Kapitel 11
Auf dem Schrottplatz befanden sich zwei Basketballkörbe. Einer war am Haus angebracht und einer stand frei auf der anderen Seite. Der Zwischenraum war etwa so groß wie ein normales Basketballfeld. Shirley war immer noch ganz überrumpelt von der Idee mitten in der Nacht ein Spiel zu wagen.
Aber Leon sah das anscheinend anders. Er holte von drinnen einen Ball und zog sich die Jacke aus. Das erinnerte Shirley an ihr eigenes unpassendes Outfit und sah kurz an sich herab.
„Äh Leon, wie soll ich in den Schuhen und dem Rock Basketball spielen?" Sie deutete auf ihre Absätze.
„Mach es einfach. Sei mal etwas locker, Shirley. Wenn du es schaffst in den Klamotten einen Korb gegen mich zu werfen, dann bekommst du eine Belohnung."
Er fügte noch hinzu: „Außerdem meinen Respekt, denn dann hättest du bewiesen, dass das letztes Mal nicht bloß Zufall war."
Das reichte wohl, um sie zu motivieren. Sie ging zu ihm. „Und wenn du gewinnst?"
„Dann bekomme ich auch etwas von dir."
„Und was soll das sein?"
„Wollen wir quatschen, oder machen wir ein Spiel?"
Shirley verdrehte die Augen, griff ihn aber im selben Moment an und schnappte sich den Ball.
„Was ist? Damit hat du jetzt nicht gerechnet, nicht wahr?"
„Doch, aber ich habe dir den Ball überlassen. Du bist im Rückstand. Außerdem heißt es doch immer ‚Ladies first'."
„War ja klar, dass du ausgerechnet jetzt den Gentleman raus lässt."
„Ich bin ein Gentleman, Shirley. Auch wenn du es mir nicht zutraust."
„Willst du weiter quatschen, oder machen wir ein Spiel?", gab sie ihm seine eigene Frage frech zurück. Von da an war Schluss mit Reden. Er griff an und Shirley versuchte den Ball so gut es ging zu verteidigen. Ihre Traurigkeit von vorhin war vergessen.
Leon forderte ihre Konzentration so sehr, dass sie gar keine Zeit mehr hatte an ihre Mutter zu denken. Es gehörte zu seinem ausgefuchsten Plan sie abzulenken. Es war eine eigenartige Art sie zu trösten, aber es funktionierte. Das war allemal besser als sie in den Arm zu nehmen und ihr nette Worte zu flüstern. Das bewirkte bei Shirley immer nur das Gegenteil. Darum war sie froh über das Spiel. Leider dauerte es nicht lange und Leon machte den nächsten Korb.
„Das ist nicht gerade motivierend, wenn es bereits sieben zu eins steht."
„Darum geht es doch gar nicht. Es geht darum Spaß zu haben."
„Ach was."
Sie holte sich den Ball erneut und tänzelte um Leon herum. Da kam ihr eine Idee. Sie war leichtfüßig und sie konnte tanzen. Solange sie die Anzahl der Schritte nicht vergaß würde sie es damit vielleicht schaffen. Und so begann Shirley wieder zu tanzen. Nur war es dieses Mal kein Problem. Es war ja kein richtiger Tanz, es war nur Basketball. Leichtfüßig, geschwind und schnell huschte sie an Leon vorbei. Sie wich ihm mit einer Drehung aus, täuschte ihn geschickt mit einer Finte und warf. Der Ball versank im Netz.
„Du hast es schon wieder getan." Leon grinste sie an. „Du hast zwar eine interessante Art Basketball zu spielen, aber du hast mich schon wieder ausgetrickst. Wie machst du das nur?"
Sie lachte. Tatsächlich, sie lachte.
„Hast du gerade noch etwas von unmotiviert gesagt? Das sah mir nicht danach aus."
„Tja, Leon, ich habe auch meine Art dich zu täuschen."
Er seufzte.
„Ich bin drauf reingefallen."
Schon wieder musste sie lachen. Das war ihr schon fast unheimlich. Leon hatte diese faszinierende Fähigkeit ihr so einfach gute Laune zu verschaffen.
Er war kein Idiot. Er war auch kein arroganter Aufschneider. Wie hatte sie sich nur so in ihm täuschen können? Während sie noch darüber nachdachte, fiel ihr plötzlich auf, dass er sie anstarrte. Zu lange, als dass es als Versehen abgetan werden konnte.
„Was?", fragte sie neugierig.
„Nicht so wichtig", wies er sie ab und hob den Ball auf.
„Sag schon, Leon. Was ist dir gerade durch den Kopf geschossen?"
„Wenn ich dir das sage, rennst du vor mir weg."
„Bestimmt nicht."
Als er sich immer noch nicht bequemte ihr zu antworten stellte sie sich vor ihn hin und sagte: „Ich habe noch eine Belohnung offen, weil ich noch einen Korb gegen dich geworfen habe."
Er seufzte lächelnd.
„Und das soll es sein?"
Sie nickte überzeugend.
„Also schön."
Er drehte den Ball zwischen seinen Händen hin und her.
„Ich habe dich angelogen, als ich sagte, dass ich dich mag."
Shirley rutschte die gute Laune vom Gesicht. Sie befürchtete das Schlimmste. Was wollte er ihr denn damit sagen? Aber Leon war noch nicht fertig.
„Ich mag dich nicht Shirley. Ich...bin total...in dich verschossen."
Zuerst hielt sie es für einen Scherz. Einen miesen Scherz. Aber ein Blick in Leon's gold-braune Augen zeigten, wie ernst er das meinte. Allein das war schon zum Lachen. Wieso sollte sich Leon...?
Das konnte unmöglich wahr sein. Und dennoch war es keine Lüge.
„Leon..."
„Nein, sag jetzt nichts. Ich wollte einfach nur, dass du es weißt."
„Aber Leon, du weißt doch kaum was von mir."
„Ich weiß genug. Du bist intelligent, mutig, zielstrebig und auch sehr misstrauisch. Du tanzt gerne und spielst Basketball fast so gut wie ich. Damit hätten wir übrigens schon zwei Gemeinsamkeiten. Außerdem bist du wunderschön und sexy. Wenn du mich anschaust, bekomme ich jedes Mal eine Gänsehaut und dein Lächeln schaltet meinen Verstand aus, wie eine Lampe."
„Ich mag so einiges sein, Leon, aber gewiss nicht sexy."
„Warum denkst du so von dir? Hast du dich mal mit meinen Augen betrachtet?"
„Glaube mir, Leon, das habe ich oft genug."
Sie wandte sich ab, um ihm nicht schon wieder ihr trauriges Gesicht zu zeigen. Schon wieder kamen ihr die Tränen. So sehr sie sich eigentlich über sein ehrliches Geständnis hätte freuen sollen, so sehr beängstigte es sie. Leon hatte ja keine Ahnung von der Narbe. Sie war entstellt und wenn er das herausfinden würde, dann würde sich die Vergangenheit erneut wiederholen. Noch einmal würde sie das nicht ertragen.
„Ich sagte ja du würdest wieder wegrennen. Ist es wegen dem Geheimnis?"
„Was?", fragte sie und wischte sich die Tränen weg.
„Ich bin nicht dumm, Shirley. Ich hatte die letzten Wochen Zeit dich zu beobachten. Du bist misstrauisch, beinahe zu misstrauisch. Du kehrst Fremden niemals den Rücken zu und du lässt dich nicht einmal von Sarah anfassen. Selbst beim Tanzen vorhin, war ich darauf bedacht dir nicht zu nahe zu kommen. Irgend einen Grund hast du für dein Verhalten."
Shirley starrte ihn an.
„Und da ist es wieder, dieses Gesicht...wie ein scheues Reh, das den Jäger wittert und kurz davor ist wegzulaufen. Dabei weiß ich nicht einmal warum du niemanden an dich heran lässt."
„Hör zu Leon, ich bin einfach kaputt. Ja, ich habe ein Geheimnis. Ich lasse mich nicht gerne anfassen und ich vertraue niemandem. Deshalb lasse ich niemanden an mich heran. Ich danke dir für die Wahrheit. Ich fühle mich wirklich sehr geschmeichelt, aber ich kann weder damit umgehen noch habe ich den Mut irgendwas zu erwidern."
„Warum? Traust du mir immer noch nicht? Habe ich dir jemals einen Grund gegeben vor mir weg zu laufen? Wenn ich dir was antun wollte, hätte ich schon tausende Gelegenheiten gehabt."
Er sah mittlerweile wütend aus. „Weißt du was, wenn du mich einfach nicht magst, dann sag es mir. Ich kann das verkraften. Besser als wenn du mir ein Märchen auftischst. Du hast vielleicht deine Gründe anderen nicht zu vertrauen. Aber dass du mir nicht mal eine Chance geben willst, zeigt mir doch, dass du mich nicht leiden kannst. Warum sich also noch Mühe geben? Ich zwinge dich nicht weiter mit uns Zeit zu verbringen. Du kannst gehen."
Er wandte sich ab und warf den Ball mit Karacho gegen die Hauswand. Er prallte zurück, obwohl Shirley eher damit gerechnet hätte, dass er zerplatze. Dann verschwand Leon nach drinnen.
~
Normalerweise wäre sie froh gewesen wieder alleine zu sein. Sie hatte sich in Gesellschaft immer schlecht gefühlt. Nur mit den Rox war es anders gewesen. Sie hatten sie einfach so aufgenommen, ohne sie schief anzusehen oder sie zu etwas zu zwingen. Sie waren ganz normal und das komplette Gegenteil von dem, was Shirley erwartet hatte. Sie hatte sich...wohl gefühlt. Es war anders und neu gewesen, aber sie hatte sich keine Sekunde unbehaglich gefühlt. Diese Tatsache stellte sie erst fest, als sie zu Hause auf ihrem Bett lag und an die Decke starrte.
Auch Leon hatte sie ja so missverstanden. Er war so nett zu ihr gewesen. Er mochte sie. Mehr als das. Erst als Will ihr Sonntag eine SMS schrieb, wegen dem bevorstehenden Date, wurde Shirley klar, wie sehr sie Leon doch mochte. Er hatte sie beeindruckt und ihr eine verständnisvolle und verantwortungsbewusste Seite gezeigt.
Alles, was sie zuvor nicht an ihm leiden konnte, vermisste sie jetzt. Seine leicht arrogante Art, seine goldbraunen Augen und seine Art Basketball zu spielen oder zu tanzen. Aber am meisten vermisste sie seine Nähe. Er war der erste Mensch, der es geschafft hatte ihr näher als drei Schritte zu kommen. Der sie an der Hand genommen und mit ihr getanzt hatte.
Deshalb sagte sie Will auch ab. Es schien ihr unrecht mit ihm auszugehen und dabei an Leon zu denken. Auch wenn sie eigentlich immer zu ihrem Wort stand. Es war besser, als Will etwas vorzumachen. Er war natürlich enttäuscht. Das konnte sie gut verstehen.
Den nächsten Tag würde Shirley nur schwer überstehen. Im College begegnete sie wie üblich zuerst Joanna und den anderen beiden. Sie quatschten vergnügt über das langweilige Wochenende. Dabei konnte Shirley nur an den Klos in ihrem Hals denken. Wie sollte sie Will oder den Rox begegnen?
Es war leichter als gedacht, denn sowohl die Rox, als auch Will gingen ihr aus dem Weg. Nur Bio war anstrengend, weil ja Leon da neben ihr saß. Nur diesen Montag nicht. Er hatte doch tatsächlich mit Alex getauscht. Welch unreifes Verhalten. Dabei hatte er das gar nicht nötig.
Nach dem College ging Shirley wie gewohnt ins Restaurant, arbeitete dort ihre Stunden ab und ging dann nach Hause. Dort fand sie ihren zerknirschten Vater am Esstisch in der Küche sitzen. Er hatte sich sogar ein Bier aufgemacht. Das machte er bloß an einem besonders stressigen Arbeitstag.
„Hey Dad, was ist los?"
Shirley zog die Schuhe aus und stellte ihre Tasche vor die Treppe. Dann holte sie sich ein Glas Saft aus dem Kühlschrank und setzte sich zu ihm.
„Ach diese verdammten Gangstreitereien rauben mir noch den letzten Nerv."
Shirley wurde hellhörig.
„Gab es Schwierigkeiten?"
„Ach nur das Übliche. Die Rats haben sich heute Nachmittag mal wieder mit den Rox angelegt. Für Wochen hat man nichts gehört und ich dachte schon, es sei jemand gestorben oder so. Aber heute haben die Rats sich wieder in die East-Side gewagt und mächtig Dampf abgelassen. Als ob die Rox dabei still bleiben würden."
„Was ist passiert?"
„Na dieser Charlie, er ist der Anführer der Rats, er hat sich mächtig mit Leon angelegt. Leider wieder in meiner Schicht. Ich musste die beiden auseinander bringen, sonst hätten sie sich sonst was angetan. Zum Glück waren keine Waffen im Spiel."
Shirley blieb das Herz stehen. Nicht doch. Was erzählte Jack ihr da? Wie konnte sowas nur passieren? Sie musste sofort zum Schrottplatz. Ein Blick auf die Küchenuhr verriet ihr, dass es halb neun war. Eigentlich keine Uhrzeit, um noch das Haus zu verlassen. Aber Shirley machte sich Sorgen - große Sorgen.
Als sie vom Tisch aufsprang, guckte ihr Vater recht irritiert.
„Was soll das denn?"
„Ähm ich muss noch einmal raus. Habe was im Laden vergessen."
„Kannst du das nicht morgen holen?"
„Nein. Das ist wichtig. Ich bin bald wieder da."
Sie schnappte sich noch eine dünne Strickjacke und stürmte aus dem Haus. Mit ihrem Vater würde sie sich später auseinander setzen. Beim Schrottplatz angekommen, atmete Shirley tief durch und musste zu ihrem Bedauern feststellen, dass das Tor verschlossen war. Sie hörte auch keinen Mucks. Sie reckte den Hals. Es war unmöglich über den Holzzaun zu sehen.
Verzweifelt zückte Shirley ihr Handy. Sie wusste genau, wen sie anrufen würde. Sie hätte ihn auch von zu Hause aus anrufen können, nur reichte ihr das allein nicht. Sie musste ihn sehen, musste wissen, dass es ihm gut ging.
Es klingelte. Einmal. Zweimal. Nach fünf Mal klingeln hörte sie seine Stimme. „Rassey?"
„Hey, Leon."
Es blieb still in der anderen Leitung. Shirley bekam schon Bauchschmerzen.
„Shirley? Wieso rufst du an?"
„Ähm...naja...ich stehe vor dem Schrottplatz."
„Du bist wo?", fragte er ungläubig. „Warte ich komme zu dir."
Dann legte er auf. Wenige Sekunden später öffnete Leon das Tor und lies Shirley rein. Hinter ihr verschloss er das Tor wieder. Vermutlich, um unerwünschte Gäste draußen zu halten.
Zu ihrer Erleichterung sah er nicht verletzt aus. Zwar wusste sie nicht genau, was passiert war, aber er hatte nicht einmal ein blaues Auge. Er guckte nur schlecht gelaunt. Wer konnte es ihm verübeln?
„Was machst du hier? Ich hab doch gesagt du musst nicht mehr herkommen."
„Ich weiß. Ich habe nur von meinem Vater gehört, was heute passiert ist."
„Aha."
Leon steckte sich eine Zigarette an. „Und warum kommst du dann her?" Er nahm einen Zug und sah sie dann wieder an. Nur war die Wärme aus seinem Blick verschwunden. Sie hatte ihn sehr verletzt. Dabei hatte sie das nie gewollt.
„Jetzt sag mir nicht du hast dir Sorgen gemacht."
Shirley's Blick war Antwort genug für ihn.
„Du kannst mich nichtmal leiden, Shirley, also erzähl mir nichts. Warum bist du wirklich hier?"
„Das ich dich nicht leiden kann, waren deine Worte. Das habe ich nie gesagt."
„Du hast es auch nicht abgestritten."
„Ja wie denn? Du bist doch einfach gegangen", entgegnete sie vorwurfsvoll.
„Na dann hab doch die Güte und klär' mich auf", konterte Leon mürrisch. Dann zog er wieder an seiner Zigarette.
„Du hast mich schockiert, überrumpelt, völlig aus der Bahn geworfen. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, dass du dich für mich in dieser Art interessieren könntest, wo es doch Millionen schönerer Mädchen in der Stadt gibt. Mädchen, die alles dafür geben würden die Worte von dir zu hören, die du mir gesagt hast."
„Mich interessieren nicht diese Aasgeier, die sich mir an den Hals werfen."
„Ja und genau das habe ich nicht verstanden."
„Sag mal Shirley bist du blind? Schau in den Spiegel, dann weißt du wie hübsch du bist."
„Ich gehe seit Monaten jeglichen Spiegeln aus dem Weg."
„Warum? Das hast du doch nicht nötig. Aber wenn du selbst so an dir zweifelst, habe ich keine Chance es dir auszureden."
„Du hast eben keine Ahnung. Ich bin kein Schwan, Leon. Ich habe mich immer als das hässliche Entlein gesehen."
Er lachte ironisch.
„Siehst du es hat keinen Sinn."
„Jetzt hör' mir doch bitte zu. Ich versuche dir gerade etwas zu sagen."
Die Verzweiflung in ihrer Stimme brachte Leon dazu sich zu beruhigen und die Klappe zu halten. Dann nahm Shirley all ihren Mut zusammen. Sie musste ihm die Wahrheit sagen. Dann würde er vielleicht verstehen. Auch wenn sie ihn damit verlieren würde. Es musste einfach sein. Sie wagte nicht ihn anzusehen, während sie es ihm erzählte.
„Vor vier Monaten, noch bevor meine Mutter starb, war ich Teil einer Gang in Alaska. Sie waren gute Freunde von mir. Auch mein Exfreund Rico war Mitglied. Wir hatten immer viel Spaß zusammen und ich habe niemandem mehr vertraut, als ihnen."
Sie schluckte bei der Erinnerung.
„Bis jemand neues kam. Sein Name war Justin. Er war ein Prolet und Schlägertyp. Zuerst haben wir das nicht bemerkt. Aber er hat jeden von ihnen geschickt auf seine Seite gezogen. Wer nicht freiwillig mitspielte, wurde bedroht."
Sie schaute bewusst zu Boden und versuchte nicht Leons Emotionen zu erraten als sie weiter sprach. Es war sehr unangenehm darüber zu reden.
„So wurde er schnell der Anführer. Doch die Gang veränderte sich. Immer mehr Typen von seiner Sorte kamen dazu. Mit ihnen kam der Alkohol und die Drogen. Ich habe da nie mitgespielt. Aber ich bin wegen Rico geblieben. Ich war so vernarrt in den Kerl. Er hatte es gar nicht verdient."
Sie blickte flüchtig auf und rechnete mit irgend einer Regung in Leons Gesicht. Doch er hörte ihr gespannt zu und rauchte an seiner Zigarette.
„Justin konnte mich nicht leiden, weil ich nie nach seinen Regeln spielte. Das beruhte auf Gegenseitigkeit und er nutzte einfach jede Gelegenheit, um mich fertig zu machen. Ich habe Rico so oft gebeten mit mir die Gang zu verlassen. Doch Rico hat Justin vergöttert. Mehr aus Angst vielleicht, ich bin mir nicht sicher. Aber er hat sich stets auf seine Seite gestellt. Eines Tages, als Justin high und vollkommen betrunken war, platzte ihm der Kragen und er ging auf mich los. Er zerschlug eine Glasflasche und zog den übrigen, scharfkantigen Rest direkt über meinen Rücken."
Bei dieser Erinnerung wurde ihr wieder ganz anders. Sie fasste sich beschützend an die Arme und versuchte ihr Zittern zu verbergen.
„Der Kerl war wahnsinnig. Ich hatte so furchtbare Angst vor ihm. Ich hatte gehofft, dass Rico einschreiten würde, aber er hat einfach nur daneben gestandenen und zugeschaut. Wenigstens hat noch jemand den Krankenwagen gerufen. Aber die besten Ärzte konnten mich nicht behandeln, ohne, dass eine Narbe zurück bleibt."
Leons Gesicht wurde blass. Er bemerkte gar nicht, dass ihm die Zigarette aus den Fingern fiel und noch qualmend auf den Boden fiel.
„Für eine Schönheitsoperation fehlte meiner Familie immer das Geld und so musste ich damit leben. Rico hat sich jedenfalls einen Scheiß für mich interessiert. Er wollte mich nicht mehr anfassen. Schon da hätte es mich wundern sollen, warum er nicht Schluss gemacht hat. Ich hätte es tun sollen. Aber ich habe ihm alles verziehen, weil ich ihn geliebt habe."
Sie klang wehmütig und verletzt. Doch auf einmal änderte sich der klägliche Ausdruck ihrer Augen in Zorn und ihr Gesicht verdunkelte sich. „Bis er mich mit einer von Justins Bekannten betrogen hat. Mich wollte er nicht mehr anfassen, weil er sich vor mir geekelt hat. Doch für's Schluss machen, war er zu feige."
Nach der Geschichte machte Shirley lange Pause. Sie starrte nur auf den Boden. Wartete auf eine Reaktion von Leon. Aber dieser schien sprachlos zu sein. Als Shirley einen Blick auf ihn wagte erkannte sie wie starr und ruhig er geworden war.
Sein Schweigen machte Shirley nervös. Wieso sagte er denn nichts? Egal wie er sich entschied, er sollte nur einfach irgendwas von sich geben.
Nach einer Ewigkeit rührte sich Leon wieder. Er räusperte sich und trat den Zigarettenstummel aus.
„Das erklärt so einiges. Nach so einer Erfahrung kann ich es verstehen, dass du misstrauisch bist und niemanden an dich heran lässt."
Shirley biss sich auf die Zunge.
„Das erklärt auch deine komischen Klamotten."
Er sah zur Seite auf den Rest vom Schrottplatz. Seinen Blick vermochte Shirley nicht zu deuten.
„Ich habe nie gesagt, dass ich dich nicht mag, Leon. Ich habe nur einfach wahnsinnige Angst enttäuscht zu werden. Weißt du alle, die es wussten, oder gesehen haben, haben sich angewidert abgewendet. Selbst wenn sie versucht haben es nicht zu zeigen, es war ihnen an den Augen abzulesen. Und wenn sie nicht angeekelt waren, dann sind sie vor Mitleid fast zerflossen. Ich will einfach normal sein, verstehst du? Einmal in meinem Leben, will ich normal behandelt werden. Ich brauche kein Mitleid."
„Nein. Du brauchst jemanden, der dich versteht."
Überrascht sah Shirley zum Haus. Aus der Tür war gerade Tina getreten und kam auf sie zu. Ihre schönen dunklen Augen waren verständnisvoll und reumütig.
„Hör mal Shirley, was ich Samstag zu dir gesagt habe, das tut mir leid. Ich hatte ja keine Ahnung. Ich wollte bloß meinen Bruder beschützen."
Die andren Rox hatten ebenfalls alles mit angehört und kamen dazu.
„Ich bitte dich um Verzeihung. Jetzt weiß ich, warum du meinen Bruder abgewiesen hast. Aber ich versichere dir, dass niemand mehr als Leon dafür Verständnis hat."
„Ach ja?", fragte Shirley nach.
„Mein Vater war auch ein Schläger. Wenn er betrunken war, hat er mich immer geschlagen. Leon ist damals immer dazwischen gegangen und hat die Schläge für mich kassiert. Solange, bis wir irgendwann abgehauen sind. Alles war besser, als bei ihm zu bleiben."
Tina kam zu Shirley und lächelte beruhigend.
„Weißt du, wenn du normal behandelt werden möchtest, dann fangen wir gleich damit an. Jeder von uns hat seine Geschichte und seinen individuellen Grund hier zu sein. Und du hast das Glück gleich zwei zu haben."
„Ich verstehe nicht."
„Der erste ist...", begann Vince und trat vor „du bist wie wir. Du bist mutig, lässt dich nicht unterkriegen und du passt zu uns. Das habe ich gleich am ersten Tag geahnt. Du passt weder zu den Nerds, noch zu den Tussis, du bist nicht so oberflächlich wie Joanna und du bist keine von den lästigen Zicken, die uns von morgens bis abends nachlaufen."
„Und der zweite Grund, steht da."
Tina deutete auf ihren Bruder und grinste dabei. Noch bevor Shirley etwas darauf sagen konnte, hatte Tina ihre Jeansweste mit dem Logo der Rox darauf abgenommen und legte sie Shirley um die Schulter.
„Ich möchte, dass du die von jetzt an trägst. Bitte bleib bei uns."
Das ausgerechnet Tina sie darum bitten würde, hätte Shirley nicht gedacht. Umso mehr freute es sie. Mit einem strahlenden Lächeln fiel sie Tina um den Hals.
In dem Moment vergaß sie jegliche Berührungsängste. Sie freute sich einfach so sehr, dass sie hätte fliegen können. Bis auf einmal ihr Telefon sie auf den Boden zurück holte. Es war ihr Vater, der sich schon fragte, wo sie abblieb. Den hatte sie völlig vergessen. Sie versicherte ihm bald zurück zu sein.
„Sorry, ich muss los. Sonst schickt er noch eine Fahndung nach mir raus."
„Aber du tätest gut daran, es ihm schonend beizubringen", sagte Alex und deutete auf die Weste.
„Ja richtig. Aber ich hole sie mir morgen ab."
„Solange wird Leon sie für dich verwahren."
Tina reichte die Weste ihrem Bruder. „Das machst du doch, nicht wahr?" sie zwinkerte ihm zu.
„Ist das auch wirklich euer Ernst? Ich meine..."
„Shirley, Hör auf zu reden. Geh nach Hause."
Das kam von fast allen gleichzeitig. Selbst Toni und Max freuten sich über ihr neuestes Gangmitglied.
Shirley konnte es noch nicht fassen. Sie war nun eine von den Rox, einfach so. Zwar hatte sie keine Gelegenheit gehabt mit Leon weiter zu reden, aber das würde sich vielleicht auch noch ergeben. Er hatte erstmal Zeit ihre Geschichte zu verdauen.
Dann könnte er sich überlegen, ob es ihm etwas ausmachte, oder nicht. Er würde ihr jedenfalls noch öfters begegnen, da sie jetzt zu seiner Gang gehörte. Auf dem Nachhauseweg kamen ihr dennoch Zweifel. Er hatte nichts mehr gesagt. Die Rox hatten einfach so entschieden sie zu einem Teil ihrer Gang zu machen. Was, wenn Leon das gar nicht wollte?
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