Tag 27
Obwohl wir beide so tun, als ob uns ein baldiger Abschied nicht bevorsteht, überrascht es mich kein bisschen, als der Morgen unseres Abschieds anbricht und ich schlaflos auf das Unausweichliche warte. Seit unserer Umarmung vor zwei Tagen fühle ich mich ihm näher, wie ich es mir nach dem Unfall nicht mehr zugetraut hätte.
Ich beschließe, die ruhigen Stunden zu genießen und mich aus meinem Zimmer zu schleichen, um zu der Fensterbank zu gehen.
Vielleicht habe ich ja Glück und Alex hat genau die gleiche Idee.
Leider ist dem nicht so. Die Fensterbank ist leer. Kein Kissen ist darauf platziert. Dieses Mal hole ich mir kein Kissen. Ich genieße die Kälte der Fensterbank, die mich im Hier und Jetzt hält. Von gestern liegt immer noch das Papier und die Stifte neben mir, die ich kurzerhand ergreife.
Mein erster Gedanke ist es, eine weitere Skizze des Gartens zu machen, doch bereits bei den ersten Strichen wird mir bewusst, wie meine Gedanken immer wieder zu einem hellen Paar Augen wegdriften. Unbewusst fange ich an, die Konturen seiner Lippen aus meiner Erinnerung nachzumalen. Wie von Zauberei geleitet male ich als nächstes die Konturen seines Gesichts und die Locken, die seinen Kopf zieren. Erst als ich seine Augen fertig skizziert habe, wird mir bewusst, was ich gerade tue.
Habe ich gerade tatsächlich Alex gezeichnet?
Tatsächlich sind die einigen Striche der Landschaft schnell von anderen Strichen überschattet worden. Mir stockt das Herz. Die Erkenntnis ist so heftig, dass ich fast von der Fensterbank falle.
Wann ist das denn passiert?
Ich habe Alex in mein Herz gelassen. So langsam und unauffällig hat er sich langsam einen Platz erschlichen, den ich nie wieder jemandem gewähren wollte.
Tränen steigen mir in die Augen und ich weiß, dass ich jeden Moment anfangen werde, zu weinen. Ich blicke aus dem Fenster in den noch dunklen Garten und denke unentwegt an die Konsequenzen, die sich durch diese törichte Unaufmerksamkeit ergeben.
In der Weite kann ich Wolken erkennen und wie so oft bei dem Anblick frage ich mich, ob Sam wohl gerade da ist und auf mich aufpasst. Plötzlich verspüre ich das Bedürfnis, mit ihm zu reden. Was ich mir davon erhoffe, weiß ich nicht, doch ich spüre einfach, dass ich es tun muss, um endlich Frieden zu schließen.
Hallo Sam, hallo Liebster,
entschuldige bitte diese Störung. Du musst dort oben bestimmt viel beschäftigt sein als Schutzengel für die Kleinen und Wehrlosen.
Ein leichtes Lächeln legt sich über meine Lippen.
Ich weiß, dass ich schon lange nicht mehr zu dir gesprochen habe und es tut mir schrecklich Leid. Es fällt mir immer noch so schwer, an dich zu denken, ohne direkt die schlimmsten Emotionen zu spüren.
Ich wische mir eine Träne aus dem Gesicht.
Weißt du, was das Schlimmste ist? Wir haben noch nicht einmal die Zeit gehabt, uns zu verabschieden. Und das zerreißt mich jeden Tag aufs Neue.
Ich beobachte die Wolken dabei, wie sie langsam weiterziehen.
Im Inneren weiß ich, dass du mir niemals die Schuld dafür geben würdest, was damals passiert ist. Du hast immer nur das Gute in mir gesehen. Oft frage ich mich, wie unser beider Leben jetzt wäre, wenn wir eine Chance bekommen hätten.
Wie oft ich schon die Szenarien in meinem Kopf habe abspielen lassen, kann ich wirklich nicht sagen.
Hätten wir glücklich unserer Abschlussprüfung entgegen gefiebert und Pläne vom Zusammenziehen gehabt? Oder hätten wir uns auseinandergelebt und wären getrennte Wege gegangen? Das ist das Schlimmste. Dieser Gedanke an eine Zukunft, die es nie geben wird.
Ich umklammere meinen Körper, so als hätte ich Angst, dass ich jeden Moment in viele einzelne Stücke zerspringen könnte.
Sam... es tut mir so Leid, was damals passiert ist. Und ich werde mir selbst nie vergeben, was damals passiert ist. Aber... ich habe da jemanden kennengelernt. Bitte, versteh mich nicht falsch. Ich könnte ihn nicht so lieben wie dich, niemals. Ich weiß noch nicht einmal, was das ist, was ich für ihn empfinde. Aber ich kann nicht zusehen, wie ein weiterer mir wichtiger Mensch aus meinem Leben verschwindet. Auch wenn du mir nicht antworten kannst, so hoffe ich doch, dass du mir dein Einverständnis gibst.
Weiter gehen meine Gedanken nicht, da die Angst, gleich den Zorn Gottes zu spüren, mir die Worte nimmt.
Als sich einige Sekunden später Sonnenstrahlen ankündigen und mir schwach entgegen lächeln, kann ich nicht anders, als der Sonne ebenfalls entgegen zu lächeln.
Ich danke dir, Sam. Ich werde dich immer lieben!
Bevor mir überhaupt bewusst wird, was ich tue, mache ich mich mitsamt Zeichnung auf zu Alex' Zimmer. Ich muss ihm einfach vor meinem Abschied sagen, wie wichtig er mir ist, bevor ich ihn für immer verliere.
Erschrocken muss ich feststellen, dass seine Zimmertür geöffnet ist und das Zimmer bereits geräumt wurde.
Das kann doch nicht wahr sein. Ich bin zu spät.
So leicht will ich jedoch nicht aufgeben und renne zu dem Aufenthaltsraum. Erleichtert atme ich auf. Tatsächlich sehe ich Alex, Frau Dr. Kant und zwei weitere mir unbekannten Personen in dem Raum stehen. Alex diskutiert wild mit den zwei Personen, die ich als seine Eltern identifiziere. Noch hat mich keiner bemerkt. Ich öffne die Tür, als mich die Worte der Frau erreichen.
"Alexander, das kann doch nicht dein Ernst sein! Du gehörst ganz sicher nicht zu solch einem Ort und schon gar nicht brauchst du Freunde, die solche Probleme haben!"
In dem Moment wäre ein harter Schlag in den Magen wahrscheinlich weniger schmerzvoll gewesen. Ich weiß, dass sie mich damit meint, denn außer mir hat Alex sich hier niemandem anvertraut. Wie angewurzelt bleibe ich stehen.
"Du hast doch überhaupt gar keine Ahnung, wovon du da sprichst, Mutter. Ich werde mich doch wenigstens von ihr verabschieden können!"
Die Wut in Alex' Worten wird durch seinen wütenden Gesichtsausdruck untermauert. Mit einem Räuspern mache ich mich bemerkbar und gehe selbstbewusst auf die Personen im Raum zu.
"Lucy."
Es ist nur ein gehauchtes Wort und doch bedeutet es so viel mehr. Müde Augen blicken mir entgegen. Er hat also auch nicht schlafen können. Bevor auch nur einer von uns ein Wort sagen kann, überreiche ich ihm das Blatt Papier in meiner Hand. Er blickt abwechselnd von mir zu der Zeichnung.
Der Blick, den er mir als nächsten schenkt, ist Antwort genug. Dankbar schließt er mich in eine feste Umarmung, auf die ich mich das erste Mal voll und ganz einlasse. Dieses Mal bin ich es, die seinen schluchzenden Körper halten muss. Im Hintergrund höre ich bereits, wie seine Eltern ungeduldig auf ihn einreden, doch noch wollen wir uns nicht trennen.
Irgendwann spüre ich, wie andere Hände versuchen, uns voneinander zu trennen und ich weiß, dass ein baldiger Abschied unausweichlich ist. Mit einem letzten festen Druck lehne mich zu seinem Ohr. Nur für ihn hörbar schenke ich ihm das wertvollste Geschenk, das ich jemals einem Menschen anvertraut habe.
"Warte auf mich."
Ich hoffe ihr hattet beim Lesen genauso viel Spaß wie ich beim Schreiben. Vielleicht sieht man sich ja noch einmal in einer anderen Geschichte wieder.
Bis dahin wünsche ich euch alles Liebe und gaaanz viel Glitzer in eurem Leben.
- federwunsch ❤️
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top