Kapitel 28
Jede einzelne Faser meines Körpers fühlt sich unglaublich träge und komisch an, während sich langsam meine Augen öffnen.
Ehrlich gesagt hätte ich nicht damit gerechnet weiterhin Bewohnerin des Planeten Erde zu sein, denn wenn mich jemand fragen würde, wie es sich anfühlt in den Tod zu gleiten, würde ich mit dem Moment in der vorigen Nacht antworten.
Da dies jedoch nicht der Fall ist, kann der wahre Tod nur noch schlimmer werden, also jeder Grund zur Freude.
Einige dieser komischen Flecken tanzen vor mir herum, da ich mich erst an das helle Licht gewöhnen muss und generell ist meine Orientierung nicht gerade auf Vordermann.
Die Erinnerungen an die Nacht überkommen mich wie eine meter hohe Welle und reißen mich hinunter auf den Grund des Meeresboden. Und dann kommen die Erinnerungen an Luke und den Kuss dazu und ich drohe wieder zu ertrinken.
Die Atemmaske auf meinem Mund nimmt meinen armen Lungen einige Arbeit ab, doch mein Körper scheint weder in der Lage zu sein genug Sauerstoff in meine Lungen zu transportieren, noch irgendetwas anderes zu tun. Es fühlt sich so an als könnte ich mich auch sonst nie wieder bewegen. Als wäre ich nicht der Herr meines eigenen Körpers.
Außerdem fühlt sich meine Kehle unheimlich trocken und kratzig an, sodass ich am liebsten zum Kamel mutieren und 200 Liter Wasser trinken würde.
Meine Augen haben sich mittlerweile endlich an den neuen Anblick gewöhnt, jedoch stockt mir erneut der Atem.
Ein Sternenhimmel, direkt über mir.
Und es ist unverkennbar, dass er von keinem geringerem als Picasso höchstpersönlich stammt und dadurch eine winzige Träne aus meinem Augenwinkel löst.
Normalerweise bin ich nicht so emotional, das muss an den Medikamenten liegen, die wahrscheinlich auch daran schuld sind, dass ich nicht nur keine Schmerzen spüre, sondern absolut gar kein Körperteil mehr.
Er muss also hier gewesen sein. Ich hab zwar noch in keinen Spiegel geschaut, doch wenn ich es tue verliere ich sicherlich wieder das Bewusstsein. Wer weiß, vielleicht liegt Luke hier auch irgendwo auf der Station, nachdem er mich so gesehen hat.
Die Tür zu meinem Krankenzimmer, in dem ich anscheinend alleine liege, öffnet sich und meine Mama tritt mit einer Tasse Tee hinein. Erst scheint sie nicht zu bemerken, dass ich wach bin, doch dann lässt sie fast die Tasse fallen.
„Kate! Mein Liebling! Du bist wach!"
Sie kommt an das Bett heran gestürmt, streicht mir durchs Haar und drückt mir einen dicken Schmatzer auf die Stirn, wodurch ich mich wieder wie ein vierjähriges, kleines Mädchen fühle. Unter ihren Augen zeichnen sich tiefe, dunkle Ringe ab, sie sieht aus als hätte sie tagelang geweint und wenn ich mich nicht irre, hat sie sogar stark abgenommen. Sie wirkt älter und kraftlos und das ist alles nur meine Schuld.
„Nein, eigentlich tue ich nur so. Das ist alles nicht real."
Meine Stimme hört sich rau und schwach an, so wie ich mich momentan auch fühle. In den Blick meiner Mutter tritt etwas empörtes, aber gleichzeitig erleichtertes.
„Scheinst ja wieder ganz die Alte zu sein."
Sie grinst mich an, doch gleichzeitig kullern ihr einige Tränen die Wangen herunter. Wahrscheinlich aus purer Erleichterung, dass ich überhaupt noch lebe. Ich meine das hätte es endgültig mit mir sein können.
Ich will mir gar nicht vorstellen was meine Eltern in diesen Stunden, Tagen oder Wochen durchmachen mussten. Da fällt mir mal auf, dass ich keinen Plan habe, welcher Tag heute ist.
„Also ich bitte dich! Ich bin vielleicht so gut wie tot, aber alt ganz sicher nicht!", wobei ich versuche so empört wie möglich zu klingen.
Eine weise Dame, sagte einmal, dass Humor die beste Medizin ist. Ganz eventuell war das ich selbst. Aber nur eventuell.
Ob Mama, die den super Witz anscheinend nicht so lustig fand, es ebenfalls so sieht ist natürlich die andere Frage, die wir jetzt aber mal unbeantwortet so stehen lassen wollen.
„Du hast sechs Tage geschlafen. Papa ist im Moment zu Hause duschen, er müsste gleich da sein. Und Doktor Carter dürfte auch gleich da sein."
Sie nimmt meine Hand in ihre und streicht mit ihrem Daumen sanft über meinen Handrücken. Körperkontakt war noch nie eine Vorliebe von mir gewesen, doch das hier liebe ich schon immer. Es hat etwas beruhigendes an sich. Etwas Hoffnung spendendes.
Wie aufs Stichwort spaziert Herr Carter herein, doch sein Gesichtsausdruck lässt alle Hoffnung vom einen auf den anderen Augenblick verpuffen.
Sein Blick ist auf den Boden gesenkt und besorgt, während die Mundwinkel tiefer als die Falten meiner Großmutter sind.
„Guten Tag."
Der mitleidige Unterton in seiner Stimme weist mich darauf hin, dass ich mich besser auf eine Hiobsbotschaft vorbereiten sollte. Und zwar auf eine riesige.
„Hast du momentan schmerzen?"
„Nicht wirklich, aber sie haben mich wahrscheinlich von vorne bis hinten mit Schmerzmittel zugedröhnt. Ich spüre nämlich gar nichts mehr."
Seine Mundwinkel heben sich kurz an, nur um kurz darauf doppelt so tief wieder zu sinken.
„Du hattest ein Lungenödem, wir konnten es jedoch erfolgreich entfernen. Natürlich haben wir daraufhin einige weitere Untersuchungen durchgeführt, weil mich und meine Kollegen die plötzliche Verschlechterung deines Zustandes doch sehr überrascht hat."
Es folgt eine lange, dramatische Pause, die er dazu nutzt schwer zu schlucken.
„Ich-... Ich muss dir leider mitteilen, dass der Tumor gestreut hat und das nicht nur auf ein weiteres Organ. Es besteht die Möglichkeit trotzdessen eine Chemotherapie durchzuführen, um deine Lebenserwartung etwas zu erhöhen, jedoch kann ich für nichts garantieren..."
Die Informationen sickern langsam zu mir hindurch bis sie wie eine Atombombe einschlagen. Plötzlich und alles zerstörend.
Bis vor kurzem war alles nur theoretisch. Die Möglichkeit bestand zwar, dass ich sterben könnte, jedoch bestand genau so die Möglichkeit wieder gesund zu werden. Ein normales Leben früheren zu können. Überhaupt leben zu können.
Ich hatte Hoffnung, auch wenn ich es mir selbst nie eingestanden habe, denn es ist besser erst gar keine Hoffnungen zu haben, als dass sie dann alle zerstört werden. Und genau das tritt jetzt ein.
Jetzt ist nicht mehr die Frage ob ich es schaffe, sondern wie lange noch.
Ich fühle mich als würde ich mich in einem kleinen Raum befinden, in dem sich die Wände aufeinander zu bewegen. Sie bewegen sich schleichend langsam aufeinander und auf mich zu, doch ich weiß, dass ich sie nicht aufhalten kann. Dass es keine Möglichkeit gibt zu entkommen. Dass ich die restliche, quälende Zeit aushalten muss, mit dem Wissen, dass ich sehr bald bei lebendigem Leibe zerquetscht werde. Doch das trifft es nicht ganz.
Ich habe mal gelesen, dass wir um Schmerz zu beschreiben Metaphern nutzen, da man Schmerz nicht normal beschreiben kann. Aber gerade kann keine Metapher wirklich ausdrücken, welcher Schmerz mich von innen in kleine Stücke zerreißt.
„Ich will keine Chemo."
Ich höre mich erschreckend emotionslos an, während Mama weinend und schluchzend neben mir sitzt. Herr Carter hat es ihr wahrscheinlich schon vorher erzählt.
„Denk doch bitte nochmal drüber nach, Liebling!"
„Nein. Ich will sie nicht. Das würde nichts besser machen."
Ich möchte nicht noch länger in diesem Raum stehen. Nicht noch länger mit der Angst leben. Nicht noch länger mit den Schmerzen leben. Generell nicht mehr mit dieser beschissenen Krankheit leben.
„Wie lang habe ich noch?"
„Ich kann es nicht genau sagen. Vielleicht zwei Monate, vielleicht aber auch acht. Es tut mir unglaublich leid."
Doktor Carter senkt wieder den Blick zu Boden und verlässt still den Raum.
Es legen sich tonnenschwere Gewichte auf meine Brust und die Luft ist zu dünn um zu Atmen.
Das ganze Wasser scheint wieder in meine Lungen zu laufen und mich zu ertränken. Meine Gedanken ertränken mich. Meine Gefühle. Einfach alles.
Ich könnte Schwimmflügel gebrauchen, doch wahrscheinlich bin ich aus dem Alter raus. Jetzt muss ich es alleine schaffen.
Papa betritt nun den Raum und erkennt scheinbar sofort was los ist. Auch er sieht nicht viel besser aus meine Mutter.
Er nimmt Mama fest in den Arm versucht sie zu trösten und redet gleichzeitig auf mich ein, doch ich bin damit beschäftigt mir einzureden, dass es okay ist. Dass es okay wird.
„Ich wäre gerne etwas alleine. Ihr solltet nach Hause gehen und euch ausruhen."
Nach größerem Widerstand meiner Eltern, gehen sie und lassen mich alleine. Geben mir mehr Raum zum Atmen, doch trotzdem ändert es nichts.
Nichts kann diesen Zustand, diese Situation so verändern, dass das Ende manipuliert wird. Niemand kann das, denn das Ende sieht für jeden einzelnen von uns gleich aus. Es stellen sich nur die Fragen wann, wo und wie. Und die Frage des großen „Warums" lässt sich mit: „Weil wir alle sterben müssen", beantworten.
Mittlerweile ist es dunkel. Ich brauche frische Luft. Ich weiß, dass ich hier bleiben sollte, aber ich brauche sie dringend.
Ich befreie mich von den ganzen Geräten und entdecke eine schwarze Tasche in der Ecke, aus der ich mir Kleidung ziehe. Ein letzter tiefer Atemzug mithilfe der Atemmaske und ich schleiche mich aus dem Zimmer.
Ich brauche mehr Raum, mehr Unendlichkeit, auch wenn mir Luke mit dem Sternenhimmel eine kleine Unendlichkeit geschenkt hat. Wenn mir Luke mit seiner puren Anwesenheit eine kleine Unendlichkeit geschenkt hat.
Doch ich brauche eine größere. Ein echte Unendlichkeit.
Ich kann glücklicherweise unbemerkt aus dem Krankenhaus entkommen.
Da ich letztens den Bus hierher genommen hatte, weiß ich wo die nächste Bushaltestelle ist und laufe zu dieser. Der nächste Bus zu meinem Ziel lässt nicht lange auf sich warten, woraufhin ich dort einsteige.
Die Menschen um mich herum betrachten mich auffällig und komisch, obwohl sie wahrscheinlich denken man würde ihre Blicke nicht bemerken. Sie sind blind für die Wahrnehmung des anderen.
Ich sehe höchstwahrscheinlich wie eine Irre, die aus der Geschlossenen ausgebrochen ist aus, doch anscheinend ist ihr Glückstag, denn ich habe nur Krebs. Eine Menge, aber immerhin nur Krebs.
Der Bus hält. Sobald ich aussteige streift mir die kalte, frische Winterluft um die Nase. Der Himmel ist wunderbar klar und die Sterne leuchten so hell wie noch nie. Eine größere Unendlichkeit umgibt mich und die nächste Unendlichkeit befindet sich wenige Meter vor mir.
Der Ort ist der gleiche wie vor ein paar Monaten, doch alles andere hat sich geändert. Die Umstände, die Zeit, die Diagnose und diesmal ist auch kein Picasso in Sicht. Jetzt ist es letztendlich.
Ich mach es genau wie damals. Ich klettere aufs Geländer, breite die Arme aus, atme tief durch und lausche dem rauschenden Wasser unter mir. Und das ist der Moment, in dem es mir erst so richtig klar wird.
Ich werde sterben.
Endlich habe ich es auch nochmal geschafft hier ein neues Kapitel zu schreiben...
Falls ihr es noch nicht getan habt, schaut doch mal gerne bei meiner neuen Geschichte „Elea" vorbei hehe :)
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