Teil 30 Die nächsten Jahre - Tim und Judith II
Nach einem Monat grübelte Judith. Wenn er zu ihr zöge, könnte er die Miete für die WG sparen. In den letzten Tagen waren sie sowie so die meiste Zeit bei ihr gewesen.
Die Wohnung lag auch viel näher an der Uni. Er könnte viel Fahrtzeit sparen.
Aber noch war ihre Beziehung sehr neu. Sie wollte ihn auf keinen Fall kränken.
Doch auch hier zeigte sich sein gesunder Menschenverstand. Als sie eines Abends vom Joggen zurückkamen, stand er nachdenklich auf dem Balkon.
„Ich könnte eigentlich ganz herziehen. Das mit dem Pendeln wird auf Dauer öde!" sagte er seelenruhig.
Judith musste direkt lachen, doch er wusste, dass sie sich nicht über ihn lustig machte. Spielchen spielten sie nie. Er lächelte, wie sie es so süß fand, seine Bernstein-Augen blitzten sie an.
„Gute Idee?" fragte er, weil er ihren Blick und ihr Lachen vollkommen richtig deutete.
„Superidee! Könnte von mir sein!" antwortete sie.
„War sie wahrscheinlich auch. Du hast dich nur nicht getraut zu fragen!" erklärte er bestimmt.
Er nahm sie in die Arme, roch den Schweiß auf ihrer immer duftenden Haut, wurde schlagartig hart. Oft musste er über sich selbst grinsen, wie er auf sie reagierte. Ein Lächeln, ein tiefer Blick, eine zufällige Berührung, ein zweideutiges Wort – und schon war er erregt.
Aber er wusste, ihr ging es nicht viel anders. Die Chemie zwischen ihnen stimmte hundertprozentig, und ihre Körper passten perfekt zusammen. Deshalb bekamen sie auch nie genug voneinander, deshalb fielen sie immer wieder in diesen Rausch.
So! dachte er gottergeben. Diese Gedanken haben auch nicht gerade dazu beigetragen, um runterzukommen. Die nicht und auch nicht der leicht salzige Geschmack, den er von ihren Lippen küsste.
„Komm duschen, Süße!" bat er sie. Von ihren Sportklamotten befreiten sie sich auf dem Weg ins Bad.
Dann liebten sie sich unter dem prickelnden Wasserstrahl, wie sie es beide so mochten.
Danach trockneten sie sich gegenseitig ab, was natürlich wieder zu vielen wunderschönen Berührungen führte. Aber das Bett war ja nicht weit.
Am nächsten Tag holten sie seine restlichen Sachen aus der WG. Viel war sowieso nicht mehr dort. Kai und Lars waren schon etwas geknickt, aber sie hatten es ja kommen gesehen. Welcher Mann zog schon ihre Gesellschaft der Judiths vor.
„Jetzt heulen die auch noch, die Deppen!" beschwerte sich Tim und wischte sich verstohlen über die Augen.
„Aber nicht wegen dir, du Affe! Nur wegen Judith!" erklärte Kai und nahm sie in die Arme.
Er hielt sie extra lang fest, grinste Tim an. „Beim Abschied darf man das!" erklärte er. Lars machte es ihm dann nach.
„Ihr könnt uns doch mal besuchen!" schlug Judith vor.
„Gerne! Wann bist du an der Uni, Tim?" Kai fing sich eine ordentliche Kopfnuss ein für diese Frage.
Den beiden Informatikstudenten tat es wirklich leid, dass der Doc auszog, noch mehr, da er sich so sehr zu seinem Vorteil verändert hatte, seit er mit Judith zusammen war.
Vorher war er zu ernst, zu grüblerisch, hatten ihn hin und wieder Selbstzweifel geplagt.
Seit er die junge Lehrerin getroffen hatte, strahlte er den ganzen Tag, und er strotzte vor Spaß am Leben.
Auch sein Professor bemerkte die Veränderung. „Na, Lehmann, wenn Sie so weiter machen, werden Sie nicht nur ein sehr guter, sondern auch ein sehr lustiger Arzt!" zog er ihn einmal auf, als Tim einen Spaß während der Vorlesung gemacht hatte.
Die Kommilitonen klopften auf die Tische. Sie hatten den ernsten Tim schon gut leiden können, weil er immer hilfsbereit war, aber diesen aufgedrehten Typen mochten sie noch lieber, vor allem die Damen!
Eines Tages gingen Tim und Judith Hand in Hand und schwer verliebt wie immer durch die Stadt. Da hörten sie von weitem Grölen, Schreie, Parolen.
„Ist da eine Demo?" fragte sie.
„Ja, eine von den rechten Dumpfbacken!" Er hatte es in der Zeitung gelesen.
„Die Typen will ich mir mal ansehen! Vielleicht gibt es ja eine Gegendemo!" Sie zog ihn in die Richtung, aus der die Megaphonsprüche kamen, sie reihten sich bei denen ein, die dem Mob entgegen gingen.
Als die ersten Steine flogen, zog Tim Judith blitzschnell aus der Menge. Doch sie blutete schon an der Stirne. „Mein Gott, Süße!" Er war kreidebleich.
„Das ist nur ein Kratzer! Ich habe den Kopf noch rechtzeitig weggedreht!" beruhigte sie ihn.
Da kam ein Pulk lachend auf sie beide zu.
„Na, Türkentussi? Hat's dich erwischt?" laberte einer los.
Tim blieb das Herz stehen. Der Idiot war einer seiner Brüder.
„Ah, Timmi! Machst du jetzt schon mit den Schicksen rum? Findest wohl kein deutsches Mädel mehr mit deinen verqueren Ansichten? Die wollen halt echte Kerle wie wir!"
„Wie uns!" verbesserte Judith spontan, ohne lang darüber nachzudenken. Die Lehrerin kam durch.
„Hä?" fragte der Typ mit dem kahlen Schädel.
„Echte Kerle wie uns, heißt das. Nicht: echte Kerle wie wir!" Sie stand in kämpferischer Körperhaltung vor dem hässlichen Kerl.
„Seit wann kann eine wie du denn Deutsch?" fauchte der.
„Seit 26 Jahren! Solltest du auch mal probieren! Macht Spaß, wenn die anderen verstehen, was man so von sich gibt. Soll auch bei den Weibern gut ankommen, also den deutschen natürlich, wenn man ihre Sprache beherrscht." Sie war voll in Fahrt.
„Hä?" fragte ihr Gegenüber wieder. Er verstand nur Bahnhof.
Tim musste lachen, trotz seiner Sorge um Judith und seiner Wut auf Christian. Sie faltete ihn ganz schön zusammen, seinen Bruder.
„Nicht, dass das irgendwie wichtig wäre für mich, aber Judith ist sehr deutsch. Weil sie dunkle Augen und Haare hat und im Sommer braun ist, heißt gar nichts, außer dass sie eine verdammt schöne Frau ist!" erklärte Tim.
Christian sah seinen Bruder verblüfft an. Der trumpfte ganz schön auf! Und hübsch war das Mädchen schon, da musste er ihm recht geben.
Aber frech! Glaubte er zumindest! Er suchte nach Gerald, wollte weg von den beiden Quasselstrippen. Als er den Jüngeren entdeckte, haute er wortlos ab.
„So! Das war Christian, der Ältere. Gerald, der Jüngere ist noch blöder." Er sah sich ihre Kopfwunde an. „Zeig mal, Süße. Nein, da hast du echt gut reagiert. Ist nicht schlimm. Die Schönheit hat nicht gelitten!"
So verging der Sommer, das Schuljahr begann, kurz darauf Tims vorletztes Semester.
Judith arbeitete viel, genoss Tims Interesse an ihrem Job.
Ihre Schüler bemerkten die Veränderung, die bei ihr stattgefunden hatte.
„Hej, Frau Stark! Sie sehen ja echt toll aus! Haben Sie sich verliebt?" fragte Max, einer der vorlautesten.
Kemal, der heimlich für sie schwärmte, haute ihm in die Rippen.
Dann hatten sie die alltägliche Rangelei, die alltägliche Strafarbeit, die alltägliche Standpauke. Anschließend konnten sie eine Art von Unterricht beginnen.
Es war ein stetigerer Kampf um kleine Schritte, Wissen und Benehmen des zusammen gewürfelten Haufens mit achtzehn verschiedenen Nationalitäten zu verbessern.
An manchen Tagen hatte sie das Gefühl, nur rückwärts zu gehen. Doch Chef und Eltern versicherten ihr oft, dass sie ihre Arbeit gut machte. Die Kids gingen gerne zu ihrem Unterricht, machten hin und wieder sogar Hausaufgaben, fluchten nur noch in jedem zweiten Satz, hörten auf zu schlägern, wenn der Gegner am Boden lag.
Sie hatten begriffen, dass ein „Fick dich!" schlecht befolgt werden konnte, dass es ein oder zwei Adjektive mehr gab als „geil" und „voll geil", und dass „Deine Mutter ist eine Hure!" eine wirklich schwere Beleidigung war.
Als sie mit dem Job angefangen hatte, hatte sie Visionen gehabt, große Träume von Leben, die sie verändern konnte, von jungen Menschen, die durch sie alle Chancen bekamen.
Aber ihre Erwartungen hatte sie sehr zurückgeschraubt.
Dann war auch endlich die Scheidung durch, sie nahm ihren Mädchennamen Jansen wieder an, schloss das Kapitel Ehe mit Peter Stark ein für alle Mal ab.
Ein bisschen Schadenfreude durfte sie auch empfinden, als sie Sandy vor dem Gericht stehen sah. Sie fiel Peter um den Hals, warf ihn fast um mit ihren mittlerweile sicher zwei Zentnern.
„Jetzt können wir endlich heiraten, Schatzilein!" rief sie mit ihrer alles andere als dezenten Stimme.
Peter sah Judith an, zuckte mit den Schultern. Ich zahle für meinen Fehler! hieß das wohl.
Fast tat er ihr ein wenig leid. Aber nur fast.
Das Schuljahr endete, Tims letztes Semester war vorbei. Er hatte als Jahrgangsbester abgeschlossen, seine Doktorarbeit war summa cum laude bewertet worden, er hatte sich seine Stelle als Facharzt in Ausbildung aussuchen können.
Doch natürlich wählte er die Charité in Berlin. Es war von Anfang an sein Traum gewesen, dort arbeiten zu können.
An seinem letzten freien Tag führte er sie groß zum Essen aus. Stolz betrat er neben der Schönheit das exklusive Lokal, stolz hing sie am Arm des gutaussehenden Mannes mit dem immer noch süßen Lächeln und den Wahnsinnsaugen.
Verliebter denn je genossen sie das vorzüglich Essen, ignorierten die dekadenten Preise.
Judith wunderte sich manches Mal, dass sie ihn immer mehr liebte, ihn immer mehr begehrte, immer verrückter nach ihm wurde.
Da hieß es doch immer, nach einem Jahr würde die Anziehung nachlassen. Aber bei ihnen war es gerade anders herum.
Die durchliebten Nächte häuften sich. Und nach diesen Nächten flogen sie strahlend durch die Tage.
Er war die Liebe ihres Lebens, der große kräftige Typ, in den sie hinein gerannt war, als sie mit den Gedanken bei ihrem Ex war.
Mein Gott! Wie lange war das her? Zwei Stunden? Drei Tage? Ein Jahr?
Nach dem Nachtisch kam ein Geiger an ihren Tisch. Musiker verdienten sich immer wieder ein Zubrot mit diesen Auftritten. Judith erkannte die Melodie, die er spielte. „Now and forever, I will be your man!" von Richard Marx.
Beim zweiten Refrain kniete sich Tim doch tatsächlich vor sie und sagte: „Heut und für immer, wär ich gern dein Mann!" Mit dem Singen hatte er es nicht so.
Der Geiger hörte auf zu spielen, die anderen Gäste sahen interessiert zu dem schönen Paar.
Na, das war ja heute Mal was fürs Herz!
„Darf ich hoffen, süße Judith, dass du ja sagst?" fragte er leise.
Sie lächelte, sah, dass die Augen aller Gäste auf ihr lagen.
„Was meinen Sie, was ich diesem tollen Mann mit dem süßen Lächeln und den Wahnsinnsaugen antworten werde?" fragte sie.
„Ja!" brüllten alle.
„Wie recht Sie doch haben!" antwortete sie.
Er riss sie in seine Arme, bedeckte ihr Gesicht mit tausend Küssen. „Ich danke Ihnen!" rief er den Gästen zu, die lachend Beifall spendeten.
Er holte eine kleine Schatulle aus seiner Jackentasche. Die eingesparte Miete des letzten Jahres hatte er sehr gut investiert. Er steckte ihr den Ring an den Finger. „Einmal möchte ich aber das Ja schon von dir hören!" scherzte er.
„Ja! Ja! Ja!" flüsterte sie.
„Gut! Dann eben dreimal! Eine folgsame Ehefrau wirst du wohl nicht werden!" flüsterte er zurück.
Der Chef des Restaurants spendierte für alle Gäste ein Glas Champagner.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top