Teil 43 Das Verbrechen III
Tim und Judith
„Gehen wir heute ins Krankenhaus?" fragte Elias. Er mochte die Besuche dort, auch wenn sie ihn manchmal traurig machten. Die armen Kinder waren so krank, und ihm und seiner Schwester ging es so gut!
Aber er hatte das Gefühl, dass es den Kindern besser ging, wenn Sarah und er da waren. Dann lachten sie ganz oft über ihre Witze! Sie spielten ihnen auch oft kleine Theaterstückchen vor, die sie eingeübt hatten, und sie brachten ihnen immer neues Spielzeug mit. Sarah konnte gut singen, obwohl sie erst fünf war, also eigentlich noch ein Baby!
Aber sie war total süß und total klug!
Er war auch klug, war Klassenbester, aber die anderen mochten ihn trotzdem, er wurde immer Klassensprecher.
Papa hatte gesagt, wenn er auf dem Gymnasium auch so gute Noten bekäme, könnte er Arzt werden wie er.
Er war voll stolz auf seinen Papa. Der war ein wichtiger Doktor, alle mussten tun, was er sagte. Er operierte ganz kranke Leute, und er machte sie alle wieder gesund.
„Ja, heute könnten wir eigentlich wieder mal vorbeischauen!" stimmte Judith zu. Sie sah ihren Sohn verliebt an. Den hatten sie gut hingekriegt!
Genauso wie Sarah, den kleinen Engel, mit den hellblonden, lockigen Haaren, von denen keiner wusste, von wem sie sie hatte. Wahrscheinlich hatten die Gene von Tims Seite her durchgeschlagen.
Sie packten nachmittags ein paar Sachen zusammen und machten sich mit der U-Bahn auf den Weg zur Charité.
Tim arbeitete da mittlerweile als Oberarzt, er hatte ein tolle Karriere hingelegt! Er hatte viel zu tun, aber seine freie Zeit gehörte immer seiner Familie.
Er und Judith liebten sich wie am ersten Tag, seine Kinder waren sein ganzes Glück.
Judith und die Kinder gingen zuerst auf die Kinderstation und freuten sich über die strahlenden Augen.
Sie spielten zwei Stunden lang mit den kleinen Patienten, sangen, lasen ihnen vor.
„Kann ich noch Papa besuchen?" fragte Elias.
„Ja, aber wenn du siehst, dass er keine Zeit hat, störst du ihn nicht!" antwortete Judith.
Der Junge verdrehte die Augen. „Das musst du mir nicht jedes Mal sagen! Wie alt bin ich?"
„Zehn! Und ein frecher Kerl!" erklärte sie lachend, und es waren die letzten Worte, die sie zu ihm je sagen würde.
Sie stand auf dem Flur, sah ihm zu, wie er zum Lift hopste. „Na, besuchst du den Papa?" fragte die Stationsschwester.
„Ja, aber nur, wenn ich ihn nicht störe!" antwortete er und drückte den Knopf.
Die Schwester lächelte Judith zu. „Ein toller Junge!" sagte sie.
Judith sah, wie Elias einstieg, die Türen schlossen sich gerade, als ein vollverschleierte Frau in einer Burka um die Ecke schoss und gerade noch die Hand dazwischen brachte.
O je! Da wird er sich wieder fürchten! dachte Judith. Ich hätte ihn bringen sollen! Aber dann hätte er sich wieder beschwert, dass ich ihn wie ein Baby behandle!
Sie ging zu Sarah zurück, die gerade mit ihrer glockenhellen Stimme ein Kinderlied sang.
Elias erschrak, als die verhüllte Frau zu ihm in den Aufzug trat. Seine Eltern hatten ihm schon genau erklärt, dass die das wegen ihres Glaubens machten, dass das nichts Schlimmes war, dass das ganz normale Frauen waren, aber ihm war immer etwas gruselig zu Mute, wenn er sie sah.
Er riss sich zusammen, grüßte sogar höflich. Die Frau kam näher, streckte die Hand aus. Er spürte nur einen kleinen Stich, dass sie ein Pflaster darauf klebte, spürte er nicht mehr. Sein zehnjähriges Herz hatte aufgehört zu schlagen.
Eine halbe Stunde später wollte die Stationsschwester eine kleine Patientin im Rollstuhl zum Röntgen bringen.
Als die Lifttüren sich öffneten, sah sie Elias am Boden liegen.
Sie beugte sich zu ihm. „Na, kleiner Mann? Ist dir schlecht geworden?" fragte sie besorgt. Doch dann sah sie, dass der Junge tot war. Zitternd drückte sie den Notruf.
Judith kippte einfach um, als Tim ihr tränenüberströmt erzählte, was passiert war.
Sie legten sie auf seine Station, hängten sie an eine Infusion. Sarah wurde von ihren Großeltern abgeholt. Tim saß gebrochen an ihrem Bett, hielt ihre Hand, um etwas zu haben, an dem er sich festhalten konnte.
Judith brabbelte in ihrer Ohnmacht ständig vor sich hin. „Burka! Er hat Angst! Der Schleier! Warum! Ich bin nicht mit! Er fürchtet sich doch! Burka! Eine Frau!" verstand er.
Als die Kommissarin mit ihm sprach, berichtete er von Judiths Worten. Sofort suchten die Mitarbeiter die Aufzeichnungen der Kameras am Haupteingang ab und wurden fündig.
Das Bild wurde ausgedruckt, doch es war nichts zu erkennen außer eben eine vollverschleierte Frau.
Die Kommissarin hatte das Pflaster gesehen, wusste, sie hatten einen neuen Fall des Serientäters oder der Täterin!
Sie telefonierte mit dem Kollegen Winter, der beinahe zusammenbrach. Noch ein Junge, noch ein Kind tot, weil sie unfähig waren, das Monster zu finden!
Wieder wurden alle verhört, die mit der Familie zu tun hatten.
Peter, Judiths Ex-Mann und seine zweite Frau Sandy hatten ein Alibi. Sie hatten den Tag in der Ausnüchterungszelle verbracht, nachdem Nachbarn die Polizei geholt hatten, als in der Wohnung wieder einmal ein Streit zu eskalieren drohte.
Freunde, Verwandte wurden befragt, aber man glaubte nicht mehr an ein Verbrechen aus dem näheren Umfeld.
Sie mussten weiter denken!
Drei Jungen!
Zweimal die Jüngsten der Familien, jetzt der ältere Bruder!
Warum?
Eine Videokonferenz wurde geschaltet, die Ronja von Köln aus leitete und betreute.
Es half ihr, ihren Schmerz in Griff zu bekommen, und Julian half es, sie so stark zu sehen. Sie tat das einzig Richtige, sie half, den Teufel zu finden, der ihre Engel ermordete.
Wieder und wieder versuchten alle Seiten irgendeine Verbindung zwischen den Familien herzustellen, aber keinem gelang ein erster Schritt.
Das einzige, was sie hatten, war die Tatsache, dass die Person wohl in Verkleidungen auftrat.
Noch einmal wurden die Gäste von Julians Geburtstagsfeier befragt, ob ihnen ein fremde Frau aufgefallen war.
Mittlerweile waren sich alle Teams ziemlich sicher, dass es sich um eine Täterin handelte.
Per Computeranimation machten sie aus dem Mann in Frankfurt eine Frau, gingen wieder an die Öffentlichkeit. Wieder mussten sie Aussagen von Wichtigtuern aussondern, wieder kam nicht ein konkreter Tipp.
Kommissar Winter fiel Kira wieder ein.
Gleich wählte er ihre Nummer, ihr Mann nahm ab. „Herr Westen, guten Tag, hier ist Kommissar Winter, Mordkommission Frankfurt. Könnte ich vielleicht Ihre Frau sprechen?"
Robin zählte eins und eins zusammen. „Ja, das wäre nicht mal schlecht! Sie denkt eh den ganzen Tag an nichts andere als an diese Morde!" sagte er gottergeben.
Winter informierte Kira, versprach ihr Kopien der wichtigsten Aussagen per Mail zu schicken.
Robin hörte etwas verblüfft zu. Aber er war auch stolz auf sein Püppchen! Und wenn sie helfen konnte, musste sie das natürlich tun.
Aber dann sollten sie nach Hamburg zurück, da hatte sie die besseren Geräte.
Dankbar stimmte Kira zu. Sie wusste schon, warum sie ihn so liebte.
Am nächsten Tag flogen sie zurück. Kira vertiefte sich in die Unterlagen, las die Zeugenaussagen, las über die Familienhintergründe.
Sie machte sich Notizen, legte Tabellen an, suchte nach Verbindungen. Zwei Kinder hatten die Paare jeweils, also gemeinsame Kinder. Eines davon war ermordet worden, dem anderen schien keine Gefahr zu drohen,
Warum? Was unterschied das eine vom anderen Kind?
Sie grübelte, dachte sich verschieden Szenarien aus. Robin achtete darauf, dass sie es nicht übertrieb, dass sie aß und trank und genügend Schlaf bekam. Ansonsten ließ er sie machen, was sie tun musste.
Er ging mit den Kindern zum Schwimmen, fuhr zu seinen Eltern, ging in Freizeitparks, ließ sie aus welchen Gründen auch immer keine Sekunde aus den Augen.
Für Nicola und Lukas war die Situation nicht sonderlich ungewöhnlich. Die Mama war immer ein paar Tage nicht ansprechbar, wenn sie schrieb. Der Papa auch, wenn er komponierte.
So waren Künstler eben, hatte die Regensburger Oma mal gesagt.
Kira kam nicht weiter. Sie fand keinen Gedanken, den die Kommissare nicht schon gedacht hatten.
Abends sprach sie mit Robin über die Fälle. Vielleicht hatte der ja eine ganz andere Idee.
Er tat ihr den Gefallen, wusste wie wichtig ihr das alles war. Keiner ahnte ja, wie lange das Monster weitermorden würde! Vielleicht konnten sie ein einziges Kind retten!
Doch danach brauchte sie immer ganz viel Liebe und Zärtlichkeit, um nicht durchzudrehen, und die gab er ihr auch bereitwillig. Sie waren nicht so losgelöst wie sonst, aber sie taten sich gut, konnten sich auffangen.
Tim brachte Judith nach Hause. Sie weinte 24 Stunden lang, nie hätte er gedacht, dass ein Mensch so viele Tränen in sich haben könnte.
Schließlich wusste er sich nicht mehr anders zu helfen, als ihr eine Beruhigungstablette zu geben. Aber sie weigerte sich, sie zu schlucken. „Nimmt sie den Schmerz weg?" fragte sie leise.
„Nein! Das kann sie nicht! Das kann nichts!" musste er zugeben. „Und auch die Zeit wird das nicht schaffen! Wir werden mit dem Schmerz leben müssen! Aber wir müssen leben, Judith, denn wir haben noch ein Kind, das uns braucht! Und wir haben uns, und wir brauchen uns auch!"
Judith lächelte ein wenig. Das hatte er schön gesagt! Das waren Worte gewesen, die wirklich trösten konnten.
Das waren die richtigen Worte gewesen!
Und sie ahnte, dass sie leben würden, anders als vor dem Unglück, nein, dem Verbrechen!
Aber sie würden leben, für Sarah, für einander. Sie würden leben, weil sie sich liebten. Sie würden Elias nie vergessen, diesen wunderbaren Jungen, den sie so gut hingekriegt hatten. Aber sie waren es auch ihm schuldig, dass sie weitermachten.
Er war so glücklich gewesen in dieser Familie, er würde immer bei ihnen sein.
Er hatte seine Schwester so geliebt, sie waren es ihm schuldig, dass sie wieder glücklich wurde.
Er hatte auch seine Eltern so geliebt, sie waren es ihm schuldig, dass sie wieder glücklich wurden.
Er würde sie von oben kontrollieren, und er würde seine kleine Nase rümpfen, wenn sie etwas falsch machten, wie er sie immer gerümpft hatte, wenn ihm etwas nicht gepasst hatte.
„Leg dich zu mir!" bat sie Tim. Er nahm sie fest in die Arme, und sie erzählte ihm ihre Gedanken.
Jetzt konnte er lächeln, denn sie hatte die richtigen Worte gefunden, die Worte, die trösten konnten!
Sie begruben ihren Sohn, und sie brachen nicht zusammen. Sie hatten sich und ihm ein Versprechen gegeben. Außerdem lag da im Sarg nur seine Hülle. Seine Seele lächelte ihnen von der Wolke aus zu, die genau über dem Grab stand.
Zehn Jahre lang hatten sie seine Eltern sein dürfen. Jahrzehnte zu wenig, aber zehn Jahre mehr, als wenn es ihn nicht gegeben hätte.
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