VI - Todesnähe

Ich weiß nicht, ob es die Menschen sind oder der Raum, der noch immer so aussieht, wie an dem Tag, an dem sie mich verlassen hat.

Ich kann nicht erklären, was mich hier an sie erinnert.

Ich möchte nicht an Aedea denken, am liebsten würde ich den Kummer in meinem Herzen ersticken.

Ich versuche, nicht an sie zu denken.
Ich versuche gar nicht zu denken.
Nicht an sie – an dich – und schon nicht an die gemeinsamen Momente.

Aber denken ist das letzte, das mir bleibt.
Ich kann mich nicht bewegen, nicht sprechen, nicht schlucken.
Ich denke – an dich. Meistens.

Manchmal bekommt meine Familie auch einen Platz, aber du bist es meistens, die meinen Geist vereinnahmt. Ich muss daran denken, wie du aussahst – und dich jetzt möglicherweise verändert hast, an deine ganz eigene Schönheit.

Ich denke an deine Stupsnase, die ein wenig wie die Sprungschanze eines Skispringers gebaut ist, an deine braunen Haare, die sich auf deinem Rücken sanft wellen, aber ansonsten meistens in deinem Gesicht hängen. Deine grünen Augen haben mich immer angesehen, als ob du gleich weinen würdest. Ich habe dich nur einmal weinen gesehen.

Da war dieses Muttermal an deiner linken Schläfe, das dich so imperfekt gemacht hat und gleichzeitig ein klein wenig perfekter.

Da war irgendetwas, das dich mit mir verbunden hat. Ich kann es nicht beschreiben. Vielleicht die Tatsache, dass das Leben endlich ist, vielleicht auch einfach nur die Hoffnung auf eine Zukunft. Ich weiß es nicht, wie so vieles in letzter Zeit.

Aber was auch immer es ist, das uns verbindet, es ist magisch.

Während du hier warst – in meinem Leben – hast du mich daran erinnert, wer ich bin und wofür ich stehe.
Ein Mann weint nicht. Ein Mann nimmt sein Schicksal hin und macht das Beste daraus.

Drei Monate haben mir die Ärzte im Juni gegeben. Sie haben recht. Ich weiß, dass heute alles zu Ende geht. Ich freue mich darauf.

Ich habe dir gesagt, dass ich nicht allein sterben will – und es stimmt.
Aber ich bin nicht allein. Es sterben sehr viele im selben Moment. Ich bin nur einer von vielen. Der Gedanke ist zwar nicht angenehm, aber befriedigender, als der daran, dass niemand meine gefühllose Hand halten wird, wenn ich meinen letzten Atemzug tue.

Und doch ...

»Nathan!«
Ich kann den Kopf nicht drehen, um den Quell der Stimme anzusehen, aber ich weiß auch ohne mich bewegen zu können, wer da spricht.

Diese Engelsstimme würde ich unter tausenden erkennen.

Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie du dich neben mich setzt.

»Oh Nathan...«, hauchst du, beugst dich über mich. Du weinst.

»Ich habe dich allein gelassen, Nathan. Ich hatte Angst, dass du –«, haucht sie und zögert, »gegangen bist, bevor ich ankomme«

Ich werde dich nie verlassen, Aedea.

»Du hast gesagt, dass du nicht allein sterben willst und ich Idiotin bin gegangen, weil ich dachte, dass ich es nicht verkrafte. Oh Nathan, ich bin eine egoistische Vollidiotin und wenn du könntest, dürftest du mich jetzt schlagen«

Eine ihrer Tränen rinnt über ihre Wange und tropft auf mein Gesicht. Ich bilde mir ein, dass es dort kribbelt.

Ich atme rasselnd ein – und aus.
Immer wieder.
Für den Rest meines Lebens. Für immer.

‚Ich werde dich immer lieben. Für immer', habe ich dir gesagt, als ich es noch konnte.

Ich werde dich immer lieben. Für immer, will ich dir auch jetzt sagen.

Aber ich kann nicht. Du drückst meine Hand. Ich spüre es nicht.

Ich kann jetzt loslassen. Ich bin nicht mehr allein. Ich war nie allein.

Meine Lunge entspannt sich, ich spüre es. Ich habe all die letzten Tage gekämpft, Stunden über Stunden nach Luft gerungen und Schmerzen ertragen. Jetzt ist es vorbei.

Ich lasse mich fallen, schließe die Augen und atme ein letztes Mal aus.

Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich auf mich selbst hinab, auf Aedea, die über meinen Körper gebeugt liegt. Sie weint.

Es geht mir gut. Ich kann mich wieder bewegen.

»Wir müssen uns unsere Liebe für ein anderes Leben aufbewahren. Eines, in dem ich leben darf«, wiederhole ich ihre Worte, aber sie scheint es nicht zu hören.

Als ich mich dem strahlenden Licht zuwende und darauf zugehe, erinnere ich mich an andere ihrer Worte. „Wo etwas aufhört, fängt etwas neues an", hat sie gesagt.

Vielleicht hatte sie Recht. 

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