Kapitel 10
Der Freitag kam schneller als erwartet und Shirley wusste einfach nicht, was sie anziehen sollte. Das sie nicht in einer Jeans im Club auftauchen konnte, war selbst ihr klar. Also musste ein Kleid her, oder ein Rock.
Sie hatte den Donnerstag Abend in ihrem Kleiderschrank gewühlt auf der Suche nach etwas schickem. Erfolglos. Sie hatte ihre Kleidersammlung um die Hälfte reduziert, nach dem was mit Rico und Justin geschehen war. Niemand sollte ihre Narbe sehen. Sie hatte sich immer mehr zurück gezogen und sich immer öfters in freizügigen Sachen unwohl gefühlt. Aber nun wollte sie das ändern. Leichter gesagt, als getan.
Sie beschloss die Rox auf den Club anzusprechen. Womöglich machte sie sich unnötigen Stress deswegen. In der Freistunde saß die Gang wie so oft unter der Rotbuche. Shirley zupfte ihr Shirt zurecht und schulterte ihre Tasche. Einen Augenblick später stand sie vor ihnen.
„Na sie an, wer uns da besuchen kommt", sagte Sam und lächelte. „Hey Shirley, du lebst ja noch." Nachdem sie Ian verdutzt anschaute fügte er hinzu: „Niemand schlägt Leon ins Gesicht und lebt dann noch sehr lange."
Oha, das klang nach Ärger.
„Ian! Lass den Quatsch", rief Sarah ihn zurück.
Daraufhin lachte er.
„Ach stimmt ja, Shirley hat Sonderrechte."
Nun lachten alle. Selbst Sarah musste sich echt zusammenreißen, um nicht laut zu lachen.
Wieso sollte sie Sonderrechte haben?
„Naja, meiner Meinung nach hatte er es verdient", gab Shirley trocken zurück.
„Niemand zwingt mir einen Kuss auf und lebt dann noch sehr lange."
Damit waren die Rox erstmal sprachlos. Dann grinsten sie breit, bis Leon sich räusperte und sie sich schnell zusammen rissen.
„Was gibt's?", fragte er, um von dem unangenehmen Thema abzulenken.
„Ach ich wollte nur mal fragen, was das Nirvana für ein Club ist. Ich meine, was muss ich tun, um da überhaupt rein zu kommen?"
„Wir hörten schon, dass du mitkommst. Finde ich cool. Das Nirvana ist ein ganz normaler Club. Nur solltest du etwas anderes anziehen, als du sonst immer trägst", erklärte Sarah freundlich.
„Aber mach dir keine Sorgen darüber eingelassen zu werden. Wenn du mit uns unterwegs bist, kommst du überall rein."
„Okay."
Damit waren Shirley's Sorgen kleiner geworden. Aber nervös war sie deswegen immer noch. Außerdem machte sie sich Gedanken darüber, was ihr Vater davon hielt. Sie hasste es, ihm etwas vor zu machen. Wenn sie ihm allerdings die Wahrheit sagen würde, würde Jack sie bestimmt nicht gehen lassen. Als sie abends mit ihm zu Abend aß, erzählte sie ihm von ihren Plänen für den kommenden Abend. Sie sagte ihm zwar, dass sie mit Freunden aus dem College ausging, erwähnte aber nicht die Rox dabei. Das war besser so.
„Also hast du Anschluss gefunden. Das freut mich für dich. Aber komm nicht so spät nach Hause. Samstags sind immer Idioten unterwegs." Nachdem Shirley das mit ihrem Vater geklärt hatte, konnte sie beruhigt aber voller Erwartung schlafen gehen.
Gegen acht Uhr am nächsten Abend machte sie sich dann auf den Weg. Sie hatte mit den Rox vereinbart sich bei ihnen zu treffen. Leon hatte ihr einen Zettel mit einer Adresse darauf überreicht und sie gebeten um halb neun dort zu sein.
Es war nicht kalt. Trotzdem hatte sich Shirley einen dünnen Mantel über ihr Outfit gezogen. Es war ihr ungewohnt und unangenehm wieder in einem kurzen Rock und einem ärmellosen Top herum zu laufen. Zwar hatte das Oberteil keinen tiefen Ausschnitt und bedeckte ihren Rücken komplett, war aber über ihrem Bauch mit einem durchsichtigen feingearbeiteten Netz versehen. Dazu hatte sie schwarze Halbstiefel mit leichtem Absatz an. Ihre Haare waren an einer Seite eng am Kopf zurück geflochten. Der Rest fiel ihr in Wellen über den Rücken. Außerdem hatte sie sich geschminkt.
Es war eine Ewigkeit her, seit sie das letzte Mal Make-up für so einen Anlass aufgetragen hatte. Sie fand sich damit sogar recht hübsch. Leider erweckte das zu viel Aufmerksamkeit um sie herum, was so gar nicht ihre Art war. Selbst im Bus wurde sie von einigen Kerlen angestarrt, und das trotz des schützenden Mantels.
Deshalb war sie froh, als sie endlich aussteigen konnte. Sie sah sich um. Eine heruntergekommene Gegend mit vielen Reihenhäusern. Hier war kein einziger Baum zu sehen. Sie ging weiter und kam nach ein paar Minuten zu einem hohen Holzzaun. Shirley war sich sicher an der richtigen Adresse zu stehen.
Sie ging weiter am Zaun entlang, der immer mehr mit Graffiti besprüht war. Es waren Bilder und Schriftzüge - richtige Kunstwerke. Auch der Name Rox war mehr als einmal in Großbuchstaben zu sehen. Auf einmal stand sie vor einem geöffneten Holztor und warf einen Blick dahinter.
Überrascht erblickte sie einen riesigen Schrottplatz, auf dem sich Autos und allerhand komisches Zeug angesammelt hatten. Der vordere Teil war aufgeräumt und mit warmen Licht erhellt. Sie sah die Autotürme zusammengebaut und gestapelt. Zwischen ihnen war eine Art Unterschlupf erichtet. Davor waren Reste eines Lagerfeuers zu sehen und mehrere alte Sofas als Sitzgelegenheit aufgestellt.
Daneben erkannte Shirley die Fahrzeuge der Rox. Die Bikes, den Van und den Mustang. Zu ihrer Linken befand sich ein marodes hohes Haus, das anscheinend leer stand. Sie suchte nach einem Eingang. Doch alles was sie sah, war ein großes Rolltor und eine mit einem Zahlencode gesicherte Eisentür.
Anscheinend war dies eine Garage.
Außer ihr war niemand zu sehen. So zückte Shirley kurzer Hand ihr Handy. Nur wen sollte sie anrufen? Etwa Leon? Irgendwie war es ihr unangenehm. Da fiel ihr ein, dass sie auch Alex' Nummer hatte. Kurzum wählte sie die Nummer und wartete auf das Freizeichen. Alex meldete sich schon nach drei Klingeltönen mit einem knappen „Hallo?"
„Hey Alex."
Es war einen Moment verdächtig still. „Shirley?"
„Ja, ähm...ich glaube ich habe die Adresse gefunden. Stehe sozusagen vor eurer Tür. Nur sehe ich niemanden."
Er lachte.
„Was fällt dir eigentlich ein ihr meine Nummer zu geben, Leon?", hörte Shirley Alex leise fluchen. Dann sprach er wieder mit ihr. „Warte ich mache dir auf."
Das Gespräch brach ab und wenig später öffnete sich die Eisentür neben ihr. Alex streckte grinsend den Kopf heraus und bat sie herein. Drinnen befand sich tatsächlich die Garage des Hauses. Sie war groß und geräumig. Die Rox hatten sie eher wie ein Wohnzimmer gestaltet.
Es ging vom Tor eine Rampe bergab bis zu den eigentlichen Parkplätzen. Dort standen ebenfalls Sofas, Sessel und ein großer Esstisch. Dahinter standen drei Bücherregale in Deckenhöhe. Links ging es zu einer kleinen Küche, die vorher mit Sicherheit nicht dahin gehört hatte. Rechts ging eine Treppe hinauf und endete mit einer verschlossenen Tür.
Es war durch viele Accessoires und und Deko gemütlich eingerichtet, was Shirley nun überhaupt nicht erwartet hatte. Das meiste bestand tatsächlich aus Schrott, war aber so genial zusammen gewürfelt, dass es wieder witzig war. Sie staunte nicht schlecht. „Wow."
„Es gefällt dir?", stellte Alex grinsend fest.
„Also nur damit du es weißt..."
Er führte sie zu Ian und Vince, die sich auf einem der Sofas nieder gelassen hatten.
„Normal zeigen wir Außenstehenden das hier nicht, aber du bist eine Ausnahme."
„Wie in so vielen Dingen", kam es von Vince. Er hatte sich eine schicke Weste über sein Shirt gezogen und trug keine zerrissene Hose. Auch Ian und Alex sahen etwa adretter aus, als sonst. Das beruhigte Shirley. Dann hatte sie mit ihrem Outfit doch nicht so viel verkehrt gemacht.
„Wie meinst du das?", fragte sie Vince vorsichtig.
„Na wir machen so einige Ausnahmen in letzter Zeit. Was nicht schlimm ist. Es ist nur eine Feststellung."
„Und das nur, weil du Leon beeindruckt hast", fügte Ian hinzu.
Sie hatte was?
„Sag mal ist dir nicht warm?", fragte Alex einen Hauch zu schnell. Wollte er das Thema wechseln? In dem Moment stellte sie fest, dass ihr tatsächlich zu warm war. Der Mantel war für diese Temperaturen echt zu viel. Zögernd öffnete sie die Knöpfe und legte ihn ab. Sogleich fühlte sie sich ungeschützt und angestarrt. Dabei waren es nicht die gewohnten Blicke, die sie sonst bekam.
„Wow, Shirley. Das ist echt ein cooles Oberteil."
Sarah kam von irgendwoher auf sie zu geeilt und bewunderte sie. Dabei war sie selbst total süß mit ihrem dunkelgrünen Kleid und den hochgesteckten Haaren. Sie war klein und zierlich. Passte damit aber optisch super zu Sam, der sofort seinen Arm um ihre Taille legte und sie bewundernd musterte.
Wo war er denn plötzlich her gekommen? Auch Susan erschien kurz darauf in einem bauchfreien hellen Top und einem Rock, der auch gut als Gürtel durchging. Sie hatte eine Wahnsinns Figur. Ihre weiblichen Rundungen kamen hervorragend in den Klamotten zur Geltung. Sie war groß, und sexy. Ihre blonden Haare, waren aufgedreht und fielen ihr über die Schultern.
Auch Tina war wie immer attraktiv und auffallend gekleidet. Neben so viel Schönheit kam sich Shirley immer noch wie eine graue Maus vor. Solange bis Alex den Kopf hob und grinste.
„Wolltest du da oben Wurzeln schlagen, oder können wir mal los?"
Shirley drehte sich um. Leon stand am oberen Absatz der Treppe. Zu ihrer Überraschung starrte er sie verklärt an. Sonst war ihr das immer unangenehm. Komischer Weise diesmal nicht. Wenn sie sich eben noch unattraktiv und langweilig gefühlt hatte, war das sofort vergessen, nachdem sie Leon's Gesicht gesehen hatte. Doch bevor sie bis drei zählen konnte, hatte er sich schon wieder gefangen und kam die Stufen hinunter.
Er hatte eine relativ enge, schwarze Hose an und ein Shirt, das drei breite Risse hatte. Somit konnte man, je nach Bewegung seinen Oberkörper sehen. Echt gemein für sämtliche weibliche Wesen, schoss es Shirley durch den Kopf. Sein bronzefarbenes Haar war wild frisiert und verlieh ihm wieder dieses verwegene Erscheinungsbild, was sie bei ihrer ersten Begegnung mit ihm schon gesehen hatte.
Seine Arme waren wie immer mit seinen Lederarmbändern verziert. Er sah schon unverschämt gut aus. Ganz sicher würden ihm im Club sämtliche Mädchen zu Füßen liegen. Wenn Shirley nicht acht gab, dann würde sie bald dazu gehören. Schnell schüttelte sie den Kopf, verbannte damit diese lächerliche Vorstellung.
„Ist dir etwa kalt?", hörte sie Ian besorgt fragen.
„Äh was? Nein."
„Na wie findest du unser Heim?"
Shirley musste die Information kurz verarbeiten bevor sie fragte: „Ihr lebt hier richtig?"
Leon nickte und deutete zur Tür oberhalb der Treppe.
„Genauer gesagt, da oben. Es ist eine geräumige Wohnung mit zwei Schlafzimmern. Die einzige in diesem Schrotthaufen, die noch bewohnbar ist. Die anderen sind feucht und schimmelig. Die Wohnung teile ich mir mit Tina und Alex. Die anderen nutzen den Rest."
„Nur Vince und Susan haben schon eine eigene kleine Wohnung und die Kids schlafen bei schönem Wetter immer draußen in ihrer Höhle oder manchmal auch bei ihren Eltern", erklärte Ian. Shirley erinnerte sich an die aufgetürmten Autos und den Hohlraum darunter.
„Und wo schläfst du?", fragte sie Ian neugierig.
„Er schläft so gut wie nie hier", erklärte Vince.
„Meistens wacht er bei irgendeiner Schönheit morgens auf und wir bekommen ihn erst im College zu Gesicht."
Sarah fummelte an ihrem Kleid herum.
„Sam und ich schlafen dahinter."
Sie deutete nebenbei auf einen großen Vorhang an der Wand. Shirley vermutete einen weiteren Raum dahinter.
„Ihr lebt also wirklich auf einem Schrottplatz?!"
„Du hast es nicht geglaubt nicht wahr?", kam es von Leon.
Shirley schüttelte verlegen den Kopf. „Nein, wirklich nicht."
„Das war mein absoluter Ernst."
„Aber du solltest uns deshalb nicht bemitleiden. Alles nur das nicht", sagte Tina scharf.
„Aber warum gerade hier?"
„Jeder von uns hat einen bestimmten Grund hier zu sein", gab Leon monoton zur Antwort.
„Jeder hat seine Geschichte, genau wie du."
Sie stutzte. Was sollte das heißen? Was wusste Leon über sie? Doch nach seinem nächsten Satz entspannte sie sich wieder.
„Es ist offensichtlich. Irgendwann kannst du uns ja deine Geschichte erzählen. Für den Moment aber...", er lächelte sanft, „lass uns Spaß haben."
~
Es war etwas völlig Neues einen fremden Menschen auf den Schrottplatz zu lassen. Es war schließlich nicht irgendein Ort. Der Schrottplatz war alles, was die Rox hatten. Deshalb war Tina auch nicht begeistert von der Idee Shirley so viel zu erzählen. Zwar glaubte Tina nicht allzu viel vor ihr zu befürchten zu haben, aber entspannen konnte sie sich nicht in Shirleys Nähe.
Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Sie gab ihrem Bruder erst einen Korb und willigte dann ein mit in den Club zu kommen. Das heißt einen richtigen Korb hatte er nicht bekommen. Aber es war nur sehr deutlich zu sehen, dass sie nichts für ihn übrig hatte. Leon konnte einem leid tun. Ihr Bruder hatte sich nach langer Zeit endlich wieder verliebt. Tina hatte schon befürchtet er würde niemals über Riki hinweg kommen.
Doch ausgerechnet Shirley anzuhimmeln, die für sämtliche seiner Reize, genauso wie für seinen Charme immun war, schien Tina nicht richtig.
Stattdessen schmiss sie sich diesem Langweiler Will an den Hals. Was versprach sich Leon nur davon?
Die gesamte Fahrt über konnte er nicht die Augen von Shirley lassen und sie merkte es nicht einmal. Oder sie ignorierte es gekonnt. Was nicht gerade besser war. Was auch immer nicht mit dem Mädchen stimmte, sie würde nicht zulassen, dass sie ihren Bruder nur ausnutzte. Tina beschloss Shirley im Auge zu behalten.
~
Das Nirvana war wie immer gut besucht. Vor dem Eingang hatte sich eine Schlange bis nach South Carolina gebildet. Aber die Rox mussten sich nicht großartig anstrengen, um hinein zu kommen. Es war schon fast zu leicht. Leon hätte es witzig gefunden, wenn er durchs Fenster hätte klettern müssen. Oder irgendetwas anderes, Hauptsache nicht langweilig. Aber der Ruf der Gang hatte auch etwas positives. Der Wachhund beäugte Shirley kritisch und Leon grinste ihn breit an. „Sie gehört zu uns."
„Na wenn das so ist", murrte der Klotz und ließ sie ein. Drinnen war es sehr warm und unheimlich laut. Die Musik war der Hammer und Leon kribbelte es schon jetzt in den Beinen. Er wollte tanzen. Doch zuerst musste er Michael begrüßen. Ihm gehörte der Schuppen. Da er ständig hinter der Theke arbeitete, hielten ihn jedoch alle nur für einen Angestellten.
Die Rox wussten es besser, weil sie ihm mal mit einem kleinen Rattenproblem geholfen hatten. Jedenfalls durften die Rox seither in den VIP Bereich in ihre eigene Loge. Michael schien alle Hände voll zu tun zu haben, deshalb hob Leon nur kurz seinen Arm zum Gruß und führte die Rox direkt zum VIP Bereich. Michael würde sich bestimmt später noch ein paar Minuten frei schaufeln.
Wie üblich wurden sie von einigen Bekannten gegrüßt und von den Mädchen bewundert. Normalerweise flirtete Leon auch prompt zurück und genoss die Schwärmereien. Es war verrückt, aber er interessierte sich nicht mehr für sie. Er hatte nur Augen für Shirley.
Sobald sie diesen komischen Mantel erneut abgelegt hatte, durfte er wieder ihre tolle Figur bewundern. Er glaubte nur, dass ihr in dem Oberteil schnell warm werden würde. Warum zog sie sich immer so warme Sachen an? Aber es passte zu ihr und machte ihren Typ aus.
Sie saßen kaum in der gemütlichen Ecke in der Loge, da kam auch schon Katie an, um ihre Bestellungen aufzunehmen. Sie war total in Leon verschossen – so wie die Hälfte der Anwesenden Mädchen im Nirvana – und flirtete gleich drauf los.
„Hey Leon, dich habe ich ja lange nicht gesehen. Schön, dass du wieder da bist."
Sie setzte sich ungefragt neben ihn und legte ihm den Arm um die Schulter.
„Hallo Katie", grüßte Ian. „Bist du wegen unserer Getränke hier, oder wegen Leon?", fragte er direkt und grinste Leon vielsagend an.
Schön dass er sich dabei so amüsierte, dachte Leon sich und verdrehte die Augen. Er versuchte von Katie los zu kommen, aber die zog ihn an der Schulter einfach wieder zu sich hin. Ihr platzte die Oberweite fast aus dem tiefen Ausschnitt und ihr schweres Parfüm löste bei Leon ein unangenehmes Niesen aus. Die Frau sollte sich verziehen.
~
Es war laut, voll und fremd. Warum war Shirley nochmal mitgegangen? Ach ja, sie wollte – oder sollte – die Rox kennen lernen. Dabei fühlte sie sich schon nach fünf Minuten fehl am Platz. Erst recht als die flotte Brünette aufgetaucht war und mit Leon flirtete. Ganz ehrlich, konnte sie sich das nicht für später aufheben? Er hatte kaum eine Minute gesessen und schon warf sie sich ihm an den Hals.
Der Arme konnte einem leid tun. Sie war echt zu viel. Aber Shirley beneidete sie um ihre Oberweite. Ob sie nun echt war oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Außerdem hatte sie keine Probleme damit sich anfassen zu lassen und ihren perfekten Körper zu zeigen.
„Hey, Shirley", rief Leon quer über den Tisch. „Trinkst du auch was?"
Er hatte nicht vergessen, dass sie keinen Alkohol trank. Das freute sie.
„Ich nehme eine Cola."
Die brünette Kellnerin guckte Shirley kritisch an.
„Das ist keine Kellerkneipe hier, Schätzchen."
„Katie, sie kann doch ordern was sie will. Solange die Rechnung bezahlt wird und das übernehme ich für heute", erklärte Leon in einem unmissverständlichem Ton. Daraufhin rümpfte die Kellnerin die Nase und verschwand.
„Sie kapiert es einfach nicht. Wie oft hast du Katie jetzt schon einen Korb gegeben?", fragte Alex und schaute der Kellnerin noch hinterher, als sie zur Bar ging.
„Dreimal bestimmt."
„Oh man", raunte Vince.
„Das nervt. Ich hasse diese ständigen Mädchen, die sich mir an den Hals werfen und beinahe noch in den Schoß."
Shirley musste lachen. Allein die Vorstellung war zum brüllen.
„Du armer Kerl kannst einem ja richtig leid tun, dass du dich vor flirtenden, sexy Mädchen kaum noch retten kannst."
„Du hast ja keine Ahnung. Das nervt wirklich."
„Ja sicher und ich bin der Weihnachtsmann."
„Ehrlich?", rief Sam plötzlich aufgeregt und rückte näher an sie heran.
„Was bekomme ich den dieses Jahr geschenkt?"
Grinsend schob sie ihn zurück.
„Nicht wörtlich gemeint, Sam."
„Oh schade."
Bevor man das Thema weiter ausführen konnte kam Katie schon mit den Getränken zurück. Dabei ließ sie Leon natürlich nicht aus den Augen und beachtete Shirley gar nicht, als sie ihr die Cola vor die Nase stellte. Dann verschwand sie wieder und gleichzeitig wurde die Musik lauter.
„Hey der Dance-Battle beginnt gleich. Wer ist dabei?"
Ian war schon aufgesprungen und kippte sich sein Getränk die Kehle hinunter. Das hatte so gar nichts mit genießen zu tun. Aber er hatte Spaß und hüpfte halb über Alex hinweg, der gerade noch den Kopf zur Seite bekam.
„Was ist denn mit Ian los? Man könnte meinen, er würde das zum ersten Mal machen."
Vince und Sam folgten Ian, ebenso Sarah und Susan.
„Machst du nicht mit Tina?", fragte Leon seine Schwester, aber Tina hatte Sitzfleisch. Sie rührte desinteressiert den Strohalm in ihrem Cocktail herum und fixierte ihren Bruder mit einem durchdringenden Blick.
„Na schön, dann gehe ich eben."
So stand auch Leon auf.
„Shirley?"
„Nein, danke. Ich komme später zum zuschauen."
Tina schien weder ihre noch Leons Reaktion erwartet zu haben. Sie wirkte leicht irritiert.
In dem Moment fiel Shirley auf, dass sie bis jetzt nicht viel mit ihr geredet hatte. Dabei war sie total neugierig auf Tina. Sie war hübsch, und klug, hatte gute Noten und war bei allen beliebt. Dabei bemühte sie sich nicht einmal großartig.
Angestrengt überlegte sich Shirley ein Thema. Zu dumm, dass sie kaum etwas privates über Tina wusste. Sie musste nicht lange überlegen, denn Tina kam ihr zuvor. „Ich werde nicht schlau aus dir."
Überrumpelt stieß Shirley mit der Hand gegen ihre Cola und richtete dabei eine mittelgroße Sauerei an. Mit einem Taschentuch wollte sie die klebrige Pfütze aufsaugen.
„Ich will dir nicht zu nahe treten, aber was willst du eigentlich hier? Und jetzt sag nicht mein Bruder hat dich eingeladen. Warum bist du wirklich hier?"
„Ich kann dir nicht ganz folgen, Tina."
„Mach nicht den Fehler dich dumm zu stellen, Shirley. Du kannst uns nicht leiden und für meinen Bruder hast du genauso wenig übrig. Wenn du vorhast ihm nur zu verarschen, dann schwöre ich dir, werde ich das nicht zulassen. Leon ist echt okay. Ein bisschen arrogant manchmal, aber echt in Ordnung. Davon abgesehen ist er intelligent. Zu intelligent, um sich von einem eingebildeten, mit Vorurteilen belasteten Mauerblümchen kränken zu lassen."
Was zum Henker war denn das bitte? Musste sie sich so einen Mist anhören?
„Weißt du, mein Bruder hat echt viel um die Ohren. Er kümmert sich um alle. Wir haben keine Familie mehr, aber er muss als unser Anführer für alle da sein und immer alles regeln. Dabei haben wir nicht einmal ein richtiges Leben. Er geht nach dem College noch arbeiten, um uns ein Leben und das College finanzieren zu können. Dabei ist noch unklar, ob er einen Job findet, denn jeder hält ihn sowieso für einen Versager. Er kann es nicht gebrauchen sich noch mit einem Mädchen abzugeben, die ihn nicht leiden kann."
Nach dieser Ansprache musste Tina ihren Cocktail in einem Zug leeren. Die Pause nutze Shirley.
„Ich halte Leon nicht für einen Versager."
„Oh schön, dann bist du 'ne Ausnahme", antwortete Tina sarkastisch.
„Hör zu, ich will ganz bestimmt niemanden verarschen. Aber ich brauche das ganze hier auch nicht. Leon wollte, dass ich mitkomme. Das ging nicht von mir aus."
Shirley war aufgestanden.
„Siehst du genau das meinte ich. Welchen Grund hast du hier zu sein? Du wirst uns doch eh wieder verurteilen. Genau wie dein Vater."
„Ich lasse mir von niemanden was erzählen. Ich bilde mir meine eigene Meinung."
„Sieht nicht so aus."
Das war Shirley zu viel. Warum sollte sie weiterhin ihre Zeit verschwenden, wenn sich Tina so verhielt? Sie packte ihren Mantel und verließ die Loge. Vor dem Ausgang war es rappelvoll und Shirley musste sich durch eine Menge wackelnder Leute kämpfen. Ein betrunkener Kerl mit Dreadlocks funkelte sie begeistert an. „Hey Baby, tanz mit mir."
Er machte eine einladende Handbewegung und musterte sie eingehend. Solche Typen konnte Shirley nicht ausstehen. Noch bevor sie ihm einen entsprechenden Spruch drücken konnte, drängte sich jemand vor ihn und versperrte Shirley somit das Sichtfeld.
„Sorry, aber sie hat mir schon den nächsten Tanz versprochen", sagte Leon, nahm ihre Hand und zog Shirley aus der Menge an den Rand.
„Sag mir bitte, dass du dir nur eine rauchen wolltest."
„Ich rauche nicht, schon vergessen?"
„Was ist los?"
„Ich... ähm... ich sollte echt nicht hier sein."
„So ein Quatsch. Wo solltest du denn sein?"
„Leon das funktioniert so nicht."
„Ist das deine Meinung, oder Tinas?" Nach einem fragenden Blick von ihr erklärte Leon: „Ich kenn' doch meine Schwester. Was hat sie zu dir gesagt? Ach ist ja auch egal. Du solltest nicht auf sie hören."
„Leon..."
„Komm mit."
Er zog sie Richtung Tanzfläche, wo Ian und Sam gerade am Dance-Battle teilnahmen. Alex bemerkte sie und Leon.
„Was ist passiert?"
„Tina ist passiert", gab Leon knapp zurück.
„Du weißt ja, wie deine Schwester ist", sagte Alex schulterzuckend. Leon verdrehte die Augen, wurde aber gleich darauf vom Beifall der umherstehenden Leute abgelenkt. Seine beiden Freunde waren echt nicht schlecht, das musste Shirley zugeben.
„Sie sind richtig gut."
„Ganz gut, ja", antwortete Shirley geistesabwesend.
„Klingt ja sehr überzeugt. Als ob du es besser könntest", mischte sich Sam ein.
Unsicher schaute sie ihn an. „Ich kann's besser."
„Woohoo! Dann beweise es, sonst glaube ich dir das nicht."
„Und du sagst, ich sei arrogant", murmelte Leon neben ihr.
„Der Unterschied zwischen uns beiden ist, Leon, dass ich hier von Tatsachen spreche und du nur leeres Blech redest."
Er lachte fassungslos. Doch sie warf ihm frech den Mantel zu und ging auf die Tanzfläche. Auch wenn sie sich geschworen hatte nicht mehr zu tanzen. Sie war keine Lügnerin. Das wollte sie den Rox beweisen.
„Du magst vielleicht im Basketball der Champ sein, Leon Rassey, aber auf einer Tanzfläche macht mir keiner was vor."
~
Da ging Shirley doch tatsächlich auf die Bühne. Leon hatte ja so einiges erwartet, aber nicht dass die sonst so zurückhaltende Shirley plötzlich mitten auf der Tanzfläche stand. Auch die anderen guckten verwirrt. „Das passt gar nicht zu ihr", stellte Alex fest. Selbst die Mädchen waren dazu gekommen, um zu sehen, ob Shirley nur eine große Klappe hatte, oder wirklich so gut war.
Und sie war so gut. Ihr Körper bewegte sich absolut im Einklang zur Musik. Sie war der Hammer.
„Die Kleine hat gute Moves."
„Mach den Mund zu, Leon", hörte man Sam neckend sagen. Doch Leon war damit beschäftigt jede einzelne Bewegung dieses Mädchens festzuhalten, welches nach kurzer Zeit den ganzen Club begeisterte.
Nun war nichts mehr von der zurückhaltenden, schüchternen Shirley zu sehen. Dabei hatte Leon sie nie dafür gehalten. Sie war nur extrem misstrauisch und abweisend. Würde sie ihn bei einem Tanz auch zurück weisen?
~
Es war lange her, dass sie diesen Adrenalinkick verspürt hatte. Aber das war es nicht, was das Tanzen für sie ausmachte. Wenn sie sich zur Musik bewegte, war sie frei. Mit Musik konnte sie all das ausdrücken, was sie mit Worten nicht sagen konnte. Dabei war es egal, wie sie tanzte und zu welcher Musik. Hauptsache sie war frei und konnte ihrer Fantasie freien Lauf lassen.
Nach einer eleganten Drehung um sich selbst blieb sie plötzlich stehen. Leon stand nur wenige Zentimeter von ihr entfernt und lächelte auffordernd. Ganz klar, er wollte mit ihr tanzen. Doch sie stieß ihn tanzend von sich. Er hielt sie am Handgelenk und zog sie zurück. Komischer Weise schien ihr diese Berührung nichts auszumachen. Es war ja nur ein Tanz.
So machten ihr auch weitere Berührungen nichts aus. War es am Arm oder an der Taille. Es war okay. Selbst den Rücken konnte sie ihm mehr als zehn Sekunden zudrehen, ohne verrückt zu werden. Mit Leon zu tanzen war eine völlig neue Erfahrung. Es war als hätten sie sich vorher über die Tanzschritte abgesprochen und sie einstudiert. Alles war perfekt. Darüber schien Leon genauso verwirrt zu sein, wie sie. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte man das von seinem Gesicht ablesen. Dann lächelte er vergnügt.
Als das Lied zu Ende war stand sie außer Atem vor ihm und musste erst einmal begreifen was da passiert war. Sie hatte gerade getanzt. Sie hatte gerade mit Leon getanzt. Dabei wollte sie doch nie wieder tanzen. Sie spürte den Klos in ihrem Hals.
„Ich nehme alles zurück. Du hast es echt drauf", sagte Sam und kam mit seiner Freundin begeistert auf sie zu. Aber Shirley war nicht nach Umarmung und Begeisterungsstürmen zumute. Sie wich zurück und sagte nur: „Ich brauche frische Luft."
Dann stürmte sie fast schon hinaus. Und atmete tief durch, als sie vor dem Club stand. Sie ging ein paar Schritte und setzte sich auf eine tief gelegene Fensterbank eines maroden Gebäudes. Ihre Beine zitterten und ihr war schlecht. Nicht wegen der vielen Drehungen. Die Nachtluft war frisch und eine leichte Brise verursachte bei Shirley eine Gänsehaut.
„Hey, alles okay?"
Shirley streckte hoch und sah Sarah, die besorgt neben ihr hockte. Doch ihre Nähe brachte das Fass an Gefühlen zum überlaufen. Schnell wischte sich Shirley mit der Hand übers Gesicht. „Alles gut. Ich brauchte nur mal frische Luft."
„So ein Quatsch. Ich sehe doch, dass etwas nicht stimmt. Hey, was auch immer los ist, du kannst es mir sagen."
„Ich habe nichts."
Shirley wusste keinen Grund Sarah die Wahrheit zu sagen. Aber auch keinen sie wieder abzuweisen. Sie wollte doch bloß helfen.
„Ich...ich habe einfach...ich habe mir geschworen nie wieder zu tanzen", erklärte sie abgehackt.
„Warum? Du tanzt doch toll. Du hast Talent und man hat gesehen, dass du nicht zum ersten Mal tanzt. Wo hast du das gelernt?"
„Tanzschule", sagte Shirley nur.
„Wow. Aber wenn man doch so gerne tanzt, und offensichtlich tust du das, sollte man sein Talent nicht einfach aufgeben."
„Ich weiß, Sarah. Es ist nur so, dass... mein blödes Tanzen am Tod meiner Mutter schuld ist."
Sarah war für einen Moment sprachlos. Sie setzte sich neben Shirley und wollte ihr beruhigend den Arm um die Schulter legen. Doch Shirley zuckte so stark zusammen, so dass Sarah schnell den Arm wieder wegnahm. „Erzähle es mir."
„Ach ich hatte dieses dämliche Vortanzen an der Dance-Akademie. Ich war schon früher da, um mich einzutanzen. Aber ich wollte sie unbedingt dabei haben. Wochen vorher habe ich ihr das schon eingeprägt, dass sie kommen sollte. Doch an dem Tag kam sie mal wieder nicht von der Arbeit weg und musste sich wahnsinnig beeilen. Sie geriet in einen Unfall und war sofort tot. Ich habe sie nur verflucht und ihr alles mögliche an den Hals gewünscht. Wenn ich gewusst hätte, was ich damit anrichte..."
Shirley brach ab und verbarg ihr von Tränen überflutetes Gesicht auf den Beinen.
„Das...tut mir leid. Aber du solltest dir nicht die Schuld dran geben."
„Doch!", schluchzte Shirley bestimmt.
„Wann ist deine Mutter gestorben?"
„Bevor ich hier her kam. Es sind jetzt etwa drei Monate."
Wieder schluckte Sarah. Das hatte sie bestimmt nicht erwartet. Sie sah Shirley mitleidvoll an. Wie sehr sie das hasste. Entweder die Leute ekelten sich vor ihr oder bemitleideten sie.
„Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich dich niemals aufgefordert", hörte sie Leon sagen. Er stand plötzlich neben Sarah. Er hielt Shirley seine Hand hin. Sie sollte aufstehen. Erst zögerte sie, dann aber ließ sie sich von Leon vorsichtig auf die Beine ziehen.
„Shirley ich bin nicht der Meinung, dass du das Tanzen aus dem Grund aufgeben solltest. Ich habe dich da drinnen genau beobachtet. Du tanzt viel zu gut und vor allem gerne, um es einfach nicht mehr zu tun. Das mit deiner Mutter ist bedauerlich, wirklich. Aber sie hätte auch nicht gewollt, dass du nicht mehr tanzt."
„Das habe ich mir auch gedacht. Deshalb habe ich es gerade auch versucht. Aber es ist einfach noch zu frisch."
„Hmm..." Er machte auf einmal ein nachdenkliches Gesicht.
„Was ist?"
„Weißt du worauf ich gerade total Lust habe?"
Sie hob die Augenbrauen und sah ihn fragend an.
„Darauf unser Basketball-Match zu Ende zu führen."
Er grinste breit.
„Was denn, jetzt?", fragte sie verständnislos.
„Na sicher. Ich muss dich doch noch schlagen."
„Du hast mich doch schon geschlagen", sagte Shirley resigniert.
„Nicht wenn wir die Regeln ein klein wenig verändern. Ich sage einfach, dass man erst bei zehn Körben gewonnen hat. Da es sechs zu eins für mich steht, habe ich noch ein paar Körbe zu werfen."
„Das weiß ich schon zu verhindern."
„Das ist der Spirit. Na los!"
Leon griff ihre Hand und rannte auf einmal los.
„Warte Leon, was ist mit den andern?"
„Die können später nach kommen. Sie haben doch den Van", gab Leon im Laufen zurück.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top