Teil 6 Etwas beginnt - Tim und Judith I

Weiter geht es nach Berlin. Hier treffen wir die junge Lehrerin Judith und den Medizinstudenten Tim.

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Judith hetzte aus dem Schulhaus.
Verdammt!
Die Konferenz hatte sich wieder in die Länge gezogen.
Sie wäre fast geplatzt.

Immer diese stundenlangen Diskussionen über nichtige Kleinigkeiten!
Und für das wirklich Wichtige blieb am Ende dann doch wieder keine Zeit.

Sie musste noch zum Einkaufen. Peter hatte sich zum Abendessen angemeldet. Vielleicht hatte er ja endlich eine Entscheidung getroffen?
Vielleicht hatte er beschlossen, die andere zum Teufel zu jagen?
Vielleicht würde er ja zu ihr zurückkommen?
Vielleicht würde ab morgen ihr Leben wieder normal werden?

Eigentlich hatte sie ja vorgehabt, Schweinebraten zu machen, sein Lieblingsessen, aber den bekam sie zeitlich nicht mehr hin.
Da rief sie auch der Chef noch zurück, wollte tausend Dinge mit ihr besprechen. Genervt sah sie auf die Uhr. Wenn er nicht bald ein Ende fand, würde sie nicht einmal mehr eine Dosensuppe schaffen.

Dann gäbe es wieder Vorwürfe, dass sie zu viel arbeitete, dass sie sich ausnutzen ließ, dass sie sich endlich mal durchsetzen musste, dass sie sich nicht alles gefallen lassen sollte.
Der Chef sah sie erwartungsvoll an. Er hatte eine Frage gestellt, aber sie war von den Gedanken in ihrem Kopf abgelenkt gewesen.

„Alles in Ordnung?" fragte er.
„Ja! Ich bin nur etwas in Zeitdruck! Mein Mann kommt zum Essen!" gestand sie.
Er hob eine Augenbraue. „Ihr Mann? Ich dachte, das wäre vorbei?" Er hatte eine ganze Menge des Ehedramas seiner tüchtigsten Lehrerin mitbekommen, sie hatten ein sehr kollegiales Klima an ihrer Schule.

Er war der Meinung, sie sollte froh sein, den Typen endlich losgeworden zu sein. Eine schöne Frau wie sie musste nur die Augen öffnen, dann hatte sie an jedem Finger zehn Bewerber um ihre Gunst.
Wäre er nicht selbst glücklich verheiratet gewesen, hätte er sich sicher in die Liste der Anwärter eingeschrieben.

„Ja, eigentlich schon. Aber in den letzten Tagen hat er wieder ganz anders geklungen!" berichtete sie.
Der Chef wusste, dass es ihre Privatangelegenheit war, aber er konnte nicht umhin, sich doch einzumischen. „Seien Sie vorsichtig, Frau Stark! Lassen Sie sich nicht wieder einlullen! Der hat Sie nicht verdient!"

Judith verabschiedete sich, raste zum Supermarkt. O Gott! Fast sechs! Da würde sie es ja nicht einmal pünktlich nach Hause schaffen!
Zum Glück hatte er noch einen Schlüssel.
Aber sie hätte noch aufräumen müssen!

Das Strickzeug lag auf dem Sofa, etwas, das er hasste.
Die Geschirrspülmaschine war nicht ausgeräumt!
Das Bett nicht gemacht! Die Wäsche lag im Korb im Wohnzimmer, musste noch zusammengelegt werden!

Sie hörte seine vorwurfsvollen Worte direkt in ihrem Kopf.
„Was machst du eigentlich den ganzen Tag? Du arbeitest doch nur vormittags! Bist du wieder den ganzen Tag durch die Gegend gelaufen anstatt zu putzen? Kannst du nicht mal was kochen?"
Und plötzlich bremste sie ab, blieb am Straßenrand stehen, atmete tief ein.

Wollte sie das überhaupt?
Wollte sie immer wieder diese vorwurfsvollen Worte hören?
Ihr ganzes Leben lang?
Wollte sie sich immer klein fühlen, nicht gut genug für ihn?

Sie war intelligent, sah gut aus, wie man ihr immer wieder sagte!
Er war ihr weder intellektuell noch vom Äußeren her ebenbürtig!
Was ging in ihr vor, dass sie sich immer wieder von ihm hatte demütigen lassen?
Sie war froh gewesen, als er weg war!

Das halbe Jahr hatte ihr eigentlich gut getan.
Doch dann hatte sie immer mehr das Gefühl gehabt, einsam zu sein, wollte ihn zurück, wollte ihr Leben zurück.
Aber warum?
Nein! Nein!
Er sollte bei der anderen bleiben!
Sie war ohne ihn besser dran!

Sie fuhr weiter, ließ den Supermarkt rechts liegen, fuhr ins Parkhaus, stellte ihren Wagen ab. Einen klapprigen alten Fiat. Die guten Autos hatte immer er gefahren, obwohl sie weit mehr verdiente als er, der Sportklamottenverkäufer, mittlerweile mit Halbglatze und Bierbauch.

Sie stieg aus, lief los, ohne zu wissen, wohin genau. Ihre Gedanken gingen auf die Reise. Sie hatte am Altar gewusst, dass sie einen Fehler machte und hatte trotzdem ja gesagt. Dabei war er damals noch netter zu ihr gewesen als in den Jahren danach, hatte auch noch besser ausgesehen.

Netter war er gewesen! dachte sie. Netter!
Ihre Eltern hatten alles versucht, ihn ihr auszureden, doch sie hatte ihn stur verteidigt.
Warum?

Sie war ein umschwärmtes Mädchen gewesen, warum er?
Und dann hatte er sie auch noch betrogen! Mit einer seiner Kolleginnen, die doppelt so viel auf die Waage brachte wie sie. An ihr hatte er ständig herumgemäkelt.
„Hast du zugenommen? Die Hose sitzt schon verdammt knapp!"

Warum hatte sie ihm da nicht seine Wampe vorgehalten?
Der Sex konnte es ja auch nicht gewesen sein.
Wenn man überhaupt von Sex sprechen konnte.
Bei diesem frechen Gedanken musste sie lächeln.

„Hoppala! Vorsicht, schöne Lady!" hörte sie eine männliche Stimme.
Sie war in einen jungen Mann hineingerannt.
„Wer ist denn der Glückliche, der Sie so ablenkt und Sie so lächeln lässt?" scherzte er. Er rieb sich den Arm.
„Entschuldigung!" rief Judith und wurde etwas rot.

*

Tim war gehetzt durch die Straßen gelaufen.

Er war spät dran.
Er traf sich mit Sabine, musste ihr heute klar machen, dass es mit ihnen nicht klappen würde.
Eigentlich sollte er ja glücklich und zufrieden sein.
Er hatte heute die Ergebnisse einer wichtigen Zwischenprüfung bekommen und als Bester abgeschnitten.

Noch zwei Semester, und sein Medizinstudium war geschafft.
Er hatte es durchgezogen, auch wenn die Voraussetzungen nicht günstig gewesen waren.
Seine Eltern hatten es sich nicht leisten können, dass er studierte.

Sie kamen gerade so über die Runden. Doch er hatte diesen brennenden Wunsch in sich gehabt, Arzt zu werden.
Er hatte im Gymnasium gebüffelt und ein Begabtenstipendium ergattert.
Während der Schulzeit hatte er in jeder freien Minute gejobbt, um Geld für Unterrichtsmaterialien zu haben, hatte auch seine Eltern noch unterstützt, die gehofft hatten, er würde schnellstmöglich eine Lehre machen, um Kohle zu verdienen.
Bis heute hatten sie sich noch nicht richtig damit abgefunden, dass ihr Sohn ein Studierter sein wollte.

Seit zwei Jahren war er mit Sabine zusammen, einer verwöhnten Tochter aus reichem Haus. Anfangs hatte ihr Interesse ihm geschmeichelt, ihre Schönheit ihn gefesselt, doch es war zunehmend schwieriger geworden.

Sie wollte feiern, Party machen - er musste lernen.
Sie erwartete teure Geschenke von ihm, das Herz an einer dünnen Silberkette, das er ihr am Anfang einmal geschenkt hatte, hatte sie lächelnd zur Seite gelegt und nicht ein einziges Mal getragen.

Sie wollte nach Ibiza, nach Gran Canaria, doch das lag weit außerhalb seiner finanziellen Möglichkeiten.
Sie nörgelte an seiner Kleidung herum, die keine Markensymbole trug.
Sie maulte, wenn er zu spät kam, weil ein Seminar länger gedauert hatte.
Immer mehr fühlte er, dass sie ihn brach, und heute hatte er den Entschluss gefasst, das Ganze zu beenden.

Er hatte das nicht nötig, der Spielball einer verzogenen Göre zu sein!
Er war auch jemand!
Er hatte einiges geleistet, wovon sie und ihre Freunde weit entfernt waren, wenn man es nicht als Leistung ansah, das Geld der Väter auszugeben und auf andere herabzusehen.
Okay, im Bett war es immer gut gewesen, aber das war ja auch nicht alles.

Er hätte den Zusammenstoß sicher vermeiden können, wenn er aufmerksamer gewesen wäre.
So rieb er sich den schmerzenden Arm, während er die schöne Frau vor sich musterte, die aus dunklen, fast schwarzen Augen zu ihm hochsah, mit leicht geröteten Wangen vor ihm stand.

*

„Wenn Sie einen Kaffee mit mir trinken gehen, werde ich vielleicht von einer Anzeige wegen Körperverletzung absehen!" scherzte er.
„Und vor einer Anzeige meinerseits wegen Erpressung haben Sie keine Angst?" gab sie schlagfertig zurück.

„Einigen wir uns auf einen Vergleich?" schlug er lachend vor.
„Einverstanden!" ließ sie sich lächelnd herab zu sagen.
„Ich bin Tim! Aber der Kaffee muss unbedingt sein!" Er hielt ihr seine Hand hin. Vergessen war Sabine. Vergessen war ziemlich viel beim Blick in ihr hübsches Gesicht.

„Ich bin Judith! Und ja, Kaffee muss jetzt sein! Den Schock, beinahe jemanden ermordet zu haben, muss ich verarbeiten!" Sie fühlte sich wunderbar, zusammen mit diesem gutaussehenden Mann mit dem netten Lächeln, hier auf dem Bürgersteig. Das war doch um einiges besser als mit einem nörgelnden Ehemann zu Hause!

Tim lachte wieder.
Die Kleine war echt gut drauf!
Und verdammt hübsch!
Und verdammt gut gebaut!
Seine geübten Blicke brauchten nicht lange, um alle ihre Pluspunkte wahrzunehmen, und davon gab es eine ganze Menge.

In diesem Augenblick läutete ihr Handy. Das wird Peter sein! dachte sie und wappnete sich gegen seine Vorwürfe.
Kurz war sie versucht, ihn wegzudrücken. Aber sie hatte keine Lust mehr, feige zu sein.
„Wo bleibst du denn!" fauchte er sie an. „Ich habe Kohldampf!"

Eine nette Art, sie zu begrüßen. Und falls er sie wirklich zurück wollte, war das sicher nicht der beste Weg! dachte sie
„Sorry! Die Konferenz hat so lange gedauert!" Plötzlich stockte sie. Entschuldigte sie sich schon wieder?
Da kamen auch schon die erwarteten Angriffe von seiner Seite. „Lässt du dich schon wieder ausnutzen? Und ich hocke hungrig hier und warte auf dich! Wirst du es denn nie lernen?"

„Das war nur die halbe Wahrheit!" schnitt sie ihm das Wort ab. „Ich hatte danach keine Lust nach Hause zu fahren und für dich zu kochen! Ich bin in die Stadt gefahren und mache mir einen schönen Abend. Morgen ist Feiertag! Also Tschüss! Und leg die Schlüssel auf den Tisch!"
„Das ist immer noch meine Wohnung!" gab er zurück.

„Das ist was?" Seine Frechheit machte sie etwas sprachlos. Die Wohnung hatten ihre Eltern gekauft und ihr zum Examen geschenkt, hatten sie aber sicherheitshalber nie auf ihren Namen umgeschrieben.
Er lenkte ab. „Was ist jetzt? Kommst du oder nicht?"
„Oder nicht!" antwortete sie und beendete das Gespräch.

Tim stand etwas unangenehm berührt neben ihr. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Sollte er ein paar Schritte weggehen? Andererseits interessierte ihn schon, was da ablief, weil ihn diese Judith interessierte. Der andere schrie so laut, dass er jedes Wort mitbekam.

Sie holte tief Luft.
Wow!
Sie hatte es getan!
Sie hatte ihm klargemacht, dass es vorbei war!
Und vor allem hatte sie es sich selbst klargemacht.

Ein wahnsinniges Gefühl von Freiheit drohte, ihre Brust zu sprengen. Sie lebte in Berlin, der schönsten Stadt der Welt, sie war 26 Jahre jung, und neben ihr stand ein gutaussehender Typ, der sie aber im Augenblick etwas verunsichert ansah.

„Dein Mann?" fragte er mit belegter Stimme, ging unbewusst zum „du" über.
„Mein Ex! Oder besser gesagt, mein Bald-Ex!" antwortete sie. „Und dazu habe ich mich gerade eben entschlossen."
Er grinste sie an. „Wenn man ihn so hört, würde ich sagen: Ein sehr weiser Entschluss!"

Er bot ihr seinen Arm. „Nicht, dass du noch ein paar Männer umrennst! Ich möchte nämlich mit dir alleine einen Kaffee trinken!" sagte er und fühlte sich endlich so gut, wie er sich heute fühlen wollte.


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