Tag 2
Am nächsten Tag beim Mittagessen überrascht es mich nicht, als der Stuhl vor mir weg geschoben wird und Alex sich da dran setzt. Er scheint nicht sonderlich begeistert von dem Mahl zu sein, das sich auf seinem Tablett befindet.
"Na dann guten Appetit!"
Ich selbst schaue auf meine Lasagne, die ich kaum angerührt habe. Manche Speisen sind hier wirklich gut, doch Lasagne zählt eindeutig nicht dazu. Außerdem habe ich sowieso nicht sonderlich viel Hunger. Der Appetit ist mir bereits seit Monaten vergangen.
"Ich bin jetzt schon seit zwei Wochen hier, falls es dich interessiert."
Wie schon viele vor ihm versucht Alex mich aus der Reserve zu locken, doch mein Blick bleibt auf das Tablett vor mir gerichtet. Die Lasagne werde ich jedenfalls nicht mehr essen. Ob der grüne Wackelpudding noch meine Aufmerksamkeit erregen wird, kann ich nicht sagen.
"Die erste Woche war ich so mit Medikamenten vollgepumpt, dass ich fast nur geschlafen habe."
Obwohl ich es niemals zugeben würde, hat er doch meine Neugier geweckt und ich blicke zu ihm auf.
"Nach einer depressiven Phase haben meine Eltern sich dazu entschlossen, mich hierher zu schicken. Die Medikamente und die Psychotherapie allein haben ihnen wohl nicht gereicht, um meine bipolare Störung zu akzeptieren."
Alex wirkt ziemlich genervt. Vielleicht ist es auch die Enttäuschung bezüglich seiner Eltern, die ich da heraushöre. Alles in meinem Körper sträubt sich dagegen, auch nur an das Wort Eltern zu denken. Unruhig fange ich an, mit den Füßen imaginäre Kreise auf dem Boden nachzuziehen.
"Ich verstehe überhaupt nicht, was dieser ganze Aufriss soll. Jeder hat doch mal schlechte Tage, oder nicht?"
Das erste Mal seit seinem Monolog blickt er mir in die Augen und erwartet eine Antwort meinerseits, die er jedoch nicht bekommt.
"Okay... manche haben eben mehr schlechte als gute Tage."
Ich kann seinem müden Blick nicht länger stand halten und schaue wieder zurück auf das Tablett. Der grüne Wackelpudding lächelt mich immer noch an und ich beschließe, ihm eine Chance zu geben.
"Ich weiß ja, dass es für dich ein sensibles Thema ist, aber kommunizierst du überhaupt? Ich meine, wie läuft denn bei dir solch eine Sitzung bei der guten, alten Frau Dr. Kant ab?"
Das Augenrollen kann ich nicht unterdrücken. Am Anfang meines Aufenthalts hier haben mir viele diese Frage gestellt und keiner von ihnen hat eine Antwort erhalten. Es ist ja schließlich nicht so, dass es meine eigene Wahl ist, nicht mehr zu sprechen. Vielmehr bin ich es Sam und all meinen Nächsten schuldig. Alex' Lachen holt mich wieder zurück in die Gegenwart.
"Also ein Augenrollen ist bei dir eine Art der Kommunikation, ich verstehe."
Seine Aussage ist so banal, dass ich merke, wie meine Mundwinkel zucken.
"Ist das etwa ein Lachen, das sich dort anbahnt?"
Ein Augenrollen ist meine Antwort darauf, woraufhin Alex in schallendes Gelächter ausbricht. Sein Lachen ist so laut, dass die schizophrene Anastasia am Tisch nebenan ebenfalls anfängt zu lachen. Mein Wackelpudding ist alle, als Alex sich langsam wieder beruhigt hat. Bevor er wieder zu einem erneuten Monolog ansetzen kann, erhebe ich mich samt Tablett und beschließe, zurück in mein Zimmer zu gehen. Für heute habe ich eindeutig genug geredet.
Als ich mein Zimmer betrete, sind es die vielen Zeichnungen von Sam, die ich als Erstes bemerke. Jedes Mal aufs Neue hasse ich mich dafür, dass ich kein einziges Mal die Augen richtig hinbekommen habe und der Drang, einen neuen Versuch zu starten, nimmt zu. Wie ich das sehe, habe ich genau zwei Möglichkeiten. Entweder, ich bleibe in meinem Zimmer und vergehe vor Schuldgefühlen oder ich gehe in den Aufenthaltsraum auf die Gefahr hin, dass Alex wieder einen Monolog mit mir führen will.
Ich lege mich auf die harte Matratze und schließe die Augen.
Vielleicht habe ich ja Glück und schlafe einfach ein.
Einige Sekunden später habe ich jedoch Schuldgefühle deswegen.
Findest du nicht, du hattest schon genug Glück? Frag doch mal Sam, was er dazu sagt. Ach ja, richtig, du kannst ihn ja gar nicht mehr fragen!
Wie von der Tarantel gestochen springe ich vom Bett und gehe auf die Tür zu. Ich muss einfach irgendetwas tun, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Der Aufenthaltsraum ist relativ leer, was ich sehr begrüße. So gut wie jeden Tag gehe ich zuerst zu dem Tisch mit den Malutensilien und hole mir genau zwei Blätter Papier. Eines zum Kritzeln und eines für die eigentliche Zeichnung. Danach hole ich mir Wachsmalstifte, die noch einigermaßen spitz sind, um mich dann schließlich an den kleinen Tisch am großen Fenster zu setzen.
Heute ist es leider ziemlich bewölkt draußen, was die Wahrscheinlichkeit, eine gute Zeichnung von Sam zu malen, ziemlich klein werden lässt, denn die Beleuchtung in diesem Zimmer ist mehr schlecht als recht. Trotzdem muss ich es probieren.
Wie bei jedem neuen Versuch rufe ich sein Bild aus einer Erinnerung auf und stelle ihn mir genau vor. Die Umrisse malen sich mittlerweile fast wie von selbst. Jedes Mal, wenn ich eine Zeichnung von ihm mache, fühle ich mich ihm besonders nahe. Er hat meine Zeichnungen immer bewundert.
Die Zeit habe ich bereits total verdrängt. Erst, als es immer dunkler in dem Raum wird, merke ich, wie spät es bereits ist.
"Lange hat er es ja nicht mit dir ausgehalten!"
Es ist Sarahs selbstgefällige Stimme. Sie hat es noch nicht einmal für nötig gehalten, aufzustehen, schreit diesen Satz lieber durch den gesamten Raum, sodass es wirklich jeder der hier Anwesenden mitbekommt.
Als ob sich irgendjemand dafür interessieren würde.
Ich ignoriere sie so gut es geht, doch tatsächlich frage auch ich mich, warum Alex nicht aufgetaucht ist. Vielleicht hat er mal einen Tag für sich gebraucht, was ich ganz gut nachvollziehen kann, vor allem wenn man hier neu ist.
Und die einzige Person, mit der er reden möchte, nicht mit ihm redet.
Jedenfalls geht es mich auch überhaupt nichts an. In ein paar Minuten würde es Abendessen geben und nach meinem kargen Mittagessen freut sich mein Magen bereits darauf, etwas Anständiges zu sich zu nehmen.
Vielleicht wird Alex ja zum Abendessen erscheinen.
Doch ich habe mich geirrt.
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