich noch immer nicht umdrehte und Leon wusste, was sein Arzt ihm versuchte mitzuteilen.
„Ich gebe dir höchstens ein halbes Jahr, Leon."

Brian drehte sich um und verschränkte die Arme vor der Brust. „Eher weniger."
Sein Blick fiel auf die halb volle Zigarettenschachtel in der Brusttasche von Leons Lederjacke. Doch Leon hatte keine Antwort mehr für den Mann.

Ein halbes Jahr. Die Wahrheit war für ihn ein Schlag ins Gesicht: Er würde sterben. In allzu naher Zukunft würde er von der Bildfläche verschwinden.
Diese Erkenntnis musste erst einmal verdaut werden. Ohne ein weiteres Wort stand er auf und verließ die Praxis von Doktor Noris.

Draußen blieb er vor der Tür stehen und atmete den frischen Abendwind ein. Der Himmel brachte sanfte Streifen auf matt blauem Hintergrund hervor, die sich langsam veränderten und letztendlich im Dunkeln verschwanden. Bis neue auftauchten und ihren Platz einnahmen. Leon wusste nicht, wie lange er dort stand. Sein Kopf war völlig leer. Wie weggefegt waren seine Gedanken. Er spürte nichts.

Aus Gewohnheit griff er in die Brusttasche und holte eine Zigarette hervor. Als er sie gerade anstecken wollte, hielt er inne. Auf einmal spürte er etwas: Wut. Blanken Hass auf seine Mutter. Sie war an allem schuld. Wäre sie nicht ohne ihn und Tina geflüchtet, würde er heute nicht so ein beschissenes Leben führen. Dann wäre er gesund.

Sie sollte ihm bloß niemals begegnen. Leon hasste sie so sehr. Zornig nahm er die Zigarette und schmiss sie samt Feuerzeug einfach weg.

Ein Mann beschwerte sich, der auf dem Gehweg stehen geblieben war und nun das Plastikstück vor seinen Füßen anstarrte. Doch Leon kümmerte es nicht. Er schmiss die Packung Zigaretten gleich hinterher und warf ihm einen eiskalten Blick zu. Darauf hin zuckte der Fußgänger zurück. Eingeschüchtert suchte er das Weite. Leon machte sich ebenfalls auf den Weg. Nur wohin? Er hatte keine Lust sich den Fragen seiner Freunde auszusetzen. Dabei brauchten sie ihn so sehr.

Leon ging ohne wirklich darauf zu achten wohin. Er ging immer weiter und weiter. Irgendwann stand er vor einer Mauer. Eine Sackgasse. Er drehte sich halb zum Gehen um, da holte er urplötzlich aus und schlug seine nackte Faust in das Gestein.

Schmerz durchfuhr seinen gesamten Körper. Er brüllte die Mauer an, als ob sie sich daraufhin verziehen würde - so wie der Fremde es zuvor getan hatte. Doch sie blieb versteinert und gab nicht einmal Antwort. Verzweifelt sank Leon an dem Stein entlang Richtung Boden, während er seine schmerzende Hand hielt.
Doch nichts war vergleichbar mit dem unbeschreiblichen Schmerz in seiner Seele.

Er raufte sich die Haare. Ohne jegliches Zeitgefühl blieb er sitzen und grübelte. So leer sein Kopf noch vor kurzem war, so sehr ratterten seine Gedanken nun. Wie um alles in der Welt sollte er das den Rox beibringen?

Zuerst musste er selbst einmal begreifen, was Brian ihm da gesagt hatte. Leon hatte ja keine Ahnung gehabt, wie schlecht es um ihn stand. Dabei waren die Zeichen eindeutig gewesen. Eindeutig und unübersehbar. Er hatte sie nur nicht sehen wollen.
Noch immer mit sich selbst beschäftigt, bemerkte Leon viel zu spät, dass er nicht mehr alleine war.

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