Kapitel 13

Shirleys Herz klopfte immer noch ganz laut. Das schnelle Pochen hallte in ihren Ohren wieder und ganz in Gedanken, noch bei Leon, ging sie zu Jack ins Haus. Jack war zwar nicht begeistert von ihrem spontanen Ausflug, doch er machte ihr keine Vorwürfe. Immerhin war er zu beschäftigt gewesen. Er konnte sich also kein Urteil erlauben. Außerdem war Shirley erwachsen. Sie wollte leben. Vor kurzem volljährig geworden, ließ sie sich nicht mehr in die Schranken weisen und behandeln wie ein kleines Kind.

So ging sie mit einem Wirrwarr aus Gefühlen ins Bett. Ein unruhiger Schlaf erwartete sie, weshalb sie am nächsten Morgen wie gerädert aus dem Bett kroch und ihren Wecker mindestens dreimal verwünschte.

Trotzdem konnte sie es kaum erwarten aus dem Haus zu kommen. Sie schlang ihr Frühstück hinunter, als hätte sie seit Monaten keins bekommen und eilte dann zum Bus. Es war wieder Montag. Sie begann den Montag zu lieben, genau wie Mittwoch, weil sie dann Bio hatte. In Bio saß sie neben Leon.

Oh wie freute sich Shirley darauf ihn zu sehen. Sie hatte sich bis zum Wochenende mit allem dagegen gewehrt sich auf Leon einzulassen. Aber nun konnte sie es nicht länger verleugnen. Sie hatte sich total in ihn verguckt. Spätestens nach dem
Kuss war ihr das klar.

Es war ein merkwürdiger Montag. Zu Shirleys Verwunderung war keiner der Rox im College erschienen. Selbst Joanna hatte dazu keine Infos. Sie war allerdings sprachlos, als Shirley ihr vom Wochenende erzählte. Deshalb konnten es beide Mädchen nicht verstehen. Warum keiner von den Rox sich an diesem Montag zeigte.

Auch wenn Joanna anfangs etwas eifersüchtig war, überwog später dafür die Neugierde. Auch Shirley hatte ein ungutes Gefühl. Deshalb rief sie nach dem letzten Kurs bei Markus im Restaurant an und ließ sich entschuldigen. Dann sah sie zu, so schnell wie möglich zum Schrottplatz zu kommen.

Unterwegs versuchte sie Leon anzurufen. Doch es kam nur eine komische Stimme vom Band, dass diese Nummer momentan nicht zur Verfügung stand. Mit noch größeren Bauchschmerzen wählte sie anschließend Alex' Nummer. Mit Verzögerung ging Alex endlich ran.

„Alex, was ist los? Warum wart ihr heute nicht im College?"
„Shirley! Tut mir leid. Ich hätte dich schon längst anrufen sollen. Kannst du ins Städtische Krankenhaus der East-Side kommen?

Oh nein, es war etwas passiert. Nur was? Sie hatte die Rox doch gestern noch gesehen.
„J-ja", antwortete sie vorsichtig und mit schlimmen Vorahnungen. Hatte es wieder Streit mit den Rats gegeben? Etwa nachdem sie sicher nach Hause gekommen war?
„Alex, was ist los? Warum seid ihr im Krankenhaus?"
„Leon hatte einen Unfall."

Shirley wäre beinahe das Handy aus der Hand gefallen. „Was? Wann?"
Sie konnte es nicht glauben. Gestern ging es ihm noch gut und auf einmal war er im Krankenhaus wegen eines Unfalls. Shirley musste unbedingt mehr wissen.
„Gestern."
Das versetzte Shirley einen Schlag in den Magen. Er hatte also noch einen Unfall gehabt, nachdem er bei ihr gewesen ist?
„Was ist passiert?", fragte sie erschüttert.

„Keine Ahnung", gab Alex trocken zurück, aber Shirley glaubte ihm nicht. „Alex, was ist passiert?", fragte sie erneut mit Nachdruck in der Stimme.
Shirley hatte schon die Befürchtung, dass die Rats ihm etwas angetan hatten.
„Komm erst einmal her, dann reden wir."

Es verging keine halbe Stunde, da stand Shirley vor den anderen im Krankenhausflur und sah Tina und Alex abwechselnd an. Es kam ihr so unwirklich vor, so abgedreht und hart, dass sie Schwierigkeiten hatte alles zu verarbeiten. Mit zitternden Beinen setzte sie sich auf eine Bank.

„Was sagst du mir da, Alex? Ich begreife es einfach nicht. Ist das wirklich wahr?"
Shirley wagte nicht ihre Freunde anzusehen.
Sie hatte sich die ganze Zeit über ihre lächerliche Narbe aufgeregt und einen riesigen Hype darum gemacht. Dabei hatte Leon viel größere Probleme.
Tina und Alex hatten ihr in Kurzform die wichtigsten Infos gegeben und noch immer konnte Shirley es nicht glauben.

Leon hatte eine Herzkrankheit. Seit einer Ewigkeit war nichts passiert und alle hatten geglaubt, dass Leon seine Gesundheit wieder im Griff hatte. Bisher konnte er damit auch ganz normal leben, doch am Vorabend hatte er eine Art Anfall gehabt.

Ausgerechnet während der Fahrt auf dem Motorrad. Zum Glück hatte er sich dabei nicht viel getan, abgesehen von einigen Prellungen und Schürfwunden. Es war fast ein Wunder, denn laut Tinas Beschreibung seines Motorrads ist er bestimmt mit über hundert Sachen unterwegs gewesen.

Nun warteten die Rox auf weitere Informationen von den Ärzten. Die halbe Nacht waren sie schon mit diversen Untersuchungen zu Gange, doch niemand konnte ihnen bisher genauere Informationen über Leons Zustand geben. Die Rox drehten schon fast durch vor Sorge.

Shirley fühlte sich mies. Und sie war sauer. Sie hatte Leon von ihrer Narbe erzählt. Warum hatte er nicht von seinen Herzproblemen gesprochen? Gegen diesen Mist kamen ihr die eigenen Probleme sehr klein vor.

„Das wird schon wieder", sagte Alex beruhigend. Darauf kassierte er einen finsteren Blick von Tina.
„Das sagst du ständig."
„Es funktioniert ja auch immer wieder."
„Alex, ich habe meinem Bruder so oft gesagt, dass er was ändern soll. Er hört nicht auf mich. Das hat er nun davon."

„Tina", mischte sich Susan ein „es ist jetzt ewig nichts passiert. Keiner von uns hat mit sowas gerechnet."
Das sollte Tina eigentlich beruhigen, erbrachte aber eher das Gegenteil. „Er raucht, er trinkt, er feiert, er überanstrengt sich... kein Wunder, dass sowas passiert."

„Jetzt sag nicht du hast das erwartet."
„Natürlich nicht!", schrie Tina fast zurück. „Ich rede nur immer auf ihn ein sich zurück zu halten. Nach drei Monaten Knast, kann er nicht erwarten topfit zu sein. Deshalb sollte er seine Tabletten nehmen, die Dr. Noris ihm verschrieben hat. Aber mein Bruder ist ja felsenfest der Meinung, dass er das nicht nötig hat", meckerte sie aufgebracht.

„Tina, nun beruhig dich doch mal", sagte Alex zu seiner Freundin und nahm sie in den Arm. Wenn auch mit finsterem Gesicht, sie ließ ihn gewähren.

Nach ein paar Minuten fuhren Vince und Susan los, um Toni und Max von der Schule abzuholen. Ian raufte sich die Haare und lief ständig im Flur auf und ab. Sarah und ihr Freund saßen auf der Bank und redeten leise miteinander. Jeder versuchte sich die Zeit zu vertreiben und sich so gut wie möglich abzulenken. Bis endlich ein Arzt zu Tina kam, was Alex dazu zwang sie loszulassen.

Mit ungutem Gefühl wurde den Worten des Arztes gelauscht.
„Miss Rassey, Ihr Bruder ist wieder stabil. Er litt unter einer Angina Pectoris. Das sind anfallsartige Schmerzen in der Brust, die durch eine vorübergehende Durchblutungsstörung des Herzens hervorgerufen werden. Ihnen ist sicher bekannt, dass ihr Bruder unter einer Erkrankung der Herzkranzgefäße leidet."

Tina nickte schwach. Man las ihr die Sorge aus den Augen ab.
„Ich muss zugeben, es tritt selten bei jungen Menschen auf, ist aber nicht ausgeschlossen. Es ist so, dass diese Krankheit im Laufe von Jahren oder Jahrzehnten weiter fortschreitet. Ich nehme mal an ihr Bruder ist deswegen in Behandlung?"
„Ja, schon eine Weile", antwortete Tina und nickte wieder. Shirley hörte gespannt zu und konnte nicht glauben, was sie da hörte.

„Sie können ihm doch helfen?"
Der Arzt schüttelte den Kopf.
„Er schwebt nicht in akuter Lebensgefahr. Eine konkrete Heilung, Beseitigung der Ursache ist zur Zeit jedoch nicht möglich. Allerdings kann man den Fortschritt der Krankheit durch Medikamente und gezielte Lebensumstellung verlangsamen."

„Das bedeutet?", hakte sie nach.
„Leon muss seine Lebensgewohnheiten umstellen: Keine Zigaretten, kein Alkohol, keine Drogen, falls er welche nimmt. Er sollte sich ausgewogen und gesund ernähren und seine Medikamente einnehmen. Darüber hinaus erwarten wir, dass er regelmäßig einen Arzt aufsucht und sich untersuchen lässt. Man muss seinen Gesundheitszustand im Auge behalten und nötigenfalls die Behandlung ausdehnen."

„Okay. Aber wird er wieder diese Schmerzattacken bekommen?"
„Nein, nicht wenn er etwas ändert. Am besten er strengt sich nicht allzu sehr an und vermeidet Stress. Aber das kann nur er selbst beeinflussen."
„Was passiert, wenn sich die Krankheit verschlechtert und er weitere Anfälle, also A-An-gi..."
„...Angina Pectoris", ergänze der Arzt.
„Ja, was wenn er das wieder bekommt?"
„Es sollte so selten wie möglich auftauchen. Andernfalls..."

„...andernfalls...?", fragte Tina besorgt.
„Es muss nichts passieren. Wenn Ihr Bruder sich schont, mache ich mir keine Gedanken."
Shirley wurde warm. Umso stärker fühlte sie den eiskalten Schauer, der ihr über den Rücken lief. Den anderen erging es ähnlich.

„Fürs Erste kann ich nicht mehr für ihn tun. Er sollte noch eine Nacht zur Beobachtung hierbleiben, aber schon morgen darf er nach Hause."
Nach diesen schockierenden Informationen verabschiedete sich der Arzt und ließ die Rox mit hängenden Köpfen zurück.

„Bitte mach dir nicht allzu große Sorgen, Tina. Das bekommen wir wieder in den Griff."
Alex nahm Tina tröstend wieder in den Arm.
„Lass uns mit Doktor Noris sprechen, sobald Leon hier raus ist."
„Okay", antwortete sie geknickt.

Shirley wollte gar nicht erst Fragen, wer Doktor Noris war. Zielsicher betrat sie wenig später Leons Krankenzimmer. Angestrengt verfolgten sie seine Augen. Mehrere Verbände zierten seine Arme und auch ein Bein, das zur Hälfte unter der Bettdecke hervor lugte.
Shirley setzte sich auf den Rand der Matratze und kaute nervös an ihren Fingernägeln.

„Es freut mich dich zu sehen", sagte Leon leise.
„Ich musste mich einfach davon überzeugen, dass es dir gut geht", nuschelte sie zwischen ihren Fingern hindurch. Leon brachte es zum Schmunzeln.
„Es geht mir gut", versichere er ihr.
„Ja, weil du verdammtes Glück hattest", meckerte sie.
„Warum hast du mir nicht gesagt, dass du so krank bist?"

Er rollte mit den Augen.
„Ich bin nicht krank. Ich habe lediglich gesundheitliche Schwächen. Mach dir darüber keine Gedanken. Im Handumdrehen bin ich hier raus und wir können da weiter machen, wo wir gestern aufgehört haben."

„Leon!"
Shirley war empört.
„Du kannst nicht leugnen, dass dir was an mir liegt."
„Und wenn schon, lenk nicht ab. Das ist eine ernste Sache. Du musst echt auf dich aufpassen."

„Jetzt fang du nicht auch noch mit der Leier an."
„Ich mein's ernst, Leon. Ist es denn verboten sich Sorgen zu machen? Das zeigt doch nur wie gerne wir dich haben. Auch...auch ich."
Leons Miene entspannte sich bei dem letzten Satz etwas. Er war stark und er hatte gelernt seine Sorgen und seine Schmerzen vor anderen zu verbergen. Das raue Leben auf der Straße hatte ihn dazu gebracht so zu werden.

„Warst du nicht derjenige, der mir sagte Rox haben keine Geheimnisse und der mir geraten hat den Mund aufzumachen und zu sagen, wenn etwas ist?"

„Das war nichts, Shirley. Ich hatte es für eine Zeit lang sogar selbst verdrängt...", er machte eine Pause, „gleichzeitig hänge ich meine Sorgen nicht gerne an die große Glocke. Ich hätte es dir noch erzählt... irgendwann."

Das beruhigte Shirley kein bisschen. Er hatte sie gedrängt alles zu erzählen, aber er selbst hatte nicht das Recht Geheimnisse zu haben. Ein bisschen stimmte es sie wütend und auch ein bisschen traurig. Er machte immer den Eindruck, als bedeute ihm Shirley die Welt, aber so nahe war sie ihm doch noch nicht. Sonst hätte er etwas gesagt.

„Bitte denke nicht weiter darüber nach. Ich war einfach etwas überwältigt nach unserem Kuss."
„Also bin ich daran schuld?"

„Das hat keiner gesagt. Nimm es einfach als Kompliment", grinste er plötzlich.
„Was ist daran als Kompliment zu verstehen, wenn ich dich auf die Art ins Grab bringe?"
Er lachte und schüttelte leicht den Kopf.

„Jetzt mal nicht den Teufel an die Wand. Du tust gerade so, als läge ich schon halb unter der Erde. Ich habe bloß eine kleine Herzschwäche. Das ist ein Defizit, weiter nichts. Bisher habe ich auch prima damit gelebt."
Shirley sparte sich eine weitere Diskussion. Vermutlich hatte er recht und sie übertrieb vollkommen. Dennoch sorgte sie sich um ihn. Leon musste dringend etwas an seinem Lebensstil ändern.

Es dauerte nicht lange, bis es Leon deutlich besser ging. Er hatte mehr Glück als Verstand. Nur wenige Tage später tauchte er wieder im College auf und wurde natürlich wieder von einer Horde Mädchen umringt und ausgefragt. Auch Joanna hielt ihre Fragen nicht zurück. Sie hatte ihre Eifersucht überwunden und interessierte sich weiterhin für die Rox. Gut dass sie dem nicht so viel Bedeutung entgegen gebracht hatte.

So langsam konnte sich Shirley wieder entspannen, als der gewohnte Alltag zurück kam.
Allerdings kam die Unruhe schnell zurück, denn plötzlich hielt ein Abschleppwagen und ein Polizeiwagen vor dem College. Shirley erkannte sofort ihren Vater, der gerade mit dem Fahrer des Abschleppwagens sprach. Sie ging zu ihm hin.

„Hey, Jack."
„Hey", grüßte er zurück. Ihr Blick fiel auf das fast komplett zu Schrott gefahrene Motorrad, dass ihr sehr bekannt vorkam. Bei dem Anblick, stellte sich Shirley vor, wie der Unfall ausgesehen haben musste. Leon hatte wirklich verdammt viel Glück gehabt. Dieser tauchte auch plötzlich neben ihr auf und lächelte, als hätte man ihm gerade den ersten Preis dafür gegeben.

„Chief Montez, welch Freude Sie zu sehen", heuchelte Leon. Zumindest klang es in Shirleys Ohren etwas übertrieben.
„Leon, ich hab das was gefunden. Ich glaube das ist dein Motorrad."
Jack deutete mit dem Daumen hinter sich auf den Schrotthaufen.
„Das ist sehr aufmerksam."
„Es ist dir sicher recht, wenn ich es zum Schrottplatz liefern lasse."
„Da wäre ich Ihnen zutiefst dankbar, Chief Montez. Ehrlich diese Umstände..."

„Spar dir das. Ich weiß dass du eh nicht daraus gelernt hast. Nächste Woche wirst du wie üblich ohne Sinn und Verstand durch die Straßen rasen."
Shirley wollte sich einbringen und holte gerade Luft als ihr Vater sagte: „Du bist still, Shirley. Ich bin froh, dass du nicht fährst."
„Dad, du weißt doch gar nicht warum es zu..."
„Shirley...", unterbrach Leon sie leise und schüttelte den Kopf. Offenbar wollte er ihrem Vater nichts von seiner Krankheit sagen.

„Na schön, ich muss wieder los. Wir sehen uns später", rief Jack noch zu Shirley bevor er wieder in den Streifenwagen stieg. Sobald er fort war, drehte sich Shirley zu Leon um.

„Wieso durfte ich ihm nicht die Wahrheit sagen? Dann hätte er keinen Grund gehabt dich für irgend etwas zu verurteilen."
„Nein, ich will nicht, dass andere davon erfahren. Nur die Rox sollen es wissen. Nur Familie okay? Bitte behalte das für dich."

Natürlich würde sie das. Er ging auch nicht hin und erzählte jedem von ihrer Narbe. Bei dem Gedanken daran bekam sie schon wieder ein schlechtes Gewissen.
„Ich verspreche es."

Leon musterte sie mit einem forschenden Blick.
„Dass du dir Sorgen gemacht hast, freut mich."
„Eigentlich solltest du vermeiden, dass ich mir Sorgen machen muss."
Er lächelte.
„Aber es zeigt mir, dass ich dir was bedeute. Wie viel, das muss ich noch heraus finden. Aber ich bin dir nicht mehr egal."
„Du warst so einiges, Leon Rassey, aber du warst mir niemals egal."
Er grinste.


~


Leon erholte sich sehr gut. Natürlich durfte er sich noch nicht überanstrengen. Das bedeutete vorerst aufs Tanzen und auf den Sport zu verzichten, eine Katastrophe für ihn. Aber seine Prellungen verschwanden relativ zügig.

Er lenkte sich einfach so gut es ging ab, indem er sich auf Shirley konzentrierte. Sie schien ihm langsam immer mehr zu vertrauen und sich in Gegenwart der Rox zu entspannen. Leider war seit dem Kuss am Wochenende nichts mehr zwischen ihnen passiert - sehr zu Leons Leidwesen.

Andererseits sollte er lieber von Shirley Abstand nehmen, wenn schon nach einem Kuss solche Dinge mit ihm passierten. Er durfte sich gar nicht mehr vorstellen, sonst würde er noch einen Herzinfarkt bekommen.

Nicht das es zum Lachen wäre, aber er fand den Gedanken belustigend. Einen schöneren Tod, als beim Sex einfach so abzutreten, könnte sich Leon nicht wünschen.

Nein, so durfte er nicht denken. Weder über das eine noch das andere solle er sich im Moment Gedanken machen. Es würde so bald beides nicht passieren.
Leon änderte seine Meinung ganz schnell, als Shirley am Donnerstag Abend von der Arbeit kam und noch auf dem Schrottplatz vorbei schaute.

Er saß mit Alex und Sam draußen und schraubte mit ihnen an den Überresten seines Motorrads herum. Unmöglich daraus etwas zu zaubern. Aber für ein neues Motorrad müsste er Monate an Überstunden machen. Er würde sein altes Bike wider reparieren. Es würde nur sehr lange dauern.

Als er frustriert den Schraubenzieher zur Seite schmiss, landete er genau vor Shirleys Füßen. Er war nur froh, dass er sie nicht getroffen hatte. Er wollte sich gerade entschuldigen, da fiel sein Blick auf das, was sie da an hatte.

Keine lange Jeans oder ein weites Shirt. Nein, sie trug eine Shorts, Sandaletten und ein kürzeres Shirt als sonst. Hauptsache es bedeckte ihre Narbe. Dabei wusste er nicht einmal, wie groß diese war. Irgendwann würde er dieses Geheimnis auch noch lüften.

Er schluckte unbewusst, als sein Blick, an ihren langen Beinen hängen blieb. Erst als Alex sich räusperte und Shirley sich verlegen die Haare aus dem Gesicht zog, zwang sich Leon ihr ins Gesicht zu sehen.
„Hi", grüßte er mit einem unschuldigen Lächeln.

„Hey. Wie sieht's aus, bekommst du das wieder hin?"
„Mal sehen", antwortete Leon. „Zur Zeit bin ich nicht wirklich motiviert, wenn ich darüber nachdenke, wie lange das dauern wird."
„So sah das gerade auch aus."
„Entschuldige, ich wusste nicht, dass du dich ausgerechnet in die Wurfbahn stellen würdest, sonst hätte ich besser gezielt", frotzelte er.

„Ha, ha."
Sie zog eine Grimasse und setzte sich neben Alex. Es fiel Leon sehr schwer sie zu ignorieren. Seit wann war Shirley so freizügig?
„Hast du dich entschlossen doch ein paar Sonnenstrahlen an deine Haut zu lassen?", fragte Alex ganz neugierig.

„Ja. Es mag mir nur so vor kommen, aber ich finde es wird jeden Tag wärmer."
„Das ist ein warmer Ort, Shirley. Ist nicht mit Alaska zu vergleichen. Ich weiss eh nicht, wie man sich diesen Temperaturunterschied freiwillig antun kann", meinte Leon, während er sich den Schraubenzieher zurück holte. „Na ihr Vater lebt doch hier", erinnerte Sam.

„Ach ja. Den hatte ich ja ganz vergessen."
„Wie kannst du den vergessen, der ständig und immer überall ist?"
Alex und Sam lachten gleichzeitig.
„Schon klar", gab Leon genervt zurück.
„Pass auf, Shirley, er ist nicht in bester Stimmung."
„Das merke ich schon, Sam."
„Stichwort ‚Stimmung', wir wollten am Samstag Leons schnelle Genesung feiern sowie seine Freilassung. Du bist dabei, Shirley."

„War das jetzt eine Frage, Alex, oder eine Mitteilung?"
„Natürlich eine Mitteilung."
„Ja so klang das auch...und wie soll diese Feier aussehen?", fragte Shirley eher skeptisch.

Bei einer Party gab es jede Menge Alkohol und sonstiger sündhafter Versuchungen, denen Leon sich eigentlich fern halten sollte.
„Ach nichts besonderes. Wir wollten ein paar Freunde einladen und ein bisschen Party machen. Nichts besonderes."

„Apropos Freunde, sieh mal wer da kommt, Leon", sagte Sam und deutete auf das offene Hoftor, durch das zwei Motorradfahrer kamen. Sie hielten ihre Bikes neben dem Mustang und kamen gleich zu den Jungs rüber. Sie nahmen die Helme ab und Leon erkannte die allzu bekannten Gesichter seines Freundes Tim und seiner Exfreundin Riki.

Beide, blond und sportlich, passten optisch gut zueinander. Es gab eine Zeit, da war Leon noch eifersüchtig auf seinen besten Freund, der ihm seine Freundin ausgespannt hatte.

Rikis blonde Strähnen stachen richtig hervor, da ihre natürliche Haarfarbe dunkler war. Sie leuchteten allerdings nicht so wie Shirleys ausladende Mähne. Tims Haare waren glatt und kurz. Sie verliehen ihm immer einen strengen Ausdruck. Genauso wie seine immer angespannte Miene. Nur heute sah er übermäßig gequält aus. Das konnte Leon verstehen. Tim musste ein wahnsinnig schlechtes Gewissen haben.

„Hallo", grüßten beide. Alex und Sam erwiderten den Gruß noch. Zwar nicht euphorisch, aber sie ignorierten sie nicht, wie Leon es sich vornahm. Er wandte ihnen einfach den Rücken zu und entfernte sich von ihnen. Riki blieb bei den anderen stehen, während Tim Leon folgte.

Er kam nicht weit, denn Tim fing an herum zu quengeln, wie ein kleines Kind. „Komm schon Leon, ich bin gekommen, weil ich mir Sorgen mache und weil es mir leid tut. Jetzt sei bitte nicht sauer."

„Sauer?"
Leon blieb abrupt stehen und sah seinen vermeintlich besten Freund an. Diesen Titel verdiente eher Alex.
„Ich bin nicht sauer, Tim. Ich bin enttäuscht. Du weißt ja was das bei mir bedeutet."
„Ja ich weiß. Du hast auch allen Grund dazu. Ich war nicht da, als du mich gebraucht hast."

Leon lachte sarkastisch.
„So war das nicht. Ich bin für dich in den Knast gegangen und du warst nicht einmal da. Nicht ein einziges Mal. Auch danach bist du nicht gekommen. Ich bin schon länger wieder draußen und sag jetzt nicht, das hast du nicht gewusst."

„Nein ich hab es gewusst. Ich hab Scheiße gebaut. Nach dem ganzen Mist mussten Riki und ich erst einmal verschwinden. Wir sind untergetaucht, Leon. Wir waren nicht mehr in der Stadt."

„Von wegen, ihr seid abgehauen und habt das ganze Geld ausgegeben, was du für die Autos bekommen hast. So sieht's aus."
„Leon, ich bin hier, weil es mir leid tut."
„Ja und wie leid. Ich lach mich schlapp."

Beide schwiegen einen Moment und versuchten sich nicht weiter aufzuregen.
„Du hattest einen Unfall, nicht wahr? Ich hoffe das ist hauptsächlich Blechschaden."
„Das wird schon wieder", spielte Leon es runter.
„Wie ist das passiert?", wollte Riki wissen.

„Ich hatte...", kurz überlegte er, ob er ihr die Wahrheit sagen sollte, „ich hatte einen Schmerzanfall, nichts wildes."
Für einen Moment stand doch große Sorge in ihren Augen. Machte sie sich tatsächlich Gedanken um ihn? Nach der Knast-Aktion, war Leon überzeugt davon, dass er ihr egal war. Aber sie wusste von seiner Krankheit.

„Du hattest lange keinen mehr. Ich hoffe das passiert nicht wieder."
Leon hob misstrauisch eine Augenbraue.
„Es interessiert euch doch einen Dreck, ob ich lebe oder sterbe."

„Sag das nicht, Leon", rief Riki empört und von Tim kam noch ein „Wir sind doch Freunde."
„Nein sind wir nicht, Tim, denn Freunde tun sich sowas einfach nicht an."

Tim raufte sich verzweifelt die Haare. Es tat ihm wirklich leid, das wusste Leon. Doch er war auch wirklich enttäuscht. Eine Weile würde er noch schmollen.

Er vergaß seinen Ärger sehr bald, denn Riki musterte Shirley unverhohlen und versuchte sie bestimmt einzuordnen. Das war für Leon schon wieder amüsant. Er hatte vor ihr ganz offen über den Unfall und seine Ursache gesprochen. Das zeigte Riki, dass Shirley nicht irgendwer war.

Als Riki sie ganz offensichtlich nicht einschätzen konnte, fragte sie ganz direkt: „Und wer ist das?"
Dabei nickte sie mit dem Kopf in Shirleys Richtung.

Noch bevor irgend jemand etwas darauf antworten konnte sagte Leon: „Sie ist meine Freundin. Ihr Name ist Shirley Montez."
Sowohl Riki als auch Shirley selbst blieb die Luft weg und beide antworteten im Chor: „Was?"

Auch Alex und Sam staunten nicht schlecht, kriegten sich aber am schnellsten wieder unter Kontrolle, nur um anschließend eine Kicherattacke zu unterdrücken.
„Freundin sowie ‚nur eine Freundin' oder wie in ‚Feste Freundin'?", fragte Riki noch einmal nach.

„Du hast mich schon verstanden", gab Leon nur zurück. Sollte sie doch daraus machen, was sie wollte. Sie sagte zwar ‚Okay' und tat so, als hätte sie verstanden, aber Leon wusste es besser. Noch immer wusste sie nicht, was Leon eigentlich gemeint hatte.

Zugegeben er hatte sich etwas undeutlich ausgedrückt. Aber er beschloss das nicht weiter auszuführen. Er wechselte einen kurzen Blick mit Shirley. Diese hob die Augenbraue und durchbohrte ihn mit ihren großen Augen. Am liebsten hätte sie ihm dafür sonst was angetan. Sie sollte sich nicht so aufspielen und sich ruhig schon mal an den Gedanken gewöhnen. Denn sie würde bald ihm gehören.

Keiner versuchte das Missverständnis aufzuklären. Auch Alex und Sam hatten ihren Spaß. Tim und Riki blieben noch eine Weile und Leon beschloss seinem Freund zu vergeben, als er sich bei Sonnenuntergang wieder von ihm verabschiedete. Sehr verwirrt war Leon jedoch über Rikis Abschiedskuss, den sie ihm auf die Wange pflanzte. Er warf ihr einen skeptischen Blick zu.

„Wollte nur was überprüfen", erklärte sie, als hätte sie ihm gerade in der Hand gelesenen und darin seine Lebenszeit erforscht.
„Ach ja?"
Sie nickte und schwang sich dann auf ihr Bike. Eine Minute später, waren beide verschwunden.

„Äh, Leon?", hörte er Shirley hinter sich sagen. „Ich glaube, wir haben das was zu klären."
Oha. Jetzt würde er büßen, für das, was er zu Riki gesagt hatte. Seine unterkühlte Ex-Freundin hatte nicht ein Wort mit Shirley gewechselt. Aber nun war es zu spät so etwas wie Eifersucht zu empfinden. Immerhin hatte sie sich damals für Tim entschieden.

Er hatte sie immer gewollt. Aber nun gab es da dieses hinreißende Wesen mit blonden Haaren, einer mörderisch guten Figur und einem Lächeln, das ihn jedes Mal wieder um den Verstand brachte. Allerdings sah Shirley ihn gerade eher so an, als wollte sie ihn erwürgen. Sie hatte die Arme verschränkt und zog eine Schnute. Sie war ja so süß.

„Was haben wir denn zu klären?", fragte Leon unschuldig. Alex und Sam grinsten. Sam versuchte sich erfolglos auf das kaputte Motorrad vor ihm zu konzentrieren. Alex machte sich gar nicht erst die Mühe sein Interesse an der Konversation zu verbergen.
„Naja, was du da zu Riki gesagt hast..."

„Was habe ich denn gesagt?", fragte Leon immer noch, als wüsste er von nichts. Dabei kam er ihr langsam näher.
„Du weißt, was ich meine. Du kannst doch nicht einfach sowas sagen, ohne mit mir darüber zu reden. Ich hab da nämlich ein Wörtchen mitzureden."

Sie tat verdammt hart, aber gleich würde sie schon schwach werden. Es war lustig zu sehen, wie sehr sie sich um Haltung bemühte. Mit jedem Schritt von ihm auf sie zu, stieg ihre Unsicherheit. Das spürte er ganz deutlich.

„Hm, eigentlich dachte ich, dass wir da nicht mehr großartig drüber zu reden haben."
„Natürlich sollten wir darüber reden."
Leon war kaum noch zwei Meter von ihr entfernt.
„Ich finde reden ist überbewertet."

„Leon!", ermahnte ihn Shirley, aber es war zu spät. Leon trat noch einen großen Schritt vor. Anschließend drückte er ihr vor Sams und Alex Augen einen Kuss auf den Mund. Nur kurz, sonst würde sie wieder weglaufen. Er grinste sie frech an.

„Ich finde wir haben alles geklärt."
Er rechnete mit irgendwas von ihr und trat vorsichtig einen Schritt zurück. Aber Shirley war sprachlos. Sie rührte sich auch nicht. Sah ihn nur an, als hätte sie ihn noch nie gesehen. Es verging ungefähr eine Minute, bevor sie sich fing und räusperte.
„Ist das dein Ernst?"

„Was?"
„Hast du das nur so dahin gesagt, weil sie deine Ex war, oder hast du das ernst gemeint?"
Eine harmlose Frage. Ganz harmlos, aber er wusste, er durfte ihr jetzt nicht mit einem Scherz antworten. Eine falsche Antwort könnte sie total verletzen.

Abgesehen davon, hatte Leon es wirklich ernst gemeint. Wenn sie sich nicht dagegen sträubte, würde er sie nur zu gerne als seine feste Freundin haben. Aber war sie schon bereit dafür? Traute sie ihm genug, um sich darauf einzulassen?

„Ich habe das in dem Moment gesagt, um Rikis dummes Gesicht zu sehen." Er beschloss so ehrlich wie möglich zu sein. „Und auch um deines zu sehen. Allerdings habe ich das gleichzeitig auch ernst gemeint. Du weißt, dass du mir viel bedeutest. Ich versuche nicht das zu verbergen. Aber ich weiß auch, dass du misstrauisch bist, auch wenn du mich gern hast. An dich ran zu kommen ist nicht leicht, weil du dich immer so verschlossen und unantastbar gibst. Ich möchte dich als meine Freundin haben. Das bedeutet mir alles. Doch würde ich es dir niemals aufzwingen. Du entscheidest, ob du mich haben willst oder nicht, Shirley."

Er hoffte, dass diese Worte ihr genügen würden. Um sie nicht mit seinem forschenden Blick unter Druck zu setzen, ging er zu seinen Freunden und zog sich seine Lederjacke über das dunkle Shirt. Es war eben doch noch nicht Hochsommer. In der Nacht wehte noch ein frischer Wind.

Für Shirley musste es trotzdem warm sein. Sie sah zumindest nicht so aus, als wäre ihr kalt. Als er sich umdrehte, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass Shirley zu ihm kam. Mit schnellen Schritten stapfte sie auf ihn zu. Ohne ein Wort legte sie eine Hand an seine Wange und küsste ihn intensiv. Nicht dass Leon sich nicht gefreut hätte, aber von der sonst so zurückhaltenden Shirley Montez war er anderes gewohnt. Er erwiderte den Kuss, wagte aber noch immer nicht seine Arme um sie zu schlingen.

„Na wenn das keine Antwort ist", kam es von Sam lachend. Auch Alex war recht angetan von Shirleys Reaktion.
„Ich finde auch...Reden ist überbewertet", flüsterte Shirley in Leons Ohr. Dann fügte sie noch mit scharfem Ton hinzu: „Verarsch' mich nicht, Leon Rassey, sonst kastriere ich dich."

Auch wenn sie das niemals tun würde, zeigte der Spruch seine Wirkung. Leon schluckte demonstrativ. Dann gab sie ihm noch einen Kuss und alles war vergessen. Leon war im Himmel. So fühlte es sich an Shirley zu küssen. Wie ein Hochflug oder Achterbahn. Nein, es war besser.

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