III - Mittagsspaziergang

Aedea hält ihr Versprechen.
Nach einer halben Portion Frühstück, schiebt sie mich in den Stadtpark und läuft mit mir über die Wege. Die Mittagssonne steht hoch am Himmel, als sie schließlich auf eine Bank sinkt und mich anlächelt.

»Deine Augen strahlen. Du hattest das nötig, oder?«

Sie sieht mich aus diesen grünen Augen unergründlich an. Vielleicht durchforstet sie gerade meine Iris, untersucht die Schwingungen der jeweiligen Farbspektren und interpretiert sich etwas daraus.

Auf ihre Frage gehe ich nicht ein.

»Wie kommt es, dass du Zeit hast, so viel Zeit für mich aufopfern kannst?«, frage ich stattdessen und ernte einen erstaunten Blick.

»Heißt das, dass du nicht oft rauskommst?«

Ich nicke wortlos und starre auf eine große Blume, die sich im Rauschen des Windes bewegt. Es gibt Dinge, die nicht gesagt werden sollten. Nicht, wenn jedes Wort und jeder Moment gezählt sind. Ich werde meine Stärke nicht mit einem ‚Nein' und einer Begründung verschwenden. Nicht in der Natur.

Aedea schweigt einige Zeit, ihr Blick fliegt über die Menschen, die an uns vorbeilaufen und über die Umgebung.

»Sie haben mir gesagt, dass du ein schwieriger Fall wärst«, sagt sie dann jedoch zögernd, »Dass deine Krankheit dich kaputt gemacht hätte und du – unzufrieden mit allem und jedem wärst. Sie haben mir gesagt, dass du sie aus dem Raum wirfst, wenn sie dich mitleidig ansehen«

»Ich brauche kein Mitleid!«, erwidere ich dann viel zu schnell – und viel zu schroff. Verbittert. Ich bin nicht verbittert. Ich bin des Lebens noch nicht überdrüssig. »Ich brauche kein Mitleid von denen, die jeden so ansehen. Die keine Ahnung haben, wie es ist, in dieser Situation so angesehen zu werden. Sie sollen eher – gehen, als mich überhaupt anzusehen. Sie verstehen es nicht«

Sie schweigt eine Weile, aber nun wirbeln meine Gedanken. »Ich möchte gesagt bekommen, dass ich stark bin, das auszuhalten«, flüstere ich dann schließlich in die Stille, untermalt von dem Zwitschern der Vögel an diesem sonnigen Platz.

»Jeder verdient es, dass seine Wünsche respektiert werden. Gerade –«, haucht sie zögert und spannt den Unterkiefer an, »Gerade Sterbende verdienen es«

Ich nicke nochmal.
»Danke«, murmle ich dann schließlich.

Aedea hebt den Kopf überrascht. »Hat es dich nicht beleidigt, dass ich dich – dass ich dich als Sterbender bezeichnet habe, Nathan?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein. Ich schätze deine Ehrlichkeit – und, dass du nicht um das Thema herumredest. Dass ich sterbe ist schon lange keine Vermutung mehr«

Sie sieht überrascht aus, aber erwidert nichts.

»Was führt dich in dieses Hospiz?«
Ich weiß nicht ganz, was genau mich dazu veranlasst, selbst die Fragen zu stellen. Aedea vielleicht. Ihre Art. Sie interessiert mich. So, wie mich noch nie ein Mädchen interessiert hat. Aber ich fühle mich nicht sexuell von ihr angezogen, sie zieht mich an, als wäre sie eine Sirene – und ich ihr dem Sterben geweihtes Opfer.

»Das hier ist die letzte Station meines Praktikums«, beginnt sie zu erzählen. »Ich wollte etwas mit meinem Gap Year anfangen und erfahren, wie es Menschen geht, die ... nicht mehr lange da sind. Ich wollte erfahren, wie sie denken und fühlen. Und ich wollte wissen, ob der Beruf etwas für mich ist. Zwei Monate habe ich noch, bevor ich mich entscheide, was ich in meinem Leben mache. Vielleicht gehe ich aufs College, vielleicht auch nicht. Vielleicht leiste ich mein Leben lang Sterbenden Gesellschaft, pflege Alte oder kümmere mich um die, die im Leben immer benachteiligt sein werden. Ich weiß es nicht, ehrlich nicht«

Es versetzt mir einen Stich im Herzen. Da draußen sind Menschen in meinem Alter, die nicht wissen, was sie mit diesem Leben anfangen sollen. Leute, die ihr Leben wegwerfen. Die planlos sind, wie Aedea.

Ich weiß nicht, wie lange diese Erkenntnis in meinem Hinterkopf gewartet hat – vielleicht schon Monate, vielleicht Wochen, vielleicht aber auch nur Tage.

Ich werde diese Chance nie haben.

Ich werde nie so leben können, wie Aedea und auch nie so, wie andere in meinem Alter.

Ich habe noch drei Monate zu leben.
Einen davon werde ich allein verbringen. 

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