Teil 21 Etwas beginnt - Luca und Anna I
Das letzte Paar treffen wir in Dresden. Sozialpädagogin Anna und schwerreicher Unternehmersohn Luca - da prallen zwei Welten aufeinander!
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Luca fuhr zum Treffpunkt. Er war voll Vorfreude. Heute würde er es diesem Prolo-Typen zeigen, wer Eier in der Hose hatte.
Hatte der ihn doch tatsächlich herausgefordert! Als ob dessen Schrottkiste auch nur den Hauch einer Chance gegen seinen getunten Flitzer hätte.
Heute galt es!
Um 3 Uhr morgens würden die Straßen durch die Stadt leer genug sein für das Rennen. Außerdem gab es bei diesen Events immer eine Reihe von willigen Damen, die sich für ein paar Euro auch mal zu einem Dreier überreden ließen.
Das war sein Tag heute, das würde seine Nacht werden - mit allem, was das Leben lebenswert machte. Danach würde er wieder ein paar Tage studieren, damit sein alter Herr zufrieden war.
Die Prüfungen würde er sowieso schaffen, er war ziemlich gut drauf. Das passte so, denn da blieb noch genug Zeit, um zu leben.
Früh genug würde er in die Fußstapfen seines Vaters treten müssen, dann wäre es vorbei mit dolce vita.
Er sah schon von Weitem die Menschenmenge. Na, da hatten sich ja ordentlich Zuschauer eingefunden!
Umso mehr Spaß würde es machen. Mit quietschenden Reifen kam er am Startpunkt an, lächelte seinen Herausforderer mitleidig an, bedachte dessen Wagen mit einem abschätzigen Blick.
„Noch kannst du es dir überlegen!" sagte er grinsend.
„Shut up!" antwortete der andere nur.
„Okay! Lass es uns hinter uns bringen! Ich freu mich schon auf meine Siegesfeier!"
„Pf!" machte der Gegner nur.
Sie losten aus, wer welche Spur bekam.
Luca zog die rechte. Das war jetzt nicht so ganz gut, links fuhr er immer lieber. Da kam ihm sicher nichts in die Quere.
Sie stiegen ein, ließen die Motoren aufheulen. Die Startflagge hielt eine dralle Blondine, deren Möpse fast aus dem Ausschnitt quollen.
Na, das wäre ja schon mal eine! dachte er. Sie schwankte zwar etwas, war entweder blau oder zugedröhnt, aber für das, was er von ihr wollte, würde sie schon noch taugen.
Er sah sich nach einer zweiten Mieze um. Ah! Die große Schlanke dort in der ersten Reihe wäre doch ein gutes Pendant! Den Kaugummi, auf dem sie mit offenem Mund herumschmatzte, würde sie schon freiwillig ausspucken, wenn sie etwas Besseres bekam.
Das Kommando ertönte, die Fahne senkte sich, die Konkurrenten traten das Gaspedal durch.
Luca ging klar in Führung.
Start- Ziel- Sieg!
Was denn sonst? dachte er.
Sie rasten Kilometer um Kilometer über die Autobahn um die Stadt, die, wie erwartet, leer war.
Doch was war das da vorne? Ein Wagen, ein Kleinwagen, ein verdammt langsamer Kleinwagen!
Er sah in den Rückspiegel, der Verfolger war schon sehr nah, eigentlich zu nah!
Trotzdem scherte Luca aus, raste an dem Hindernis vorbei, scherte unmittelbar danach wieder ein.
Er bemerkte nicht, dass die Fahrerin erschrocken das Steuer verriss und die Leitplanke touchierte.
Zitternd saß die Frau auf dem Fahrersitz, war aber geistesgegenwärtig genug, den Polizeinotruf zu wählen, um das Rennen anzuzeigen.
So erwarteten Luca im Ziel keine Miezen zum Vernaschen, sondern zwei Polizeiautos.
Und die Nacht verbrachte er nicht zu dritt in einem Hotelbett, sondern alleine in der Arrestzelle des Reviers.
Der andere Fahrer hatte den Vorfall beobachtet und sich aus dem Staub gemacht. Die Zuschauer hatten Fersengeld gegeben, als die Bullen angerückt waren.
So war er der Einzige, den sie hatten krallen können, und sie freuten sich diebisch darüber, dass sie ausgerechnet den Sohn von Walter Wissmann geschnappt hatten, der kein unbeschriebenes Blatt war.
Am nächsten Tag ging der Firmenanwalt zusammen mit ihm zum Haftprüfungstermin.
„Dein Vater ist nicht gerade glücklich!" untertrieb er gewaltig. „Wirst du denn nicht endlich mal erwachsen?"
Dr. Bartels kannte den Firmenerben seit seiner Geburt. Normaler Weise war er ein toller junger Mann.
Fleißig, begabt, gut erzogen!
Doch hin und wieder drehte er durch!
Mal eine Schlägerei, mal ein Verkehrsdelikt.
Nichts wirklich Schlimmes, nichts mit Drogen oder Alkohol, aber in der Summe konnte es langsam gefährlich werden für den Sohn seines besten Freundes.
Luca stapfte sauer neben ihm her. Jetzt konnte er sich wieder tagelang diese Volksreden anhören.
„Du kannst nur froh sein, dass der Frau nichts passiert ist!" gab der Anwalt zu bedenken. „Sonst wärst du dieses Mal sicher dran gewesen!"
Das allerdings machte Luca doch zu schaffen! Dass er jemanden hätte ernsthaft verletzen können. Und er hatte es nicht einmal mitbekommen in seinem Geschwindigkeitsrausch.
„Es kann auch so knapp werden, mit deinen Vorstrafen und deinen Belehrungen!" machte der Anwalt weiter.
„Wie? Knapp? Du meinst: Knast?" Luca sah den Vertrauten seines ganzen Lebens entsetzt an.
„Ja, langsam strapazierst du die Geduld der Richter schon sehr! Also! Sei geknickt! Zeig Reue! Biete von dir aus Wiedergutmachung an!"
So betrat ein millionenschwerer junger Mann mit gesenktem Kopf das Büro des Richters.
Als er die Augen hob, schöpfte er Hoffnung.
Eine Frau!
Eine Richterin!
Da würde er es leichter haben. Mit Frauen konnte er gut.
„Herr Luca Wissmann?" fragte sie sicherheitshalber.
Er erinnerte sich an die Worte seines väterlichen Freundes, senkte den Kopf und sagte leise und unterwürfig: „Ja!"
Sie war etwas überrascht, man hatte ihr den jungen Mann als sehr forsch auftretend geschildert.
„Sie haben heute Nacht wieder einmal ordentlich Mist gebaut!" fuhr die Richterin fort.
„Ich weiß!" antwortete Luca, und seine Zerknirschtheit war nur zum Teil gespielt. „Ich habe ein Menschenleben gefährdet, unbedacht aufs Spiel gesetzt. Das wird nicht mehr vorkommen. Ich werde es wieder gut machen. Ich kaufe der Frau ein neues Auto. Sie kann sich aussuchen, welches sie will. Und ich spendiere ihr einen Urlaub, wohin sie auch immer möchte. Und ich werde sie persönlich um Verzeihung bitten. Und ich verspreche, dass ich nie wieder Rennen in der Stadt fahre und auch außerhalb nicht. Und dass ich auch sonst keinen Mist mehr bauen werde."
Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Bei den letzten Sätzen sah er die Richterin mit seinem oft geübten Dackelblick an.
Dr. Bartels hoffte nur, dass sein Schützling nicht zu dick aufgetragen hatte.
Die Juristin sah Luca lächelnd an und zerriss ein Blatt Papier. Es war keine Rechtsbeugung, wenn sie von der Eröffnung eines Verfahrens absah und dem reumütigen Sünder noch eine letzte Chance gab.
„Ich hatte eigentlich vorgehabt, ein Verfahren zu eröffnen, da sie ja in der Vergangenheit immer sehr uneinsichtig gewesen waren. Aber ich werde noch einmal davon absehen, weil ich denke, dass der Geschädigten mit Ihren Plänen mehr gedient ist, als wenn Sie in den Knast gehen. Ich werde deshalb im Schnellverfahren anordnen, dass Sie 30 Stunden Sozialarbeit ableisten, und zwar bei der Dresdner Obdachlosenhilfe in der Essensausgabe."
Er musste ja nicht wissen, dass das Sozialprojekt ihre Tochter Anna ins Leben gerufen hatte. Die würde den jungen Mann schon ordentlich an die Kandare nehmen. Er war nicht der erste, den sie ihr ans Herz gelegt hatte.
„Sie melden sich jeden Tag pünktlich um 12 Uhr in der Küche. Am Sonntag fangen Sie an. Was Sie aus Ihren Plänen der Geschädigten gegenüber machen, überlasse ich Ihrer Ehrenhaftigkeit. So, und jetzt hoffe ich ernsthaft, dass weder ich noch meine Kollegen Sie je wiedersehen werden!" schloss sie.
Luca atmete auf. Er war noch einmal mit einem blauen Auge davon gekommen. Dreißig Tage lang ein bisschen Suppe schöpfen, da war ja wirklich nichts dabei. Kurz wollte er noch etwas gegenmaulen, am Sonntag fand das große Beach-Volleyball-Match am See statt, aber er schluckte den Einwand gerade noch hinunter.
*
Anna legte ihre Schürze und das Kopftuch ab, schüttelte die langen, roten Haare aus.
So, hatte sie ihre Mittagspause auch gehabt.
Der Typ, den ihre Mutter letzte Woche zu Sozialstunden verdonnert hatte, war natürlich wieder nicht aufgetaucht. Dadurch hatte sie jetzt schon den zweiten Tag aushelfen müssen.
Nachmittags ging dann der ganz normale Wahnsinn im Büro und beim Außendienst weiter.
Vielleicht hätte sie doch auf ihre Eltern hören und Jura studieren sollen, wie die beiden und ihre Geschwister.
Aber nein!
Es hatte ja unbedingt Sozialpädagogik sein müssen!
Heute hatte das Essen wieder nicht für alle gereicht, sie hatte viele wegschicken müssen.
Das tat jedes Mal auf Neue weh.
Aber zum Glück hatte sie am Spätnachmittag einen Termin beim Sozialreferenten der Stadt.
Zum Glück für die Armen, die immer mehr zu werden schienen, aber nicht zum Glück für sie.
Sie würde wieder seine Bitte, mit ihm auszugehen, ablehnen, er würde wieder finster dreinschauen, und wieder extra lange brauchen, bis er ihr mehr Geld bewilligte.
Eigentlich kotzte sie dieses Spielchen an, in den heutigen Zeiten!
Aber sie hatte weder Kraft noch Zeit, etwas gegen ihn zu unternehmen. Außerdem, wie sagte man: Es kommt selten etwas Besseres nach.
Die Suppenküche – sie wehrte sich gegen das Wort Armenspeisung – war ihr Baby.
Angefangen hatte es damit, dass sie einem Bettler ein warmes Essen von einem Kiosk brachte, ihm dafür seine Münzen wegnahm, die sich in einer Schachtel angesammelt hatten.
„He! Was soll das!" hatte er gemault.
„Du versäufst es ja sowieso nur!" hatte sie geantwortet.
Dann war sie von seinen Flüchen begleitet wieder zum Kiosk gegangen, hatte von seinem Geld das nächste Essen gekauft, um es dem Alten, der um die Ecke saß, zu bringen. Auf diese Weise hatte sie die ganzen Bettler der Stadt mit einer warmen Mahlzeit versorgt.
Damals war sie noch Studentin gewesen.
Sie hatte das ein paar Wochen durchgezogen, bekam langsam Plattfüße von ihren Rundläufen. Doch ihre Idee sprach sich schnell rum, ihr Professor organisierte Teams aus den Reihen der Kommilitonen, die sie unterstützten.
Viele Mitbürger spendeten extra für die Bettler, sie konnten Geld zurücklegen für den Winter, wenn die Touristen weniger wurden.
Was die Bettler nach der Mittagszeit einnahmen, konnten sie behalten.
Dann machte sie ihren Abschluss. Ihre Doktorarbeit befasste sich mit der Gründung einer Suppenküche, finanziert aus Mitteln der Stadt und Spenden.
Als sie an ihrem Arbeitsplatz im Sozialamt Fuß gefasst hatte, nahm sie das Projekt in Angriff. Seit zwei Jahren gab es die Anlaufstelle für Obdachlose in einer ehemaligen Kaserne mittlerweile.
Anna hatte tausend Pläne, hasste die Ungerechtigkeit des Schicksals, das die einen mit Geld überschüttete und die anderen vergaß.
Was fehlte, waren die Mittel zur Umsetzung ihrer Vorhaben. Sie bettelte sich von Firma zu Firma, schaltete Anzeigen auf eigene Kosten, mit denen sie um Spenden bat, betrieb eine Internetseite zum gleichen Zweck.
Jetzt musste sie zu der Familie, zu denen sie heute Nacht ein fünfjähriges Mädchen zur Nothilfe gebracht hatten. Kriminalbeamte hatten Fotos von der Kleinen im Darknet gefunden.
Schwerer Missbrauch war dort zu sehen gewesen, viel Kleinarbeit hatte schließlich zur Identifizierung des Mädchens geführt.
Anna bewunderte die Beamten unsäglich, die sich diesen Mist Tag für Tag reinziehen mussten. Und für jeden Pädophilenring, den sie aushoben, wuchsen wie Pilze neue nach.
Nun galt es, ein fünfjähriges Kind ein schreckliches Trauma vergessen zu lassen. Die Familie Schreiner hatte schon eine Reihe von Kindern in Notpflege aufgenommen, sie liebevoll aufgebaut, bis sie weiter vermittelt werden konnten.
Spontan kaufte sie einen Strauß Blumen, für Anerkennung war immer zu wenig Zeit im hektischen Alltagsleben. Rosmarie Schreiner freute sich über den Strauß. Sie mochte die junge Sozialarbeiterin sehr, die trotz ihres eigenen Leides immer für andere da war.
Die kleine Philo spielte selbstvergessen mit einer Barbiepuppe.
„Sie spricht nicht! Wir haben schon Kontakt mit der Psychologin aufgenommen. Mein Mann fährt heute Nachmittag mit Philo hin." berichtete sie.
Anna war froh. Diese Leute dachten selbstständig, nahmen ihr damit viel Arbeit ab.
Sie fuhr ins Büro. Eine Menge an Schreibkram hatte sich angehäuft. Da würde sie am Wochenende wieder Sonderschichten einlegen müssen. Eigentlich hatte sie ja ein paar Wochen an Überstunden, ihr Urlaub verfiel meistens, bis auf ein paar Tage für Familienfeiern.
Aber seit einem Jahr hätte sie ja auch nicht mehr gewusst, was sie mit Urlaub anfangen sollte.
Um fünf Uhr ging sie ein paar Gänge weiter, klopfte an die Türe des Sozialreferenten.
Seine Sekretärin winkte sie lächelnd durch. Auch sie mochte Anna sehr, und sie mochte auch die Wortgefechte, die sich die junge Frau mit dem Chef lieferte. Durch die Türe konnte sie immer spannende Unterhaltungen belauschen.
Dr. Holger Bentwitz sprang auf, kam Anna lächelnd entgegen. „Ah! Meine Lieblingsmitarbeiterin! Nehmen Sie doch bitte Platz!"
Und dann verblüffte er sie vollkommen und total. „Frau Dr. Graber. Ich habe gestern mit dem Stadtrat einen harten Kampf geführt, einen Kampf für Sie und für die Benachteiligten unserer Stadt. Wir hatten ordentliche Steuereinnahmen im letzten Jahr, ich habe an das soziale Gewissen der Kollegen appelliert und die Verdoppelung Ihres Budgets für die Suppenküche durchgesetzt. Außerdem bekommen Sie eine zweite Küchenkraft, die dann auch bei der Essensausgabe helfen kann. Das Allerbeste daran ist allerdings, dass Sie nicht mit mir zum Essen zu gehen brauchen, die Mittel sind bereits angewiesen!" schloss er lächelnd.
Anna grinste ihn an. „Na, also! Geht doch!" Sie legte den Kopf schief. „Dafür könnte ich mich direkt entschließen, Sie auf einen Burger einzuladen!"
„Dann würde ich Ihnen raten, das ganz schnell zu tun!" erklärte er lachend.
Plaudernd und scherzend gingen die beiden zum Imbiss an der Ecke und ließen sich einen Berg Fastfood schmecken. Mit zwei Bechern Bier tranken sie auf „du", tauschten einen Bruderschaftskuss auf die Wangen aus.
„Warum hast du deine Strategie geändert?" zog sie ihn auf.
„Na, irgendwann begreift es ja der Dümmste, wenn er nicht landen kann. Da habe ich gedacht, dass mir deine Freundschaft eigentlich wichtiger wäre als eine Affäre!"
Er sah sie offen an. „Danke!" flüsterte sie gerührt.
Das war kein gar so schlechter Tag gewesen! dachte sie, als sie nach Hause fuhr.
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