Teil 49 Das Ende und ein Anfang

Beamte des SEK nisteten sich bei Nachbarn ein.
Nach fünf Tagen rollte ein Auto mit deutschem Kennzeichen vor das überwachte Cottage.

Eine Frau stieg aus, sprach ein paar Worte mit dem Fahrer, der wendete und wegfuhr.
An der nächsten Kreuzung stellte sich ihm ein Polizeifahrzeug in den Weg.
Beamte stürmten aus den benachbarten Häusern.

„Hände über den Kopf! Auf die Knie!" brüllten sie.
Die Frau griff in ihre Manteltasche.
Sie hatten sie!
Wieso hatten sie sie so schnell erwischt?
Wo war ihr Fehler gewesen?

Blitzschnell rasten die Gedanken durch ihr Gehirn.
Sie zog die Spritze heraus.
Bald würde sie bei Annabell sein!
Das war sowieso besser, als ohne sie weiterzuleben.
Auch die Rache hatte die Leere in ihr nicht füllen können.

George wusste, er war der beste Schütze von allen, und er sah, wie sie etwas aus ihrer Manteltasche zog.
Aber er wollte sie nicht töten.

So leicht würde er es einer vierfachen Kindsmörderin nicht machen!
Er zielte und schoss. Wie geplant zerfetzte die Kugel den Muskel ihres Oberarmes. Eine Spritze fiel zu Boden.

Lorena fiel vor Schmerzen auf die Knie.
Vorsichtig näherten sich die Beamten.
Rizin war höchstgefährlich, ein Teufelszeug!

Sie legten ihr Handschellen an, zogen sie sehr unsanft hoch.

Den Fahrer des Wagens hatten die Kollegen schon im Fahrzeug.
Er hatte keinen Widerstand geleistet, war von der ganzen Situation offensichtlich vollkommen überrascht.
Lorena kam in Untersuchungshaft, wurde wegen Selbstmordgefahr rund um die Uhr bewacht.

Den Mann konnten Winter und sein Team mit nach Deutschland nehmen.
Der Kommissar sandte eine Nachricht an Ronja, wusste, sie konnte sie am schnellsten verbreiten. „ Wir haben sie!"
Die drei Worte lösten verhaltene Euphorie aus.
Sie hatten die Täterin, aber sie hatten keinen Mord verhindern können, kein Kind gerettet.

Oder doch?
Vielleicht das Kind der Westens?
Vielleicht wäre sie zurückgekommen?
In einem halben Jahr oder einem Jahr?

Wenn niemand mehr damit gerechnet hätte?
An diesen Gedanken klammerten sie sich.
An irgendetwas musste man sich in diesem Scheißjob klammern!

Die Eltern der ermordeten Kinder fühlten ein kleines bisschen Genugtuung.
Nichts würde ihre Engel zurückbringen, aber die Täterin in Freiheit zu wissen, wäre wohl mehr gewesen, als sie hätten ertragen können.

Robin, Kira und die Kinder kamen heim.
Seine Familie empfing sie am Flughafen.

Sie hatten erst von den Dramen erfahren, als Lorena gefasst war.
Doch die beiden hatten sie alle nicht beunruhigen wollen, außerdem sollten so wenig Menschen wie möglich eingeweiht werden.

Dann trafen sich die fünf Familien zum ersten Mal.
Es war Ronjas Idee gewesen.
Bisher hatten sie nur an den Bildschirmen Kontakt mit einander gehabt.

Spontan bot Luca ihre Villa als Treffpunkt an.
Sie hatten bei sich und seinen Eltern Gästezimmer für alle, niemand musste in einem anonymen Hotel übernachten, niemand sollte alleine sein in der Nacht nach dem Zusammentreffen.

Es wurde eine Art von Fest, aber kein aufgedrehtes, lustiges.
Ein gemessenes Fest der Erinnerungen.
Es wurde viel geweint, aber es wurde auch das eine oder andere Mal gelacht, von Herzen gelacht, nicht bitter!

Die Kinder, die sich zum ersten Mal sahen, hatten ihren eigenen Bereich.
Diese Idee hatte Anna gehabt.
Sie wusste als Sozialpädagogin, dass Kinder eine andere Art hatten, mit Trauer umzugehen.

Sie verstanden sich vom ersten Augenblick an gut, machten auch ein paar Späße zusammen. Gefährlich wurde die Situation erst, als Joshua Nicola und Lukas fragte: „Warum seid ihr beide noch ganz und wir anderen alle nur noch halb?"

Zum Glück war Robin gerade da und hörte die erschütternden Worte des Kleinen. Er nahm ihn auf den Arm, drückte ihn fest an sich. „Weil wir ein verdammtes Glück hatten, Joshua! Ich weiß, dass man verdammt nicht sagen darf, aber es ist so! Und ihr seid nicht halb! Schau nach oben! Siehst du die Sterne? Da sind eure Geschwister und sehen euch zu! Sie sind nicht verschwunden! Sie sind nur ein bisschen weit weggegangen!"
Joshua sah den großen Mann interessiert an.

Er hatte ihn schon ein paar Mal im Fernsehen gesehen.
Er konnte ganz gut singen.
Und wenn ein Mann, der im Fernsehen war, so etwas sagte, musste es auch stimmen!

Anna hatte die Szene beobachtet. „Ich bin froh, dass es euch nicht getroffen hat! Ich glaube, Robin mit seiner Künstlerseele hätte es nicht geschafft!" sagte sie leise zu Kira.
Die brach in Tränen aus.

Ja! dachte sie. Er wäre wohl zerbrochen, weil er alles doppelt so stark empfand wie alle anderen!
Die beiden Frauen lagen sich in den Armen.
„Mein Gott!" sagte Kira schließlich mit erstickter Stimme. „Wie kann man so denken wie du?"

Anna sah an ihr vorbei. Sie dachte an Fabian.
Damals hatte sie keine Chance gesehen, den Schmerz überleben zu können.
Bis Luca gekommen war.
Und diesen noch viel größeren Schmerz, ein Kind zu verlieren, würde sie auch überleben.

Denn Luca war da!
Luca würde ihre Welt reparieren!
Ihre und die ihres Sohnes, der ihnen geblieben war!

Sie erzählte Kira von Fabian und von dem Satz, den Luca damals zu ihr gesagt hatte: „Wenn ein neuer Mann in dein Leben tritt, Anna, der dich wirklich liebt, wird er Fabian immer einen Platz in diesem Leben lassen!"
„Damit hatte er mich eigentlich für immer!" erinnerte sie sich und lächelte.

Robin kam zu Kira zurück, nahm sie in die Arme.
Er brauchte ein wenig Trost, und den konnte er nur bei ihr finden.

Eine Stunde später holte er seine Gitarre.
Alle Augen hingen an ihm.

„Ich habe ein Lied geschrieben!" begann er und seine Stimme brach. Er schluckte ein paar Mal und fuhr fort. „Ein Lied über eure vier Engel, die euch genommen worden sind. Aber ich konnte es noch nicht einmal singen, ohne einen Heulkrampf zu bekommen, und es wird mir auch heute nicht gelingen! Deshalb wird Kira den Text sprechen, und ich werde die Melodie spielen."

Alle lauschten gebannt, wie er gekonnt auf der Gitarre spielte, hörten gebannt die Textzeilen, die Kira dazu sprach.
Von Kindern, über die man überglücklich ist, wenn sie geboren werden, wenn sie aufwachsen, wenn sie mit ihrem Lachen das eigene Leben reich machen.

Er hatte von jedem der toten Kinder eine besondere Eigenschaft in Worte gefasst, hatte wunderschöne Worte gefunden. Die Melodie war nicht die eines Schlagers, eines Bühnensongs, sie war klassisch, fast wie eine kurze Symphonie.

Atemlos hörten die Erwachsenen zu. Die Kinder lauschten, kamen zu den Erwachsenen, setzten sich auf deren Schoß.

Als Kira und Robin endeten, schienen alle erst einmal wieder zu atmen. Es gab keinen Applaus, doch den erwarteten die beiden auch nicht. Aber es gab viele leise: „Danke!"

Ja! dachte Anna. Er hätte es nie geschafft, trotz Kiras Liebe, trotz seiner Liebe zu ihr und seinem zweiten Kind. Er trauerte so sehr um vollkommen fremde Kinder, er hätte es nicht überlebt, seine Nicola zu verlieren!

Dann aßen sie die Reste des Büffets. Anna und Luca hatten sich für Massen an Fastfood entschieden, weil sicher alle Kinder das liebten.
Und weil sie alle ihnen das sicher meistens verboten hatten!
Mit der idiotischen Ansage, es wäre ungesund!

Sie erinnerten sich, tauschten sich über Erlebnisse aus, waren sich sehr nah in ihrer Trauer, aber auch in ihrem Willen zu überleben.

Gegen drei Uhr morgens glaubten sie, schlafen zu können.

Auch die Kinder waren so lange wach geblieben, merkten, dass diese Nacht magisch war.

Dass diese Nacht die erste war, die ihnen allen den Weg wies, wie sie weitermachen konnten, weil vier Engel auf den Sternen da oben waren.

Dann begann der Prozess in Köln, dem Ort des ersten Verbrechens.
Ronja und Julian wollten unbedingt die Anklage übernehmen, wussten aber, dass das nicht möglich war.

Aber sie setzten durch, dass sie die Nebenklage als Opferanwälte übernehmen konnten.
Die vier anderen Familien waren in einem Hotel nahe dem Gerichtsgebäude untergebracht.
Die Angeklagte sagte fünf Prozess-Tage lang kein Wort.
Ihre Anwälte verzweifelten, weil sie auch mit ihnen nicht sprach.

Die Kommissare machten umfangreiche Aussagen zu den Ermittlungen, Winter lobte Kira, deren Erkenntnisse den Durchbruch gebracht hatten.
Die Alte sagte aus, der Autoverkäufer ebenso. Den Nerd, der ihr das Rizin beschafft hatte, fanden sie nie, eben so wenig wie Dr. Schneider.

Dann kam der Tag der Schlussplädoyers.
Der Staatsanwalt erzählte von der Grausamkeit der Taten, von vier ausgelöschten, jungen Leben.
Die Verteidiger sprachen von der Ausnahmensituation, in der die Angeklagte sich befunden hatte.
Dann endlich sprach Lorena.

„Ja! Ich habe sie euch genommen, eure Kinder! Ich habe euch eines geschenkt und eines genommen! Ein fairer Deal, oder? Ihr habt bezahlt, ich war neun Monate lang schwanger! Dann seid ihr gekommen, habt meine Kinder abgeholt, die Kohle hingeblättert und sie mitgenommen! Dann hat ein Besoffener meine Annabell getötet! Und er läuft fröhlich rum! Und eure Kinder liefen auch fröhlich weiter rum, als sei nichts geschehen! Ich musste handeln! Ich musste euch etwas von eurem Glück wegnehmen!"

Sie sah Robin und Kira an. „Ihr seid davon gekommen! Ich hätte euch schon noch erwischt, wenn die Alte nicht gequatscht hätte! Ich war so oft dran an dieser Nicola! Aber immer wieder seid ihr mir entwischt!"

Robin wich ihrem Blick nicht aus. Ein Auge von ihr war zugeschwollen, die Arme zeigten zahlreiche Blutergüsse.
Eine Kindermörderin hat es nicht leicht im Knast! dachte er.

Lorena senkte als erste die Augen, oder vielmehr das eine, mit dem sie noch sah.
Sie ertrug die ständigen Angriffe stoisch.
Nichts konnte den Schmerz übertreffen, den Annabells Tod in ihr ausgelöst hatte. Sie setzte sich schwerfällig wieder auf ihren Stuhl.

Gestern war sie ohne ersichtlichen Grund die Treppe hinuntergestürzt.
Irgendwie hoffte sie immer, dass sie einen Angriff nicht überlebte.

Als letzte hatte Ronja als Vertreterin der Opferfamilien das Wort.
Julian hatte lange mit ihr im Vorfeld darüber diskutiert, ob sie sich das wirklich antun wollte. 

Doch er hatte auch gewusst, dass er sie schwerlich davon abbringen konnte.
Sie sprach frei, hatte sich nicht ein Wort aufgeschrieben.
Alles, was sie sagen würde, hatte sich in ihrem Kopf eingebrannt.

Sie sprach die Angeklagte in Englisch an.
„Mrs. Brewster, Sie hatten mit vielem Recht, was Sie gesagt haben. Sie haben uns zu sehr glücklichen Menschen gemacht, als Sie unsere Kinder für uns bekamen. Die Kinder, über die wir uns noch jeden Tag aufs Neue freuen dürfen. Manchmal hat mich der Gedanke gequält, dass unsere anderen Kinder noch leben würden, hätten wir uns auf den Handel mit Dr. Schneider nicht eingelassen. Doch das ist das moralische Paradoxon, über das sich klügere Köpfe als ich einer bin, dieselben zerbrechen. Kann man ein Leben mit einem anderen aufrechnen? Welches Kind ist mehr wert? Das, das wir selbst geboren haben oder das, das Sie geboren haben? Auf diese Frage gibt es keine Antwort, darf es keine geben!

Sie, Mrs. Brewster, haben sich eine Antwort gegeben, haben die Kinder leben lassen, die Sie geboren haben, aber die umgebracht, die wir geboren hatten. Und Sie haben nicht aus niederen Beweggründen gehandelt, wie mein Kollege von der Staatsanwaltschaft gesagt hat, nein, Sie haben aus dem allerniedrigsten Beweggrund gehandelt: dem der Rache.
In der Bibel steht zwar: „Auge um Auge, Zahn um Zahn!", aber ich bezweifle, dass Sie Jüdin sind und das Alte Testament Ihr Gesetzbuch ist.
Ich bezweifle, dass Sie an irgendeinen Gott glauben.
Sie haben vier unschuldige, vier hoffnungsvolle, vier gute Kinder getötet! Warum nicht den Fahrer, der Annabells Leben ausgelöscht hat?
Weil Sie nämlich nicht nur böse und ohne jede Moral sind, sondern auch feige! Einem erwachsenen Mann aufzulauern, dazu hatten Sie nicht den Mut.
Einen Fünfjährigen im geschützten Umfeld seines Elternhauses umzubringen, als erwachsene Frau, ist feige!
So feige, wie einen Achtjährigen auf der Schultoilette, als sein Bruder einen Tag nicht auf ihn achten konnte, einen Zehnjährigen im Aufzug, als er zu seinem Vater wollte, oder eine Elfjährige, die ihr Vater auf dem Gehsteig finden musste, entsorgt wie Müll!"

Die beteiligten Familien hielten sich tapfer.
Ihre Blicke wanderten zwischen Ronja und der Mörderin hin und her.
Sie sahen die Anspannung in Lorenas Gesicht, spürten, dass Ronjas Worte sie erreichten.

„Sie haben unsägliches Leid über uns gebracht, aber Sie haben uns nicht gebrochen. Wir werden nicht losziehen und uns rächen, wir werden weiter, wie bisher auch, versuchen, unser Bestes für die Menschen zu geben. Denn unsere toten Kinder sollen stolz auf uns sein. Sie sollen uns nicht verachten, wie ein dreijähriges Mädchen namens Annabell ihre Mutter verachtet. Ihre Mutter – die Mörderin von vier einzigartigen Kindern.
Und Annabell ist traurig. Sie wäre auch gerne stolz auf ihre Mutter gewesen, so wie Marlon, Florian, Elias und Zoe es sein können. Sie muss sich vor Scham verstecken, sie weint jeden Tag, weil sie es gerne gehabt hätte, dass ihre Mutter es geschafft hätte, ein guter Mensch zu werden."

Ein bisschen gut tat es den Zuschauern schon, als sie die Tränen sahen, die über das Gesicht der Mörderin liefen.

„Und nun zu dem Vorschlag meines verehrten Kollegen, die Angeklagte sollte von dem Vermögen, das sie angehäuft hat, Widergutmachung leisten.
Um wie viel Geld handelt es sich dabei? 100.000 Pfund? 100 Millionen? 100 Milliarden? 100 Billionen? Wie hoch müsste die Summe sein, um unseren Verlust wieder gut zu machen? Ich sage es Ihnen: Das ganze Geld des Erdballes würde nicht ausreichen, um ein Promille unseres Schmerzes wieder gut zu machen! Aber wir wollen auch nicht, dass ihr Vermögen der Angeklagten einen einzigen Tag in Haft erleichtert. Deshalb haben wir uns entschlossen, das Geld in die Zoe-Wissmann-Stiftung fließen zu lassen. Vielleicht kann es einen Menschen davon abhalten, einen Weg zu gehen wie Sie!"

Erschöpft setzte sich Ronja auf ihren Stuhl, ließ sich von Julian in den Arm nehmen. „Ich bin auch stolz auf dich!" flüsterte er.

Die Menschen auf den Zuschauerbänken standen auf. Sie applaudierten nicht, das wäre der Situation nicht angemessen gewesen.
Aber sie wollten Ronja ihren Respekt zeigen.

Zwei Stunden später wurde das Urteil verkündet: Lebenslänglich mit anschließender Sicherungsverwahrung wegen der besonderen Schwere der Schuld.

Die fünf Familien trafen sich im Haus der Fellners.
Patrick und Greta hatten einen Imbiss vorbereitet, im Gegensatz zu Ronja und Julian konnten die beiden Studenten hervorragend kochen.

Sie wollten nicht am Prozess teilnehmen, wollten nicht, dass Wunden wieder aufbrachen, die gerade vernarbten, hatten sich lieber täglich um die Kinder gekümmert, hatten sie vom Hotel abgeholt, mit ihnen gespielt, waren zum Schwimmen gegangen, gewandert. Sie waren zwei sehr umsichtige, zuverlässige junge Menschen geworden.

Alle waren zufrieden mit dem Urteil, aber es gab ihnen auch nicht die Genugtuung, die sie sich erhofft hatten.
Zuversichtlicher hatte sie Ronjas Rede werden lassen. Der Gedanke, dass die Kinder stolz sein konnten auf die Eltern, tröstete ein wenig.

Später baten sie Robin und Kira, das Lied von den vier Engeln noch einmal vorzutragen. Den Refrain konnte er mittlerweile singen, der Text war zuversichtlich, dass Heilung der Seelen möglich war. Die Strophen sprach Kira. Die vier Paare nahmen sich an den Händen, versprachen sich, sich jedes Jahr mindestens einmal zu treffen.
Dann fuhren alle nach Hause.


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