I - Nathan Mathewson
Seitdem das Hospiz seine kalten Finger um mich geschlossen hat, fühlt sich jeder Tag an wie eine Ewigkeit und jede Nacht wie mein Ende.
Ich erinnere mich noch genau an den Moment, an dem meine Familie beschlossen hat, dass sie mit mir überfordert ist. Sie kamen nicht mehr damit zurecht, dass ich nicht mehr laufen konnte und meine Beine nicht mehr spürte und sie kamen nicht mehr mit meiner aggressiv-ambitionierten Dauerstimmung klar, in der ich immer wieder versuchte mich über die Krankheit hinwegzusetzen und zu laufen.
Ich glaube, bis heute haben sie nicht verstanden, was es bedeutet, seinem Ende nahe zu sein. Ich glaube nicht, dass sie auch nur einmal an mich gedacht haben, der mit diesen Schmerzen – physisch und psychisch – leben muss.
Sie haben nie daran gedacht, dass ich selbst erst verstehen musste, was mit mir passierte.
Dass diese Krankheit keinen Ausweg hatte, unbesiegbar war und der Tod bereits hinter mir lauerte, seit ich geboren wurde.
Seitdem ich das große Schild an der Einfahrt passiert habe – „St. Liz Hospice, Los Angeles" – bekomme ich nur sehr wenig von ihnen zu hören. Besuch von ihnen gibt es bisher einmal im Monat und nur von meiner Mutter.
Ich würde gerne eine Hand halten, wenn ich sterbe.
Eine Hand, die meine drückt, auch wenn ich das dann nicht mehr spüren kann, wenn meine Atmung immer unregelmäßiger wird und dann völlig erstirbt.
An die Herz-Lungen-Maschine möchte ich nicht angeschlossen werden. Wenn meine Zeit reif ist, dann will ich sterben. Ich muss schon so erleben, wie mein Körper verfällt und ich mit vollem Bewusstsein dabei bin.
Aber das Schlimmste an der ganzen Sache ist, dass ich mich nie wieder glücklich fühlen kann. Nicht mit dem Gewicht, das ich mit mir herumtrage. Nicht mit dem Tod auf meinen Schultern.
Mein Leben wird sich bis zu seinem qualvollen Ende auf dieses Hospiz beschränken, auf den Raum aus schwarzbraunen Holzvertäfelungen mit der großen Fensterfront auf die Stadt hinaus, durch das die Sonne munter scheint.
Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder die Sonne auf meiner Haut spüren werde. Die Pfleger hier haben fast keine Zeit. Zeitnot trifft hier auf Notzeit. Zwei Zustände, die unterschiedlicher nicht sein könnten und fern voneinander bleiben sollten. Wahrscheinlich werde ich niemals mehr als dieses Zimmer sehen.
Die Zeit steht hier still. Es ist nicht „zeitlos" und dennoch verharrt hier die Welt regungslos.
Im Hospiz lauert der Tod an jeder Ecke. Vielleicht haben sich die Pfleger deshalb eine Maske aus Eis angeeignet – aus Selbstschutz. Wahrscheinich sollte ich das auch tun.
Um meinetwillen, damit ich nicht noch mehr in meiner Krankheit ertrinke.
Manchmal, an Tagen, an denen der Schmerz mich überwältigt, wünsche ich mir, dass der Tod schneller und einfacher wäre. Ich wünsche mir oft, dass mein Geist vor meinem Körper zerfallen würde. Das würde alles einfacher machen. Die Schmerzen wären zwar nicht ungeschehen, aber vielleicht hätte ich dann nicht diese Gedanken, die mich wachhalten.
Die Nächte sind schlimm – schlimm und leer. Schlafen kann ich nur wenig, denn da sind Gedanken und niemand, dem ich sie mitteilen könnte.
Manchmal bitte ich die Pfleger, die Vorhänge an den Fenstern geöffnet zu lassen. Ich mag es, wie die Sterne auf mich herabsehen. Als würden sie über mich wachen. Dort auf mich aufpassen, wo ich es nicht mehr selbst kann.
Manchmal mache ich das. An Tagen wie heute.
»Wenigstens einer«, hauche ich, als ich meine Gedanken an dieses Leben verdamme. Die Sterne glitzerten weiterhin geheimnisvoll.
Das hier, dieses Hospiz, ist kein schöner Ort zum Sterben. Meine Familie weiß das nicht. Sie denken, es ginge mir gut.
Aber wie kann es mir gut gehen, wenn die Welt stehenbleibt und die Zeit einfriert – und der einzige, der weiteratmet und dessen Existenz von der Gnade des Stroms und der Pfleger abhängt, ich bin?
Ich möchte ein letztes Mal im Leben allein laufen können – ohne einen Rollstuhl, den zu schieben mir die Kraft fehlt, oder einen Ergotherapeuten, der hinter oder neben mir läuft und mich stützt.
Aber ALS macht mir alles kaputt – genauso wie das Schicksal. Das Leben als Ganzes macht alles kaputt.
Allein laufen kann ich vergessen – genauso wie meinen Körper. Warum musste ausgerechnet ich chronisch erkranken? Ich bin dreiundzwanzig. Es trifft normalerweise nur Leute über fünfzig.
Am Anfang der Krankheit, kurz nach der Diagnose, vor vier Jahren, habe ich mich gefragt, warum ausgerechnet ich derjenige bin, der sterben soll. Warum es nicht jemand anderen hätte treffen können.
Vielleicht würde irgendwo dort draußen, in einem anderen Land, zu einer anderen Zeit, irgendjemand einmal das Glück haben, von der Krankheit geheilt zu werden.
Für die Dauer einer gewissen Zeit war ich mir sicher, dass der Tod, wie er mich treffen wird, fest in meinem Schicksal verankert war. Und deshalb habe ich es hingenommen. Weil es unumgänglich schien – und noch immer ist.
Aber jetzt bin ich nicht mehr so überzeugt. Im Gegenteil. Ich würde alles geben, um weiterzuleben und einmal die schönen Dinge des Lebens zu genießen.
»Wenigstens einer«, flüstere ich erneut und die Sterne über mir verblassen einen Moment als Zeichen des stummen Beileids.
Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.
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