Kapitel 1
Shirley saß bei ihrem Vater im Auto und schaute schlecht gelaunt aus dem Fenster. Nicht nur, dass sie von nun an in einer neuen Stadt leben und auf ein neues College gehen musste. Nein, jetzt wurde sie von ihrem Vater auch noch dort hin gebracht. Das wäre ja nicht weiter schlimm gewesen, wenn er nicht als Polizist arbeiten würde und sie mit dem Dienstwagen dorthin bringen musste.
Er hatte darauf bestanden sie zu fahren, wo sie heute den ersten Tag an einem neuen College verbringen würde. Aber ihm war es nicht unangenehm mit dem Streifenwagen vor dem College aufzutauchen. Im Gegenteil. Er nahm es als Vorwand, um dort nach dem Rechten zu sehen.
Sie hatte nicht weiter mit ihm diskutieren wollen. Es war ohnehin ungewohnt für Shirley jetzt so viel Zeit mit ihrem Vater zu verbringen. Nach der Scheidung ihrer Eltern, war sie mit ihrer Mutter nach Alaska gezogen und hatte ihren Vater hin und wieder in den Ferien besucht. Jetzt würde sie bis nach dem College-Abschluss bei ihm wohnen. Er war kein komplizierter Mensch, doch kannte sie ihn noch nicht so gut.
„Na wenigstens scheint heute die Sonne", meinte Shirleys Vater Jack, um die angespannte Stimmung im Wagen etwas zu lösen und eine lockere Unterhaltung zu beginnen.
„Das ist North Carolina, Dad." Shirleys Antwort klang eher desinteressiert. Auf diesen Teil der Erde schien zu guten achtzig Prozent immer die Sonne.
Doch Jack gab nicht so schnell auf.
„Bist du nervös?"
„Nein. Wenn, dann nur auf Grund der Tatsache, dass ich in einem Polizeiwagen zum College fahre."
Eigentlich hatte sie das nicht so bissig sagen wollen, aber Shirley hatte wirklich schlechte Laune. Selbst ohne Streifenwagen hätte sie diese gehabt. Seit drei Monaten war ihr Leben nicht mehr in der richtigen Bahn. Erst hatte ihre Mutter diesen blöden Autounfall, für den sich Shirley noch die Schuld gab.
Anschließend musste sie bei ihrer Tante Clara wohnen - die Shirley überhaupt nicht leiden konnte. Dann fand sie heraus, dass ihr Freund Rico sie betrogen hatte und zu guter Letzt musste sie jetzt in North Carolina bei ihrem Vater leben, weil sie sich keine eigene Wohnung leisten konnte und nicht bei Tante Clara bleiben wollte. Schon jetzt vertrug sie die Hitze nicht. Dabei war es nicht einmal Hochsommer.
„Komm so schlecht ist das gar nicht. Meinst du nicht, dass du dich in diesem Wagen sicherer fühlst? Es gibt eine menge Idioten in dieser Stadt."
Das war Jacks hilfloser Versuch die Situation zu retten.
„Man wird mich verspotten", klagte Shirley genervt und rutschte im Sitz runter. Sie fühlte sich ja so gar nicht wohl in ihrer Haut.
„Glaub ich nicht."
Shirley war nicht aufzumuntern. Egal was Jack auch versuchte.
„Ich weiß ja, dass das alles eine neue, unangenehme Situation für dich sein muss. Doch sieh es mal von der Seite...du kannst hier vollkommen neu anfangen. Bald hast du auch deinen Abschluss. Dann kannst du machen, was du willst. Du kannst arbeiten gehen, dein eigenes Geld verdienen und dir eine Wohnung suchen. Mach dir neue Freunde. Keine Schläger-Typen, die regelmäßig trinken und Drogen nehmen. Ich meine richtige Freunde, die dich so nehmen wie du bist. Für die du dich nicht verstellen musst."
„Ich hatte richtige Freunde in Alaska. Konnte nur nicht ahnen, dass sie sich in die falsche Richtung entwickeln würden."
„Naja, jetzt hast du ja Gelegenheit bessere Leute kennen zu lernen."
Was für Jack „bessere Leute" waren, hielt Shirley eher für Langweilige-Vorzeige-Kinder. Mit denen konnte sie nichts anfangen.
Shirley antwortete also nichts mehr darauf und so schwiegen beide für den Rest der Fahrt.
Jack hielt den Wagen einen Block weit vom College entfernt an. Er wollte nicht, dass seine Tochter sich noch unwohler fühlte, als es ohnehin schon der Fall war.
„Da wären wir."
„Danke führ's fahren", sagte Shirley in einem trockenen Ton. Sie bemühte sich die Stimmung zwischen Jack und ihr nicht noch negativer werden zu lassen. Aber ganz freundlich zu klingen, schaffte sie doch nicht.
„Hey, ähm...", begann Jack.
„Was?"
„Ach schon gut. Ich wünsche dir einen angenehmen Tag. Lass dich nicht ärgern", sagte Jack und lächelte vorsichtig.
„Ich versuch's."
Shirley stieg aus dem Wagen und machte sich auf den Weg zum College.
Es waren gerade mal fünfhundert Meter bis zum mehrstöckigen Hauptgebäude. Dort musste sie sich in der Verwaltung anmelden, wo sie auch einen Gebäudeplan und eine Kursübersicht bekam. Sie stutzte als sie auf die Namensliste der Dozenten sah. Anscheinend hatte sie sehr viele Kurse bei einem gewissen Mr. Connor. Shirley staunte wie viele Kurse er gab. Biologie, Naturwissenschaften, Englisch und Sport. All diese unterschiedlichen Kurse hatte sie bei ihm. Sie überlegte, ob er noch mehr Kurse gab.
Nachdem sie sich in der Verwaltung angemeldet hatte, begab sie sich nach draußen in den Park. Es war gerade viertel nach acht. Ihr erster Kurs begann um neun. Das passte ihr wieder gar nicht. Was sollte sie so lange machen? Gelangweilt setzte sie sich auf eine Bank, die vor mehreren Kirschbäumen stand. Wieder musste sie staunen.
Das Gelände war grüner, als sie es sich vorgestellt hatte. Es war von einer hohen Mauer umrandet, die mit einem kleinen Dach versehen war. Rechts und links von den Gehwegen waren Wiesen angelegt. Einer der Wege führte in ein niedrigeres Gebäude, dass nur aus einem Erdgeschoss bestand. Der Weg schlängelte sich durch eine Reihe von Bäumen. Bei den Bäumen standen auch viele Kirschbäume, die gerade in voller Blüte standen.
Auf der gegenüber liegenden Seite war ein kleiner Parkplatz. Direkt daneben befand sich das Eingangstor, durch das immer mehr Studenten kamen und sich auf dem Hof verteilten. Vor dem Parklatz stand eine riesige Rotbuche, die aussah, als wäre sie hundert Jahre alt. Nicht so alt wie die maroden Holzbänke zum Fuße des Stammes.
Shirley gefiel der Hof. An ihrem alten College gab es nicht so viel Grün.
Die Wolken wurden durch die Sonne angestrahlt und hoben sich von dem tiefblauen Himmel ab. Ein leichter, böiger Wind wehte durch Shirleys lange, blonde Haare, die schon so hell waren, dass sie in der direkten Sonne fast weiß erschienen.
Meist trug Shirley sie offen und so fielen sie ihr in strähnigen Wellen über die Schulter.
Shirley stellte ihre Tasche mit den Schreibmaterialien und Büchern neben sich auf der Bank ab und schlug die Beine übereinander. Dann zupfte sie ihr T-Shirt zurecht und achtete peinlichst genau darauf, dass es nicht am Hosengürtel festhing. Sie konnte es nicht leiden, wenn ihr das Shirt am Rücken hoch rutschte und ihre Haut zu sehen war.
Eine Weile saß Shirley auf der Bank unter den Kirschbäumen. Eigentlich hatte sie gehofft am College etwas Ablenkung zu bekommen. Ohne wirkliches Interesse beobachtete sie die verschiedensten Gestalten.
Auf einmal schien es, als würde jemand auf sie zugehen. Shirley richtete sich auf und tatsächlich, ein junges Mädchen, etwa in Shirleys Alter, kam auf sie zu gelaufen. Sie hatte braune, halblange Haare, eine schlanke Figur und ein kleines, ovales Gesicht. Auf ihrer Nase saß eine kantige Brille. Sie hatte eine dunkle Jeans und ein dünnes, braunes Sweatshirt an. An den Füßen trug sie beige-braune Halbschuhe, passend zu ihrem Sweatshirt. Die Schuhe waren bestimmt von Donna Carolina. Um die Schulter hing ihr eine schwarze Umhängetasche.
Mit eiligen Schritten kam das Mädchen auf Shirley zu und blieb zwei Meter vor ihr stehen.
„Hallo!", grüßte das Mädchen freundlich. „Sag mal, hast du zufällig eine Ahnung warum die Bibliothek abgeschlossen ist?"
„Ähm, nein. Ich bin erst seit heute hier."
„Oh. Na dann kannst du es natürlich nicht wissen."
„Ich weiß nicht einmal, wo die Bibliothek ist."
Das braunhaarige Mädchen deutete auf das niedrige Gebäude hinter den Kirschbäumen.
„Dort drüben. Eigentlich gehe ich montags die erste Stunde immer dort rein. Aber heute ist sie verschlossen. Das fand ich seltsam."
„Hast du jetzt keine Kurse?"
„Nein. Mein erster Kurs fängt um neun an."
„Was hast du denn um neun für einen Kurs?", wollte Shirley neugierig wissen.
„Bio."
„Ach, ich auch", sagte sie betont beiläufig. Eigentlich interessierte es Shirley nicht, aber es wäre schön sofort Anschluss zu finden. Das Mädchen sah nett aus.
„Wirklich. Dann lass uns doch gleich zusammen dort hin gehen", bot sie an und grinste breit. Offenbar fiel es ihr gar nicht schwer Kontakte zu knüpfen.
„Ja von mir aus."
Das fremde Mädchen steckte Shirley mit ihrer guten Laune an. Sie lächelte so ehrlich erfreut, als sie hörte, dass Shirley im Biokurs mit ihr war. So ein warmes Lächeln hatte Shirley schon lange nicht mehr gesehen.
„Darf ich mich bis dahin zu dir setzen?"
„Sicher."
Shirley nahm ihre Tasche zur Seite.
„Ich bin übrigens Joanna...Joanna Noris. Aber Freunde nennen mich einfach nur Joe."
„Freut mich. Ich bin Shirley Montez."
„Freut mich dich kennen zu lernen. Aber sag, wie kommt es, das du jetzt das College gewechselt hast?"
„Aus persönlichen Gründen musste ich nach North Carolina ziehen."
„Verstehe. Wo kommst du denn her?"
„Aus Alaska."
„Alaska?", fragte Joanna erstaunt. „Das ist aber ein krasser Unterschied."
„Ich weiß."
Shirley zupfte sich erneut das T-Shirt zurecht und wandte sich Joanna ganz zu.
„Und wie lange bist du jetzt schon hier?"
„Seit einer Woche."
„Entschuldige, dass ich so viele Fragen stelle. Ich bin von Natur aus sehr neugierig."
„Ach schon gut. Ich werde lieber ausgefragt, als hier alleine eine Stunde zu sitzen. Außerdem bin ich das Ausfragen bereits gewohnt."
Joanna hob die Augenbraue und wurde mit einem Mal zwei Zentimeter größer. Sie war wirklich neugierig.
„Warum?"
„Naja, mein Vater ist Polizist. Er versteht sich auch gut darauf Fragen zu stellen."
Joanna lachte. „Ist er sehr streng?"
„Keine Ahnung. Meine Eltern sind getrennt und ich habe bisher mit meiner Mutter zusammen gelebt. Daher habe ich noch kein so intensives Verhältnis zu meinem Dad, aber ich glaube nicht."
„Meiner ist Arzt. Er ist sehr fleißig und ausgesprochen fürsorglich. Aber auch sehr beschäftigt durch seine Arbeit. Ich weiß also was du meinst. Ich habe auch ein intensiveres Verhältnis zu meiner Mutter."
Am liebsten hätte Shirley das Thema gewechselt. Sie wollte über alles reden, nur nicht über ihre Mutter.
Zum Glück geschah etwas, dass ihre und Joannas Aufmerksamkeit forderte.
Drei Motorräder fuhren auf den Hof. Ihre Fahrer hielten hinter der großen Rotbuche auf dem Parkplatz und stellten die Motoren ab. Anschließend stiegen sie fast gleichzeitig von den Motorrädern ab - wie in einem Hollywoodfilm - und setzten ihre Helme ab. Es sah aus, als hätten sie es einstudiert sich vollkommen synchron zu bewegen. Kaum waren sie da, kamen mehrere kreischende Mädchen auf sie zugelaufen.
Kurz darauf fuhren auch ein türkisfarbener alter Mustang und ein schwarzer Van durch das Tor auf den Parkplatz. Beide Wagen glänzten, wie frisch poliert. Das jubelnde Geschrei der Mädchentruppe wurde noch stärker.
Aus dem offenen Mustang Cabriolet stiegen drei Mädchen. Eine mit dunklen, die anderen beiden mit blonden Haaren. Das Mädchen mit den dunklen Haaren hatte eine unglaubliche Ausstrahlung, die Shirley sofort auffiel. Sie war groß, schlank und hätte auch gut ein Modell sein können. Auch die beiden anderen Mädchen waren recht hübsch.
Aus dem schwarzen Van stieg ein sehr hell blonder Junge.
Auffallend war die schwarze Lederjacke, die er trug. Sie stand in einem starken Kontrast zu seinen hellen Haaren. Er öffnete die seitliche Schiebetür des Vans und holte eine große Laptoptasche heraus. Außerdem ein paar Kopfhörer, mehrere Kabel und eine weitere Umhängetasche. Man hätte meinen können, er wäre eine wandelnde Mediathek.
Der blonde Junge und die drei Mädchen gesellten sich zu den drei Typen mit den Motorrädern. Diese trugen ebenfalls schwarze Lederjacken, auf denen anscheinend ein und derselbe Aufdruck war. Ein Name: ROX. Im Hintergrund rot-gelbe Flammen.
Eines war sicher, diese Leute erregten die Aufmerksamkeit des gesamten Colleges.
„Wer sind denn die?", fragte Shirley an Joanna gewannt.
„Das sind die Rox."
„Die Rox?", hakte Shirley skeptisch nach.
„Das ist der Name einer Gang. Ihr Revier zieht sich über die gesamte East-Side."
„Im Ernst jetzt?"
„Ja. Außerdem sind die beliebtesten Studenten am College."
„Ich hätte hier mit so etwas nicht gerechnet."
„Ich sag dir Shirley, die Rox sind absolut klasse. Jeder hier möchte gerne mit einem von ihnen befreundet sein."
„Kann ich mir nur schwer vorstellen. Was soll denn bitte so toll an denen sein?"
„Das wirst du sehen, wenn du länger mit ihnen zu tun hast."
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt etwas mit ihnen zu tun haben will. Ich hab mit Straßengangs so meine Erfahrungen."
„Tatsächlich? Das klingt ja nicht so positiv."
Shirley schüttelte den Kopf.
„Also meiner Meinung nach sind die Rox echt in Ordnung. Sie haben nur halt das sagen hier. Wer sich gegen sie stellt oder sie nervt hat keine Chance bei ihnen. Aber es gibt keine cooleren Leute."
Joannas Blick wurde schwärmend.
„Nicht nur deiner Meinung nach", bemerkte Shirley mit einem schiefen Blick auf die Fangemeinschaft der Rox.
„Ach das nervt die Rox selber mit den kreischenden Mädchen."
„Glaub ich nicht. Als ob die das nicht genießen würden."
„Sie sind gerne beliebt, keine Frage. Aber dieser alberne Mädchenverein übertreibt es total. Zum Glück ist Leon nicht da. Dann wäre das ganze noch schlimmer."
„Leon?"
„Er ist der Anführer der Rox und der coolste Typ am College. Ehrlich, Shirley, Leon ist einfach fantastisch."
Shirley versuchte sich den Anführer der Truppe vorzustellen, die jetzt langsam auf das Gebäude zulief. Alle waren überwiegend in schwarz gekleidet. Die Jungs trugen alle schwarze Lederjacken, die Mädchen dunkle Hosen und Shirts. Nur das dunkelhaarige Mädchen trug einen blauen Jeansrock. Dazu aber ein schwarzes T-Shirt. An den Unterarmen und über ihren schwarzen Lederstiefeln hatte sie Stulpen übergestreift. Und ihren Hals zierte ein schmales Lederhalsband.
Auch eines der blonden Mädchen trug Lederbänder am Hals und an den Handgelenken. Das kleinere, dünne Mädchen neben ihr hatte über der dunklen Hose ein weites, faltiges Oberteil an. Wenn sie nicht so stark dunkel geschminkt gewesen wäre, hätte sie sehr süß und unschuldig ausgesehen.
Wahrscheinlich wollte sie ihrem Typ entgegen wirken.
Wie würde wohl der Anführer einer solchen Gang aussehen? Groß und kantig, ein Klotz eher oder jemand mit mehr Ausstrahlung. Shirley musste sich selbst eingestehen, dass die Rox unheimlich gut aussahen. Jeder einzelne von ihnen war ein Hingucker.
„Warum ist er nicht dabei, Leon meine ich?"
„Ach er ist schon seit drei Monaten nicht zum College gekommen."
„Warum nicht?"
„Das weiß keiner so genau. Manche sagen, er sei krank. Aber böse Zungen behaupten auch er wurde eingebuchtet."
Nun stellte Shirley sich doch einen gefährlichen Knacki vor mit ernster Miene und stets bereit für Untaten.
„Eingebuchtet? Was sollte er den so schlimmes angestellt haben?"
„Ich habe keine Ahnung. Nur die Rox wissen Bescheid. Von denen wird aber keiner darüber reden."
Shirley kam das sehr merkwürdig vor. Außerdem war sie nicht begeistert von der Tatsache, dass am College eine Gang herum lief. Sie hatte so sehr gehofft ihre Vergangenheit vergessen zu können.
~
Am Abend saß Shirley mit Jack in der gemütlichen Küche am Esstisch. Sie hatte Auflauf und Salat gemacht. Wie hatte ihr Vater nur so lange allein für sich sorgen können, wenn er sich nur von Konserven ernährt hatte? Gut, hin und wieder ging er auch mal essen, aber seine Ernährung war nicht besonders gesund.
„Wie war dein Tag?", fragte Jack bevor er sich die nächste Gabel in den Mund schob. Er war kein Mann vieler Worte, aber nun da Shirley bei ihm war, versuchte er sich in der Konversation mit ihr.
„Ganz okay."
„Ist irgend etwas besonderes gewesen?"
„Nein, eigentlich nicht."
„Hast du schon Freunde gefunden?"
„So schnell geht das nicht, Dad. Zwar habe ich nette Leute kennen gelernt, aber für Freundschaft muss man sich länger kennen."
„Ja. Das ist auch richtig so."
Jack schwieg einen Moment und fragte dann: „Und süße Kerle auf dem College? Jemand der dir gefallen könnte?"
„Ich bitte dich! Ich war erst einen Tag am College."
„Na und? Kann doch sein, dass du schon ein Auge auf jemanden geworfen hast."
Jack zwinkerte seiner Tochter zu.
„Selbst wenn da süße Typen herum laufen, ich denke nicht dass ich dort jemanden für's Leben finden werde. Ich habe nämlich im Moment keine Lust zu daten."
„Ich hoffe nur, es wird nicht einer von den Rox."
Shirley stutzte. „Du weißt von den Rox?"
„Na sicher. Ich bin ein Cop, Schatz. Hast du das schon vergessen?"
Das klang eher danach, dass er schon das ein oder andere Mal mit den Rox zu tun gehabt hatte. Wie gefährlich waren sie wohl?
„Und woher weißt du auf welches College sie gehen?"
„Ich weiß so gut wie alles über diese Gang", knurrte ihr Vater.
„Was sind das denn so für Leute?" Shirley versuchte ihre Frage betont gleichgültig klingen zu lassen und stocherte mit der Gabel auf ihrem Teller herum. Sie war ein kleines bisschen neugierig, was ihr Vater nicht merken sollte. Aber was erwartete sie eigentlich zu hören? Die Rox waren auch nicht anders als jede andere Straßengang.
„Ich mag sie nicht besonders. Sie halten sich für ach so cool und glauben sich alles erlauben zu können. Aber das sind sie nicht. Sie leben komplett nach ihren eigenen Regeln. Sie provozieren gerne Streit mit anderen Gangs. Ständig muss ich sie von Schlägereien abhalten."
„Hast du oft mit ihnen zu tun?"
„Naja. Zum Glück in den letzten drei Monaten weniger. Sie sind ruhiger geworden ohne ihren Anführer."
„Du meinst Leon?"
„Hast du von ihm gehört?"
„Nicht viel."
„Er ist der schlimmste von allen."
„Was ist mit ihm?"
„Er ist vor drei Monaten verhaftet worden, wegen Diebstahls. Er hätte auf Kaution frei kommen können, aber er hat es abgelehnt. Er wollte nicht mal einen Anwalt."
„Was? Er hat das die ganzen drei Monate ausgesessen?"
„Ja."
Shirley wurde immer neugieriger. Wieso hat sich der Typ keinen Anwalt genommen? Das war doch höchst sonderbar.
„Weißt du was er gestohlen hat?"
„Ich kenne keine Einzelheiten zu dem Fall."
Jack stand auf, als er den Teller leer gegessen hatte.
„Möchtest du noch was?", fragte Shirley.
„Nein danke. Ich finde es lieb von dir zu kochen. Es ist mir sehr unangenehm, dass dein alter Vater dir nichts besseres bieten kann."
„Ach ich habe bei Mom auch immer viel gekocht, weil sie wegen ihrer Arbeit spät nach Hause kam. Ich bin es also gewohnt."
„Ja aber ich bin dein Vater. Eigentlich sollte ich dich bekochen."
„Das ist echt schon okay, Dad."
Shirley nahm die Teller vom Tisch und räumte sie in die Spülmaschine. Anschließend wischte sie den Tisch mit einem Lappen sauber.
„Kann ich dir noch was helfen?"
„Nein. Ich bin gleich fertig."
„Gut. Ich muss noch etwas Papierkram nachholen. Bis später."
Damit ging Jack in das große Wohnzimmer und setzte sich an seinen Schreibtisch. Shirley räumte die restliche Küche auf und ging dann in den ersten Stock auf ihr Zimmer. Sie schaltete die kleine Lampe auf dem Nachttisch ein und setzte sich auch an ihren Schreibtisch.
Doch zum Lernen hatte sie keine Lust. Sie war auf einmal deprimiert. Seufzend stützte sie ihren Kopf mit den Armen auf dem Tisch ab. Was für ein Leben. Ihr ging es nicht wirklich schlecht, aber glücklich war sie auch nicht.
Sie merkte eine Träne ihre Wange hinunter laufen. Warum weinte sie? Eigentlich sollte sie froh sein. Sie hatte ein Dach über dem Kopf. Ihr Vater war nett zu ihr. Sie ging auf ein gutes College und hatte gleich am ersten Tag nette Menschen getroffen. Warum also war sie so verdammt unglücklich?
War es noch immer der Unfall ihrer Mutter, der ihr noch wie ein Kloß im Hals saß? Oder Rico, der sie so mies behandelt und betrogen hatte?
Sie war froh, dass sie ihren Exfreund und seine abgedrehten Freunde hinter sich gelassen hatte. Doch hatte es ihr wirklich etwas genutzt? Was wenn sie nun wieder in Schwierigkeiten geraten würde?
Wahrscheinlich sogar durch die Rox. Zwar kannte Shirley sie nicht, aber von Straßengangs hatte sie genug. Wer waren die Rox? Waren sie genau so wie ihre alte Gang? Sie hoffte nicht.
Shirley zog es immer wieder zu den coolen und starken Menschen hin. Die Rox schienen alles zu sein, aber auf keinen Fall langweilig. Hoffentlich würde das gut gehen.
Trotzdem war sie neugierig auf die gut aussehenden Studenten, die bei allen so beliebt waren. Besonders auf das große dunkelhaarige Mädchen. Laut Joanna war ihr Name Tina.
Shirley beneidete Tina um ihr Filmstar - Aussehen. Alle von den Rox sahen gut aus. Als wäre es ein Markenzeichen oder Bedingung, um Mitglied zu sein. Shirley hatte ein paar Kurse mit den Rox zusammen. Bisher hatte sie nicht viel von ihnen mitbekommen. Zumindest konnten sie sich am College schon mal benehmen. Da hatte sie mit ihrer alten Gang schlechtere Erinnerungen an das College.
Doch ihr Vater hatte gesagt, dass ihr Anführer nicht da war und sie deshalb ruhiger waren. Was würde passieren, wenn Leon wieder auftauchte? Sie hatte keine besonders große Lust das herauszufinden. Ihre eigenen Probleme waren schon genug. Sie wollte sich nur um ihren Abschluss kümmern, anschließend ausziehen und nach Arbeit suchen. Das war ihr Ziel, auf das sie sich konzentrieren musste. Sie musste zusehen, dass sie wieder auf die richtige Bahn gelangte. Momentan fühlte sie sich nämlich eher neben der Spur.
Schnell wischte sie sich die Träne von der Wange und erhob sich. Trübsal blasen half ihr auch nicht weiter. Sie beschloss ein heißes Bad zu nehmen und stand auf. Sie warf ihre Kleider in einen Korb im Schrank und tänzelte auf Zehenspitzen über das hellbraune Laminat.
Die automatische Raumbeleuchtung sprang an, als Shirley das Bad betrat. Sie ließ das Wasser laufen und holte noch ihr Handy. Joanna hatte ihr eine Nachricht geschrieben. Ja richtig, sie hatten ja heute Mittag ihre Nummern ausgetauscht.
„Hast du Lust am Freitag mit ins Kino zu kommen? Mike und Samantha kommen auch mit."
Shirley überlegte einen Moment. Sie kannte die drei erst seit heute. Aber es sollte kein Problem sein mit ihnen ins Kino zu gehen. Es war ja erst Montag. Shirley bemerkte wie vorsichtig und misstrauisch sie geworden war. Aber sie konnte sich nicht für den Rest ihres Lebens verkriechen. Es war ja nur Kino. In einem öffentlichen Kinosaal, indem wahrscheinlich noch mehrere andere Menschen sitzen würden.
Also antwortete sie: „Ja klar. Welcher Film?"
„Den suchen wir spontan aus."
Joanna sendete noch einen lächelnden Smiley hinterher.
„Okay. Gehen wir dann nach dem College?"
Joanna ließ Shirley nicht lange auf die Antwort warten: „Ja. Sonst wir es zu spät. Meine Familie macht ein Drama, wenn ich in die Abendvorstellung gehe."
„Dann lieber nicht. Bis morgen dann."
„Ja. Bis morgen."
Shirley machte am Handy Musik an, dann legte sie es auf einen hölzernen Beistelltisch neben der Badewanne und sah in den Spiegel über dem Waschbecken. Sie drehte ihren Kopf erst nach links dann nach rechts. Dann verzog sie das Gesicht. Sie gefiel sich gar nicht. Dabei war sie gar nicht hässlich. Hätte sie nur nicht diese verflixte Narbe am Rücken. Nun drehte sie ihren Körper halb und betrachtete ihren Rücken im Spiegel. Sie hob ihre langen blonden Haare nach vorne über die Schulter.
Die lange schmale Narbe zog sich von ihren Schulterblättern quer über den gesamten Rücken bis fast zu ihrer Hüfte hinunter. Wer würde sie denn damit jemals wieder anfassen wollen?
Diese Narbe blieb für immer. Sie würde sie immer an Justin erinnern. Justin, der brutale Kerl, den ihr Exfreund Rico immer bewundert hatte. Doch Justin hatte Shirley nie leiden können. Er war der Anführer ihrer alten Gang gewesen.
Er wollte Shirley nie dabei haben. Die Ablehnung beruhte aber auf Gegenseitigkeit. Irgendwann war es so weit gekommen, dass Justin seine Wut nicht mehr hatte beherrschen können. Er hatte Shirley so sehr verletzt, dass sie im Krankenhaus gelandet war. Das würde sie ihr ganzes Leben mit sich herum tragen. Justin hatte sie verunstaltet. Sie gedemütigt. Und Rico hatte nichts dagegen unternommen. Justin war ungestraft davon gekommen.
Die Gang hatte sich auf Justins Seite gestellt, als die Polizei sie befragt hatte. Natürlich aus Angst vor ihm. Shirley hatte damals keine anderen Beweise gegen ihn gehabt. Doch sie hatte daraus gelernt und an einem Selbstverteidigungskurs teilgenommen, um sich zukünftig gegen solche Kerle wie Justin wehren zu können.
Nur Rico würde sie nie verzeihen können. Nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, fand er sie abstoßend mit der Narbe. Sie hatte damals schon nicht verstanden, warum er die Beziehung nicht schon zu dem Zeitpunkt abgebrochen hatte. Er hätte es lieber tun sollen, anstelle Shirley über Monate hinweg mit einer anderen zu betrügen.
Shirleys grün-braune Augen betrachteten immer noch ihren gequälten Rücken. Selbst wenn es ein Mann schaffen sollte mit ihrer Narbe klar zu kommen... wie sollte sie jemals damit klar kommen?
Shirley stieß ihre Haare wieder zurück über den Rücken, damit sie die Narbe verdecken konnten. Dann stieg sie in die halb gefüllte Wanne. Zum Glück tat ihr die Narbe nicht mehr weh. Es war schon genug welche innerlichen Schmerzen sie Shirley zufügte, da musste sie nicht noch körperliche Schmerzen haben.
Es war ebenfalls eine Erleichterung, dass ihr Vater keine Details kannte. So wie sie Jack einschätzte, wäre er am nächsten Tag nach Alaska geflogen und hätte nach Justin gesucht, wenn sie es ihm erzählt hätte. Die Frage war nur, was er gegen Justin ausrichten konnte. In Alaska wäre er kein Polizist mehr. Er hätte dort keine Zuständigkeit.
Shirley stellte sich Justin und ihren Vater vor, wie sie miteinander kämpften. Sie schüttelte heftig den Kopf um das Bild schnell aus ihrem Kopf zu bekommen. Nein was für einen Blödsinn dachte sie da nur? Ihre Fantasie musste mit ihr durchgehen.
Shirley versuchte sich für den Rest des Abends zu entspannen und keine verrückten Gedanken mehr zu haben. Das gelang ihr auch halbwegs.
Am nächsten Tag musste sie wieder zum College. Doch lehnte sie dieses Mal Jacks Angebot sie zu fahren ab.
Am Vorabend hatte sie sich vor dem Schlafengehen noch eine Busverbindung heraus gesucht, mit der sie zum College fahren konnte.
Also stand sie um halb zehn an der Haltestelle. Am Dienstag hatte sie später ihre Kurse, was ihr einen entspannten Morgen bereitete.
Endlich kam der Bus und Shirley stieg ein. Sie kaufte sich ein Ticket beim Busfahrer und setzte sich auf einen der hinteren Plätze im Bus. Es waren 12 Haltestellen bis zum College. Shirley steckte sich Kopfhörer in die Ohren und schaltete die Musik am Handy ein. Dann betrachtete sie die Häuser, an denen der Bus vorbei fuhr.
Es waren große Reihenhäuser, eines an dem anderen gebaut. Am Straßenrand parkten mehrere Autos und Fußgänger eilten auf den Gehwegen hin und her.
Doch Shirley betrachtete das alles ohne wirklich hinzusehen. Nichts davon interessierte sie. Ihr Leben langweilte sie. Sollte das jetzt jeden Tag so weiter gehen? Jeden Tag zum College, Abends mit ihrem Vater speisen, lernen, mit Freunden ausgehen...
War das sonst nichts? Nichts was das Leben erwartungsvoller machte? Aber was erwartete sie nur? Shirley konnte sich das selbst nicht beantworten. Was genau war dort draußen, das auf sie wartete? Das Leben musste doch noch mehr zu bieten haben, als es das jetzt tat.
Am College angekommen, ging Shirley direkt ins Gebäude. Sie suchte ihren Spinnt und packte ihre Bücher hinein. Es dauerte auch nicht lange, da wurde sie von Joanna gefunden.
„Guten Morgen!", rief Joanna gut gelaunt.
„Morgen."
„Was ist los, hast du nicht gut geschlafen?"
„Wieso?"
„Du bist sehr blass und hast dunkle Ringe unter den Augen."
„Echt?"
Shirley senkte den Kopf in Verlegenheit.
„Mir geht es aber gut", log sie. Warum sollte sie Joanna auftischen, dass sie mit ihrer Gesamtsituation unzufrieden war, deshalb schon seit Monaten keinen ruhigen Schlaf finden konnte und viel weinte.
„Hör mal. Ich hab dich gestern so einfach mit dem Kino überfallen. Ist das auch wirklich in Ordnung für dich? Dachte nur es wäre mal eine Gelegenheit sich außerhalb des Colleges besser kennen zu lernen."
„Ja, ich habe mich gefreut."
„Uff!", kam es von Joanna erleichtert „Dann bin ich beruhigt."
„Sag Joe, wie viel kostet denn so eine Kinokarte bei euch?"
„Ach nicht viel. Ein paar Dollar. Wieso, hast du Angst es nicht bezahlen zu können?"
Joanna grinste frech.
„Das ist es nicht. Wollte es nur so wissen."
„Gehst du eigentlich nebenbei arbeiten, Shirley?"
„Nein. Aber ich würde gerne. Habe nur noch nicht intensiv nach Arbeit gesucht."
„An was hast du denn gedacht?"
„Ich würde er gerne Kellnern."
„Oh, da kenne ich was für dich. Ich gehe in einem kleinen italienischen Restaurant kellnern. Doch mein Chef sucht immer nach Aushilfen."
„Wirklich?"
„Ja. Komm doch nachher mal mit dort hin. Es würde dir dort gefallen. Markus ist echt locker drauf. Frag ihn doch einfach mal nach einer Stelle."
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