Tag 8

Drei Tage sind vergangen, seit dem ich den Nervenzusammenbruch erlitten habe. Neben Sam sind meine Gedanken öfters mal zu Alex gewandert, wofür ich mich zumeist so geschämt habe, dass ich stumme Tränen in meinem viel zu harten Bett vergossen habe. Dabei sind die Gedanken nicht einmal schlimmer Natur gewesen. Eher habe ich mich ständig gefragt, was er vor drei Tagen bezwecken wollte.

Das erste Mal seit diesem Vorfall sehe ich mich einigermaßen bereit dafür, mein Zimmer zu verlassen. Ich sehne mich bereits danach, wieder Stifte in meinen Händen zu halten. In meinem eigenen Zimmer ist es mir verboten worden, zu malen, weshalb mir nichts anderes übrig bleibt, als endlich das Zimmer zu verlassen.

Es ist kurz nach fünfzehn Uhr, als ich den Aufenthaltsraum betrete. Die meisten heben nicht einmal den Kopf, doch zwei Augenpaare bemerken mich sofort. Sarah ist kurz davor etwas von sich zu geben, schließt jedoch wieder ihren vorlauten Mund. Ich weiß nicht genau, was sie dazu bewogen hat, mir keinen ihrer grandiosen Kommentare an den Kopf zu werfen. Vielleicht sehe ich ja genauso schlimm aus, wie ich mich innerlich fühle.

Ist es tatsächlich möglich, dass sie Mitleid mit mir hat?

Die hellen Augen der anderen Person habe ich mittlerweile so verinnerlicht, dass ich sie unter vielen Anderen erkannt hätte. In seinen Augen liegt so viel Reue, dass ich ihn nicht weiter ansehen kann, schnell an ihm vorbeigehe und mich an meinen Tisch am Fenster setze. Ich schwöre mir, nicht mehr aufzublicken, komme was wolle.

Ein Blick aus dem Fenster genügt, um den sonnigen Spätsommertag erahnen zu können. Ich erinnere mich daran, wie der Sommer einst meine liebste Jahreszeit gewesen ist, doch diese Zeiten sind schon lange vorbei.

Seufzend erhebe ich mich wieder von meinem Platz und gehe zu dem Tisch mit den Malutensilien. Wie immer bediene ich mich an dem Papierstapel und an den braunen Wachsmalstiften, bis ich mich wieder zurück an den Tisch setze.

Wie gewohnt beginne ich mit den Konturen, die bereits aus Gewohnheit ziemlich schnell zu Papier gebracht werden. Bevor ich jedoch weiter ins Detail gehen kann, spüre ich mich durchbohrende Blicke. Meinem Entschluss zum Trotz blicke ich zu dem Augenpaar, das für dieses Gefühl verantwortlich ist.

Alex blickt mich immer noch voller Reue und Selbsthass an und ich kann nicht anders, als mich schlecht zu fühlen. Das Letzte, was ich will, ist jemanden wegen mir leiden zu sehen. Deshalb tue ich etwas, was ich schon lange nicht mehr gemacht habe.

Meine Lippen formen sich zu einem aufrichtigen Lächeln. Zu erst fühlt es sich falsch an, da mir die Übung dafür gänzlich fehlt, doch ich zwinge mich dazu, es ihm zuliebe durchzuhalten. Alex sieht mich etwas verwirrt an, lächelt dann aber ebenso strahlend zurück. 

Meine innere, gehässige Stimme meldet sich kurz danach wieder.

Schämst du dich denn eigentlich nicht? Hör sofort auf damit!

Beschämt wandert mein Blick wieder zurück zu dem Stück Papier und ich zwinge mich dazu, mich wieder dem Malprozess zu widmen. Dies ist leichter gesagt als getan, als der durchdringende Blick immer noch nicht von mir ablässt.

Es sind Schritte, die sich mir langsam nähern, die mein Herz langsam zum Rasen bringen. Meine Vermutung findet Gewissheit, als ich das Quietschen des Stuhls gegenüber von mir höre. Meine Atmung beschleunigt sich und ich merke, wie ich mich auf dem Holzstuhl gänzlich zurücklehne, um so viel Abstand wie möglich zwischen uns zu bringen.

Etwas ängstlich blicke ich auf in Alex' Gesicht. Meine Hände umklammern die Tischplatte, da ich einfach nicht weiß, wie ich mit dieser Situation umgehen soll und was mich erwartet.

"Bitte, lauf nicht weg."

Es ist der flehende Unterton in seiner Stimme, der mich tatsächlich etwas entspannen lässt. Die verkrampften Hände lösen sich etwas und ich traue mich, ihm wieder ins Gesicht zu sehen. Seit dem letzten Mal, als ich ihn gesehen habe, hat er wieder etwas mehr Farbe im Gesicht und der traurige Zug um seinen Mund ist fast gänzlich verschwunden. Alleine seine Augen deuten darauf hin, wie schwer die Last auf seinen Schultern liegt.

"Ich wollte mich noch einmal bei dir entschuldigen für... du weißt schon. Ich hätte nicht gedacht, dass du das so falsch aufnehmen würdest. Aber ich habe jetzt begriffen, warum du das tust, nachdem ich dein Zimmer gesehen habe."

Bevor er weitersprechen kann, spüre ich, wie sich meine Hand reflexartig erhebt und sich vorsichtig auf seine legt. Sein Blick spiegelt genau die Überraschung wider, die ich gerade über mich selbst empfinde. Jedenfalls ist sein Wortschwall versiegt. So schnell wie die Hand auf seine gegangen ist, nehme ich sie auch wieder weg und widme mich wieder dem Bild. Ich hoffe einfach, dass er es dabei belässt und wir die Situation einfach vergessen können. Eine Sache, die er gesagt hat, lässt mir jedoch keine Ruhe.

Er begreift jetzt, warum ich das tue.

Ich merke, wie meine Mundwinkel zu zucken beginnen bei dem Gedanken, dass er denkt, er hätte mich durchschaut. Dieser Gedanke ist so lustig, dass ich innerlich tatsächlich etwas darüber schmunzle. 

Wie kann er begreifen, warum ich das tue, wenn noch nicht einmal ich den Grund dafür greifen kann?

Als ich erneut aufblicke, stelle ich fest, dass er mich immer noch ansieht. Ein weiterer Gedanke lässt mich seit meinem Nervenzusammenbruch nicht mehr in Ruhe und ich spüre, dass ich die Antwort dafür dringend brauche.

Ich nehme das leere Blatt und schreibe mit den Wachsmalstiften genau fünf Buchstaben dahin.

Warum

Überraschung liegt in seinem Blick, als er mich ansieht. Er braucht einige Sekunden, um seine Überraschung zu unterdrücken und mich zu mustern.

"Möchtest du wissen, warum ich dich gemalt habe?", fragt Alex vorsichtig, so als hätte er Angst, dass ich wieder aufgewühlt aufspringen könnte. Ich verüble ihm diese Annahme noch nicht einmal, da dies tatsächlich immer noch im Bereich des Möglichen liegt.

Statt ihm seine schlimmste Befürchtung zu erfüllen, nicke ich bestätigend. Er nimmt sich einige Zeit, um über seine nächste Antwort nachzudenken.

"Ich wollte es auch mal ausprobieren. Du siehst dabei immer irgendwie... zufrieden aus. Und du warst einfach ein gutes Model. Es tut mir wirklich Leid, ich hätte dich vorher fragen müssen."

Als einzige Antwort erhält er ein Nicken meinerseits und ich widme mich wieder dem Bild vor mir. Bevor ich jedoch mehr als drei weitere Linien zeichnen kann, spricht Alex erneut.

"Darf ich dir eine Frage stellen?"

Neugierig blicke ich zu ihm auf.

"Weißt du? Wahrscheinlich geht es mich auch wirklich nichts an und wenn du nicht möchtest, ignoriere diese Frage einfach, okay?"

Anscheinend will er auf Nummer sicher gehen und erst eine Bestätigung meinerseits abwarten, bis er die eigentliche Frage stellt. Ein leichtes Nicken scheint ihm als Bestätigung auszureichen.

"Ist er der Grund, warum du hier bist?"

Mit einem Kopfnicken deutet er auf die Zeichnung vor ihm. Selbst ein Jahr nach dem Vorfall kann ich die Bilder nicht mehr unterdrücken, die sich vor meinem inneren Auge auftun.

Sams Körper auf dem kalten, nassen Asphalt. Die Lache, die sich neben seinem Körper gebildet hat. Die letzte gehauchte Liebeserklärung, die er an mich gerichtet hat.

Und alles nur deinetwegen!

Mit einem Kopfschütteln entreiße ich mich wieder den bösen Gedanken, die mich in den Abgrund ziehen wollen. Der neugierige Blick von Alex bringt mich wieder zurück in die Gegenwart. Obwohl ich ihm keine Antwort schuldig bin, beantworte ich seine Frage mit einem Nicken. Ich kann ihn nicht länger ansehen. Mein Blick wandert deshalb auf die andere Seite des Raumes, wo Frau Dr. Kant durch die Glasscheibe zu Alex und mir herüberschaut.

Bevor ich sie fragend ansehen kann, ist sie bereits verschwunden.

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