Teil 34 Die nächsten Jahre - Julian und Ronja III
Ronja zog die letzten beiden Semester mit Bravour durch, legte das beste Staatsexamen ihres Bundeslandes hin. Aber niemand, der sie kannte, hatte etwas anderes erwartet.
Auch, dass ihre Doktorarbeiten in Jura und Informatik mit Bestnoten ausgezeichnet wurden, überraschte niemanden.
Bei der Abschlussveranstaltung überreichte ihr Jura-Professor ihr einen Staatsförderpreis für ihre hervorragenden Leistungen. Er nahm sie in die Arme, schniefte ein wenig.
„Ihre Eltern wären so stolz auf Sie!" sagte er nur für sie hörbar. Er war mit dem Kollegen und der Kollegin eng befreundet gewesen, hatte ihnen nach dem so schrecklich frühen Tod versprochen, ein Auge auf ihre Tochter zu haben.
Ihre Augen blieben trocken. Sie hatte schon lange nicht mehr über ihren Verlust geweint.
„Das können sie ja auch sein!" erklärte sie selbstbewusst.
Sie war sicher, dass irgendwo dort oben ein gutaussehender Mann eine schöne Frau im Arm hielt und zu ihr herunterlächelte.
Der Informatik-Professor überreichte ihr die beiden Urkunden zu ihren Doktorarbeiten.
Er war immer ein wenig verliebt in sie gewesen, in seine Ausnahmestudentin, und jetzt ein wenig von Trennungsschmerz geplagt.
Sie musste dann als beste Studentin die Rede der Absolventen für beide Studiengänge halten.
Die Rede in Jura hielt sie in Deutsch, die für Informatik in Englisch, der EDV-Sprache.
Sie sprach lange, aber auch das hatte niemand anders erwartet. Es wurde viel gelacht, wenn sie Anekdoten erzählte, es wurde ein wenig geheult, als sie von dem Zusammenhalt untereinander berichtete.
„Ich wünsche jedem Mädchen, das in einer Männerdomäne studiert, dass es so aufgenommen wird, wie ich es wurde. Und ich wünsche den kommenden männlichen Studenten, dass es in ihren Seminaren mindestens ein Mädchen wie mich gibt!" schloss sie.
Tosender Beifall begleitete sie auf dem Weg von der Bühne.
Julian nahm sie voll Stolz in seine Arme.
Mannomann, hatte er da einen Fang gemacht!
Mannomann, war er verknallt!
Das Gericht in Köln nahm sie mit Handkuss zum Referendariat an, obwohl alle wussten, dass sie mit Staatsanwalt Fellner zusammenlebte. Es wurden ganz viele Augen ganz fest zugedrückt.
Nach ein paar Monaten hatte sie durchgesetzt, dass die Staatsanwälte untereinander, aber auch mit den Polizeirevieren und den Kommissariaten vernetzt waren. Sie war so lange dem Innenminister und dem Bürgermeister auf den Geist gegangen, bis die nachgaben und die Mittel locker machten.
Julian hatte einige der Gespräche mitgehört, musste sich jedes Mal danach den Bauch halten, der vor Lachen schmerzte.
„Irgendwann sagen mal alle: Was? Die Frau Dr. Dr. Fellner will was? Gebt es ihr bitte ganz schnell, aber haltet sie mir vom Leib!"
„Karlson!" verbesserte sie ihn automatisch. Es war immer wieder vorgekommen, dass man sie mit Fellner ansprach, weil sie ja mit ihm zusammen war.
Er sah sie lächelnd an. „Dinge können sich ändern! Namen auch!" sagte er leise. Er zog ein Päckchen aus der Tasche, öffnete eine Schatulle und steckte ihr einen Ring an den Finger.
„Für das Ding da könntest du dich vielleicht überreden lassen!" meinte er trocken.
Sie sah ihn mit großen Augen an. „War das jetzt ein Heiratsantrag?"
„Hm! Aber dir wäre es sicher lieber gewesen, ich hätte dir eine Mail geschickt, oder?" zog er sie auf, bevor er sie zärtlich küsste.
„Kannst du ja gar nicht!" hauchte sie mit weichen Knien.
„Schau nach!" forderte er sie leise auf.
Sie öffnete ihr Mailprogramm, las den Absender, es war sein Account, den sie ihm eingerichtet hatte, den er aber noch nie benutzt hatte.
Sie öffnete die erste Mail, die er je geschrieben hatte, las eine wunderschöne Liebeserklärung.
Die Tränen liefen wieder einmal, aber es waren sehr glückliche Tränen, wie die Kids sagen würden.
„Bei dir kann man wenigstens sicher sein, dass der Text von dir ist und dass du ihn nicht im Internet gefunden hast!" Sie tippte eine Antwort ein.
„Das geht auch?" fragte er verwundert.
„Nein! Nein! Nein!" wehrte sie ab. Nicht, dass er noch auf dumme Gedanken kam in Zukunft.
„Und die Antwort?" fragte er lächelnd.
„Schau nach!" antwortete sie.
Er verzog das Gesicht. „Kann ich das?" Er versuchte es und las: „Ja! Oui! Yes! Si! Si!"
„Und analog?"
„Natürlich!" antwortete sie glücklich.
Ein halbes Jahr später heirateten sie im kleinen Kreis. Auch Sandras Eltern waren gekommen. Sie wollten Julian nicht seinen schönen Tag verderben, erzählten deshalb nicht, dass ihre Tochter kaum Fortschritte machte, sich alle Therapien verschloss, nur gegen ihren Exmann und seine neue Frau wetterte, die sie in die Klapsmühle gebracht hatten und ihr die geliebten Kinder weggenommen hatten.
Eines Tages platzte Sandras Mutter der Kragen. Sie konnte die ewigen Tiraden, das ständige Selbstmitleid der Tochter nicht mehr ertragen.
Was hatten sie bei diesem Kind bloß falsch gemacht?
Ihre älteren Geschwister waren beide glücklich verheiratet, liebten ihre Kinder, waren beruflich erfolgreich!
Wahrscheinlich hatten alle das Nesthäkchen zu sehr verwöhnt! vermutete sie.
„Jetzt hör endlich mal auf! Sie haben dir die Kinder nicht weggenommen! Du hast deine Kinder von Anfang an abgelehnt! Hast die liebende Mutter gespielt, damit Julian bei dir geblieben ist, obwohl du ihn so mies behandelt hast! Zehn Jahre hat er ausgehalten, wegen der Kinder! Wer hat denn wessen Leben zerstört?" haute sie der Tochter um die Ohren.
Die Ärzte hatten ihr zwar immer eingebläut, sie dürfte ihr nicht widersprechen, um sie nicht zu reizen, aber sie sah ja, wohin das geführt hatte.
Sandra sah sie erschrocken an. Jetzt war nicht einmal ihre Mutter auf ihrer Seite.
Und Mütter liebten ihre Kinder bedingungslos, das war in der Natur so vorgesehen.
Doch da vernahm sie eine Stimme in ihrem Kopf. „So wie du deine Kinder liebst?"
Sie wollte die Stimme loswerden, schüttelte den Kopf, um sie zum Schweigen zu bringen.
Doch sie schaffte es nicht. „Du hast dein Leben verbockt! Dein Leben verbockt! Das einzige, das du hast! Verbockt! Verbockt! Du bist schuld! Du ganz alleine!" höhnte sie weiter.
Sandra begann zu weinen.
Ihre Mutter wollte sie in den Arm nehmen, unterließ es aber. Irgendetwas war geschehen. Geweint hatte die Tochter noch nie!
Gebrüllt, geschrien, gekeift – das ja! Aber sie hatte nie eine einzige Träne vergossen.
Von diesem Tag an nahm Sandra das Therapieangebot an.
Von diesem Tag an wollte sie ihr kaputtes Leben in den Griff bekommen.
Von diesem Tag an gestand sie sich ein, dass sie krank war.
Von diesem Tag an wollte sie gesund werden.
Sie nahm schließlich ihre Mutter in die Arme, heulte ihre ganze Schulter nass.
„Danke, Mama!" stieß sie schließlich hervor.
Kurz nach der Hochzeit merkte Ronja plötzlich, dass sie unbedingt ein Kind haben wollte. Natürlich waren Julians Kinder perfekt, aber sie waren eher Geschwister für sie.
Sie wollte ein eigenes, sie wollte ein Baby von Julian. Er verstand sie auch hier gut. Er ging auf die 40 zu, hatte eine zwölf Jahre jüngere Frau geheiratet, er musste ihr diesen Wunsch erfüllen, und er musste es jetzt tun.
Der Zeitpunkt war perfekt, Geburt und Ende der Ausbildungszeit wären zeitnah. Also begruben sie die Pillenpackung im Garten, beschlossen lachend, gleich mal etwas zu üben, bevor die Kinder aus der Schule kamen.
Sie übten viel, doch sie wurde nicht schwanger. Eine ärztliche Untersuchung brachte den völlig überraschenden, völlig niederschmetternden Befund. Sie würde keine eigenen Kinder bekommen können, ihr Gebärmutterhals war zu kurz, außerdem ihre Gebärmutter nicht richtig entwickelt.
Kein Arzt hatte früher je davon gesprochen.
Man vermutete eine genetische Störung, erblich bedingt. „Darum hat Mama nicht mehr Kinder bekommen! Sie hat oft angedeutet, dass sie gerne ganz viele gehabt hätte!"
Nach außen trug sie die Hiobsbotschaft gefasst, doch Julian merkte, dass sie immer stiller wurde. Aber die Plaudertasche sollte nicht verstummen, nicht wenn er es verhindern konnte.
Er begann zu recherchieren, dank ihres Unterrichtes war er mittlerweile einigermaßen fit im Internet.
Er stieß auf eine Seite über Leihmutterschaft, setzte sich mit dem Arzt in Verbindung, der eine Kinderwunschpraxis in Köln hatte.
Nachdem er sich alles angehört hatte, wusste er, dass diese Möglichkeit für sie beide nicht in Frage kommen würde. Sie waren Juristen im Staatsdienst, sie durften sich nicht Illegales zuschulden kommen lassen.
Dr. Schneider hatte eine Lösung parat. „Dann suche ich eben eine Leihmutter in der Ukraine, wir schicken die befruchteten Eizellen dorthin!" schlug er vor.
Der übervorsichtige Anwalt würde wohl nicht kontrollieren, ob er es auch so machte. Er würde wieder ein wenig hin und her jonglieren müssen, aber er kassierte ja auch gutes Geld.
Und einmal hatte es ja schon geklappt.
Julian bat um Bedenkzeit, er musste das natürlich mit Ronja besprechen. Die war überglücklich, dass er ihren Kinderwunsch so ernst nahm, sich so reinhängte in die Sache.
Fast hatte sie gefürchtet, er würde argumentieren, sie hätten ja schon zwei Kinder. Aber Julian war eben Julian. Er las ihr jeden Wunsch von den Augen ab, lieferte sich dieser Beziehung ganz und gar aus.
Er hatte aufgehört, Strafverteidiger zu sein, weil er gemerkt hatte, dass sie damit nicht fertig werden würde. Er hatte den unspektakuläreren Weg des Staatsanwaltes gewählt ihr zuliebe.
„Wenn du ganz und gar dahinterstehst, machen wir das so!" erklärte sie gerührt.
So flogen sie zu ihrem nächsten Eisprung nach London.
Neun Monate später holten sie die wunderhübsche Leonie aus der Ukraine nach Hause. Die Leihmutter sprach kein Wort, obwohl Ronja extra ein paar Worte in ihrer Sprache gelernt hatte. Sie wirkte etwas traurig, aber diesen Eindruck verdrängten die glücklichen Eltern.
Sie wunderten sich auch nicht, dass die Restsumme in englischen Pfund bezahlt werden sollte.
Das war eine Schwachstelle, die Dr. Schneider etwas befürchtet hatte.
Aber, einen so großen Betrag in Euro oder in ukrainischen Griwna in Pfund umzuwechseln, wäre zu riskant gewesen.
Leonie war das Superkind schlechthin. Die Halbgeschwister und die Großeltern waren vom ersten Moment an bezaubert. Sie hatten im Vorfeld überlegt, ob Ronja die Schwangere spielen sollte oder ob sie mit offenen Karten spielten, und hatten sich für letzteres entschieden.
Es wäre ja auch Betrug am Arbeitgeber gewesen, sie hätten falsche Atteste gebraucht, und vor aufmerksamen Teenagern ein solches Theater aufzuführen, wäre schier unmöglich gewesen.
Das Glück im Hause Fellner war komplett. Doch drei Monate später schien sich ein noch größeres Wunder als die kleine Leonie es war, anzubahnen.
Ronjas Periode blieb aus, und sie musste ein paar Tage lang brechen.
Julian war außer sich vor Sorge. Was hatte sie sich denn da für einen schlimmen Virus eingefangen? Doch die ganze Familie blieb verschont.
Als sie aber dann plötzlich begann, Schokolade in sich hineinzustopfen, musste er lachen. Sie hatte Süßes immer verabscheut.
„Man könnte glauben, du bist schwanger!" Als er es ausgesprochen hatte, hätte er die unbedachten Worte am liebsten zurückgenommen. Wie unsensibel er doch war.
Doch Ronja stockte, fasste sich an die Brüste. Sie schmerzten schon eine ganze Weile, und ihre Periode war immer ausgesprochen pünktlich gekommen.
Julian sah ihren Blick und verstand augenblicklich. Er raste zur Apotheke und kam mit einem Schwangerschaftstest zurück.
Bange Minuten später blinkte ein wunderbares „positiv" auf.
Sie tanzten lachend durchs Zimmer. Die Kinder kamen mit dem Opa von der Schule zurück, fanden die beiden im Glückstaumel.
Sie mussten grinsen. Der Vater und die wunderbare Ronja, die etwas zwischen großer Schwester und Mutter war, waren schon immer etwas crazy, aber heute drehten sie wohl voll auf!
„Ihr bekommt noch ein Geschwisterchen!" jubelte Julian.
„Macht nur weiter so!" antwortete Patrick trocken. „Ich werde dann Trainer von der Fußballmannschaft!"
Greta holte Leonie, die durch das laute Lachen aufgewacht war, aus ihrem Bettchen, tanzte mit dem süßen Schwesterchen zu den anderen zurück.
„Schau mal, was wir für verrückte Eltern haben!" sagte sie zu der Kleinen.
Opa Ingo holte mit Tränen in den Augen Carmen, seine Frau. Sie ließen sich etwas Zeit, brauchten auch etwas Zeit, um das Glück zu verdauen, dass ihr Augenstern so glücklich geworden war mit der Räubertochter, die vor allem Herzen raubte.
Ein paar Tage vor der Geburt schloss Ronja das Referendariat mit Bestnoten ab. Ihr Chef wollte sie umarmen, als er ihr die Urkunde überreichte, kam aber nicht um sie herum. Die Umstehenden lachten bei dem Anblick.
„So jetzt wird's aber langsam Zeit für den Mutterschutz!" merkte der Boss an. „Und danach würden wir uns freuen, Sie als Staatsanwältin und EDV-Beauftragte bei uns begrüßen zu können!"
Ronja verschlug es die Sprache. Das war ihr Traum gewesen.
Dann brachte Julian sein kleines Walross, wie er sie liebevoll nennen durfte, nach Hause.
Eine Woche später kam ein wunderhübscher Junge, den sie Marlon nannten, zur Welt.
Die Familie war komplett.
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