2. Kapitel - Ungewohnt
Ich kneife die Augen zusammen und mustere den Jungen, der wie aus dem Nichts aufgetaucht ist. Oder ich habe einfach nicht bemerkt, dass er gekommen ist. Das ist wohl wahrscheinlicher, bei meinem Talent.
Auf jeden Fall hat er dunkelbraune, für einen Jungen ziemlich lange Haare- schulterlang um genau zu sein- und grüne Augen, die mich fröhlich und vielleicht etwas belustigt anblitzen.
"Ja.", sage ich etwas überfordert und kratze mich am Hals. "Wir sind gerade erst hier hergezogen.", setze ich dann hinzu, um wenigstens etwas zu sagen. Der Junge nickt und streckt mir seine rechte Hand hin.
"Dann freut es mich, dich kennenzulernen.", sagt er. Ich ziehe meine Hand aus meiner Jackentasche und ergreife seine, um sie kurz zu schütteln.
"Mich auch.", meine ich. Immerhin ist überhaupt jemand in diesem Ort. Und irgendwie wirkt der Junge schon ganz nett. Wenn auch auf seine eigene Weise.
"Ich bin Manuel. Oder Manu, so kannst du mich auch nennen."
"Melli.", erwidere ich lächelnd und wage dann noch mal einen Blick zu seinem Augen. Sie sind besonders, eindeutig. Ungewöhnlich intensives Grün, wie man es nur selten sieht.
"Melli.", murmelt er, legt den Kopf schief. "Wofür ist das eine Abkürzung? Melina? Melanie?" Ich lache auf und schüttele den Kopf.
"Leider nein, aber fast. Knapp daneben ist auch vorbei." Manuel ist immerhin nicht der erste, der das denkt. Vielleicht sollte ich mal damit beginnen, mich mit meinem ganzen Namen, also keinem Spitznamen, bei Leuten vorzustellen, die ich nicht kenne, damit könnte ich mir Erklärungen ersparen.
"Dann sag!", fordert er mich jetzt auf, doch ich verneine wieder.
"Ich hab' keinen Grund dafür.", sage ich nur, um ihn zu necken und schaffe es nicht, mir ein Grinsen zu verkneifen.
"Doch, ich glaube, du hast sehr wohl einen. Sonst nenne ich dich nämlich Melina." Ich puste eine nervige Haarsträhne aus meinem Gesicht und seufze, das ist ein Argument, kein schlechtes, wie ich zugeben muss.
"Melissa. Und wehe du nennst mich Melina, sonst machst du dir keine Freunde."
"Melissa.", wiederholt Manuel mit einem Grinsen. "Schöner Name."
"Ich muss jetzt aber auch schon wieder gehen, hab noch viel zu tun. Aber wir werden uns bestimmt bald wieder über den Weg laufen, schließlich wohnst du hier irgendwo in der Gegend."
Ach schade, gerade finde ich jemanden zum reden- vielleicht geht Manuel sogar auf meine Schule, das wäre echt praktisch- und dann muss er so schnell wieder gehen. Ich hätte mich gerne noch ein bisschen mit ihm weiter unterhalten, er scheint mir echt sympathisch. Aber kann ich wohl nicht ändern.
"Ja, klar. Tschüss!" Manuel ruft mir noch eine Verabschiedung zu, bevor er hinter der nächsten Ecke verschwunden ist. Zurück bleibe ein, sich langweilendes Ich, das definitiv keine Lust hat gleich noch Umzugskartons auszupacken, den Vlog zu machen oder irgendwas anderes zu tun.
Ich bleibe noch kurz stehen, stelle fest, dass das echt nicht besonders interessant ist und beschließe dann auch wieder nach hause zu gehen. Hoffentlich finde ich den Weg- wobei, ich bin höchstens zweihundert Meter gegangen, das traue ich mir schon zu.
Während ich also Richtung unseres neuen Hauses losgehe, hole ich mein Handy aus meiner Jackentasche, um die Uhrzeit nachzuschauen. 19:57. Warte, was? So spät schon? Nicht gut, ich erinnere mich grob daran, dass wir um halb acht essen wollten. Und ich habe nicht mal bescheid gesagt, dass ich weggegangen bin. Wie spät war es überhaupt, als ich losgegangen war? Ich habe die Zeit komplett aus den Auge verloren, na toll.
Ich beeile mich, ich bin zwar schon zu spät, aber viel später sollte ich auch nicht kommen. Auch wenn das mittlerweile wahrscheinlich keinen Unterschied machen wird, meine Mutter wird sich so oder so darüber aufregen. Zugegeben, verständlich.
Die letzte Straße zu unserem Haus sprinte ich, bin für eine Sekunde verwirrt, weil die Klingel nicht an ihrem richtigen Ort ist, bis mir einfällt, dass das nicht unser altes Haus ist.
Ich klingele, atme tief durch, da ich immer noch etwas außer Puste von meinem kleinen Sprint bin. Durch das Türglas erkenne ich die Umrisse meiner Mutter.
"Mel, wo zum Teufel bist du gewesen?!", schleudert sie mir die Worte förmlich entgegen, sodass ich kurz davor bin, einen Schritt zurück zu treten (was ich aus Höflichkeitsgründen letztendlich doch lasse).
"Ich hab mir eigentlich nur... die Gegend angeschaut...", erwidere ich wahrheitsgemäß.
"Wir wollten um halb acht essen, jetzt ist es schon nach acht. Du bist zu spät." Ach echt, darauf wäre ich nicht gekommen.
"Ja.", meine ich nur, um so einem Streit aus dem Weg zu gehen, meine Mutter lässt mich an ihr vorbei ins Haus gehen, ich höre sie seufzen. Hoffentlich regt sie sich nicht zu sehr auf, das würde mir gerade noch fehlen, ich kann echt auf Konflikte verzichten.
Ich lege meine Jacke ab und gehe dann in die Küche, wo mein Vater bereits am Esstisch sitzt und aus dem großen Fenster zur Terrasse schaut. "Da können wir uns im Sommer zusammen hinsetzen und essen.", hat er gesagt. Ich glaube, er ist wirklich stolz auf dieses Haus. Klar, es ist auch schön und alles... aber eben anders. Und ich muss mich erst daran gewöhnen in einem komplett neuen Haus aufzuwachen.
Wortlos setze ich mich auf den freien Platz, lasse meinen Blick über den Tisch gehen. Sonderlich viel Auswahl, was das Essen angeht, habe ich nicht. Es gibt nur ein paar Sachen, die wir von zuhause mitgenommen hatten, Brötchen, Aufschnitt, ein paar Flaschen Sprudelwasser und Toast für morgen früh. Morgen muss meine Mutter wohl einkaufen gehen. Oder sie schickt mich los.
"Wo warst du?", fragt mich jetzt auch mein Vater.
"Was hast du gemacht?", fragt mein Vater.
"Ich war draußen, hab mir die Nachbarschaft ein bisschen angeschaut und dann so einen Jungen getroffen, mit dem ich mich kurz unterhalten habe.", erkläre ich die zusammengefasste Version und zucke mit den Schultern.
Mein Vater nickt. "Nächstes mal könntest du uns aber bescheid sagen. Wir dachten schon, dass du wieder nach Magdeburg fliehen wolltest."
Er zwinkert mir zur, ich verdrehe nur die Augen. Haha. Bald mache ich das wirklich noch.
Als wir mit dem Abendbrot fertig sind, meine ich: " Ich geh' dann mal nach oben, ich habe noch nicht zu Ende ausgepackt.", stehe auf und stelle meinen Teller in den Geschirrspüler, weil ich keine Antwort bekomme, laufe ich einfach die Treppen nach oben in mein Zimmer.
Ich schaue mich zum tausendsten mal um, in der Hoffnung, es würde so 'normaler' werden. Ich kann mich einfach noch nicht mit dem Gedanken anfreunden, hier zu bleiben, wer weiß, wie lange. Mein Zimmer hier ist ein bisschen größer als in Magdeburg, aber durch die Unordnung wegen der Kartons, fällt das nicht so auf. Gegenüber von der Tür sind zwei Fenster, die geradewegs auf die Straße vor unserem Haus zeigen.
Ich löse mich von dem Anblick, das ist mir zu deprimierend und schließe die Tür. Am besten wäre es wohl, wenn ich den Vlog fertig drehen würde, sprich, die Kartons weiter ausräumen würde...- oder auch nicht, das Regal ist noch nicht aufgebaut. Ich wusste doch, dass da noch was war.
Und nein, heute werde ich bestimmt nicht mehr meinen Vater fragen, ob er mir hilft. Das muss dann eben morgen sein, ich bin jetzt eh zu müde.
Gestern war ich noch den ganzen Abend bei Mareike, wir wollten uns einfach nicht voneinander verabschieden. Ich kenne sie schon ewig, sozusagen mein ganzes Leben lang und wir sind fast Nachbarn. Waren, verbessere ich mich in Gedanken. Wir waren Nachbarn, bis heute morgen. Was ein Mist.
Mir fällt ein, dass ich Mareike noch eine WhatsApp schreiben wollte, das hatte ich völlig vergessen.
»Hey, bin mittlerweile angekommen, würde am liebsten wieder zurück...« Das stimmt. Wieder mal frage ich mich, was ich überhaupt hier soll, nichts hält mich hier. Ich bin siebzehn und habe die Schule in einem Jahr fertig, dann will ich sowieso wieder nach Magdeburg ziehen. Auch wenn ich noch nicht die geringste Ahnung habe, was ich danach machen will. Theoretisch könnte ich von YouTube leben, das wäre kein Problem. Wobei meine Eltern eindeutig dagegen sind. Zu unsicher, ich wäre von den Einnahmen abhängig, wenn ein Video nicht so gut ankommt oder mein Kanal Aufmerksamkeit verliert, wäre das problematisch. Ich kann meine Eltern verstehen, sie wollen eben, dass ich einen normaleren Job habe, studiere. Nur will ich das nicht.
Selbstständig sein. Das wollte ich mein ganzes Leben lang sein und jetzt habe ich die Möglichkeit dazu. Ich könnte das schaffen, bin mir aber nicht zu hundert Prozent sicher dabei. Noch habe ich Zeit zum Überlegen, zum Glück.
Geschafft setze ich mich auf mein Bett, muss zugeben, dass mir mein Zimmer schon irgendwie gefällt. Vielleicht ist es sogar ganz in Ordung so. Mein Zimmer meine ich, nicht, dass wir umgezogen sind. Es geht, ich kann mich nicht beschweren, auch wenn ein Teil von mir das dauerhaft will.
Nachdem ich ein Gähnen unterdrücken muss, beschließe ich, schlafen zu gehen, der Tag war echt anstrengend und heute werde ich sowieso nichts produktives mehr schaffen.
Ich mache mich schnell bettgehfertig, also umziehen, Zähne putzen und so und lege mich dann in mein Bett. Bevor ich das Licht ausschalte, gehe ich noch auf meinen Twitteraccount und schreibe, dass der Vlog erst morgen kommen wird.
Dann suche ich mir eine gemütlichere Position, kuschele mich in meine Decke und drücke auf den Lichtschalter. Und schon ist es dunkel. Ich bin müde, aber trotzdem schaffe ich es nicht einzuschlafen, was irgendwie komisch ist. In meinem Kopf kreisen Gedanken, die mich gegen meinen Willen wach halten.
Ich drehe mich auf die andere Seite, in der Hoffnung so besser einschlafen zu können. Fehlanzeige. Ich liege wach da und muss an zuhause, Magdeburg, denken.
Heute ne kurze Lesenacht!
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