Teil 16 Etwas beginnt - Benedikt und Lara I
In Frankfurt am Main arbeiten Notfallärztin Lara und Rettungssanitäter Benedikt seit Jahren zusammen. Beide sind glücklich mit anderen Partnern verheiratet.
Doch wie das Leben eben so spielt.......
______________________________________________________
Lara saß zusammengesunken auf dem Randstein. Sie hatte es nicht geschafft! Die schwangere Frau war ihr unter den Händen weggestorben, das Kind war schon beim Aufprall ums Leben gekommen.
Sie hatte alles getan, was menschenmöglich war. Sie hatte beatmet, Herzmassagen gemacht, Adrenalin ins Herz gespritzt. Und jetzt lag da auf der Straße, mit einer Plane abgedeckt, ein Mensch, der einem anderen Menschen alles bedeutet hatte.
Der die Welt aus den Angeln hätte heben können.
Der noch viele Jahre lang hätte lachen und lieben sollen.
Weil ein Betrunkener durch die Straßen gerast war, die Beherrschung über seinen Wagen verloren hatte, auf den Bürgersteig geraten war, auf dem die Frau mit ihrem Mann entlang gelaufen war.
Wahrscheinlich Hand in Hand, voll Vorfreude auf das erste Kind! Ihn hatte das Auto zuerst erwischt, hatte ihn über das Dach geschleudert, er hatte sich beide Beine gebrochen.
Doch krank vor Angst war er zu seiner Frau zurückgerobbt, hatte sie in seinen Armen gehalten, als sie trotz Laras Bemühungen starb. Sie hatten ihm eine kräftige Dosis Beruhigungsmittel spritzen müssen, um ihn in den Krankenwagen verfrachten zu können.
Der Rettungshubschrauber war innerhalb von Minuten vor Ort, aber sie hatte ihn wieder weggeschickt. Für die Frau konnte niemand mehr etwas tun!
Da nahm sie die Zuschauer um den Unfallplatz herum wahr, alle mit Handys in der Hand um die besten Plätze kämpfend. „Ihr kotzt mich an, ihr Aasfresser!" schrie sie unbeherrscht.
Sie sah auf ihr Handgelenk: 18.00 Uhr. Ihr Dreitages-Dienst war zu Ende, sie hatte drei Tage frei.
Nach Hause! schrie ihr Gehirn. Drei Tage schlafen! Sie hatte fast rund um die Uhr Einsätze gehabt, alles war gut gegangen, bis heute.
*
Benedikt versorgte den betrunkenen Autofahrer, überhörte stoisch dessen Beleidigungen, machte professionell seinen Job, auch wenn es schwer fiel. Aber solche Einsätze gab es immer wieder, dass er die Schuldigen am Leben erhalten musste, während er den Unschuldigen nur noch beim Sterben zusehen konnte.
Er machte sich Sorgen um Lara. Die junge Notärztin nahm sich alles immer noch zu sehr zu Herzen.
An jedem Tod fühlte sie sich mitschuldig. Er war nicht sicher, ob das das richtige Fachgebiet für sie war. Der Job auf der Straße war hart! Den schafften nur die Stärksten!
Seine Frau Saskia, ihr Mann Robert und sie beide waren locker befreundet, trafen sich hin und wieder zum Essen oder zu einem Theaterbesuch.
Immer wieder hatte Benedikt seine Bedenken Robert mitgeteilt, aber der hatte nur mit den Schultern gezuckt. „Sie wird schon wissen, was sie tut!" hatte er gemeint.
Er und Lara machten häufig zusammen Dienst. Er als Rettungssanitäter hatte einen fünf-Tage-Rhythmus, sie als Notfallärztin drei Tage. Er ging zu ihr, zog sie vom Randstein hoch. „Komm! Fahren wir zur Klinik! Und dann geht's ab nach Hause."
„Die Berichte müssen wir noch schreiben!" wandte sie ein.
„Ja! Klar!" Da würde sie nicht viel zu schreiben haben! dachte er bitter. Das würde sie wieder ordentlich runterziehen!
*
Eine Stunde später kam Lara zu Hause an. Auf der Heimfahrt hatte sie Visionen, dass Robert Abendessen gekocht haben könnte, ihr danach ein Bad einlassen würde, zuhörte, wie sie sich ihren Kummer von der Seele redete, sie mit einer Massage verwöhnte und danach mit heißem Sex ablenkte.
So war es am Anfang ihrer Beziehung gewesen, diesen Mann hatte sie freudig geheiratet.
Zwei Jahre war das erst her. Doch die Momente des Verwöhnens, des Verstehens, des Zuhörens waren selten geworden. Und auch der heiße Sex schien abzukühlen!
Irgendwie auch verständlich! Wer wollte schon jeden Tag eine zu Tode erschöpfte Ehefrau aufbauen, wer fand schon eine Frau begehrenswert, die noch eine Stunde vorher eine Leiche im Arm gehalten hatte.
Sie hatte sich das Erzählen immer mehr abgewöhnt, schluckte vieles einfach hinunter.
Als sie die Haustüre aufgesperrt hatte, wusste sie, dass ihre Visionen sich ganz und gar nicht erfüllen würde.
Aus dem Wohnzimmer drangen laute Ballergeräusche und zwei fluchende Männerstimmen.
O Gott! Das auch noch! Sein Freund Andreas war da, die beiden würden sicher wieder die halbe Nacht durch zocken.
Sie steckte den Kopf durch die Zimmertüre. „Hallo! Ich bin wieder mal da!" sagte sie.
„Jetzt nicht stören, Schatz!" bat Robert, nahm den Blick nicht vom Bildschirm. „Ah! Verdammte Scheiße!" fluchte er, warf den Kontroller wütend auf den Boden. Der Sieger Andreas klatschte sich auf den Schenkel, würdigte Lara keines Blickes.
Er wusste, dass sie ihn nicht leiden konnte, machte aus seiner Abneigung ihr gegenüber kein Geheimnis. Wenn sie nur mal verstanden hätte, was Robert an dem Typen fand!
Ihr Mann sah sie sauer an. „Du hättest ja auch ein wenig später kommen können!" beklagte er sich. Dann sah er sie verwundert an. „Sind die drei Tage schon wieder um? Du siehst übrigens schlimm aus!"
Das sollte wohl besorgt klingen, war aber knapp an der Grenze zur Beleidigung vorbeigeschrappt.
„Du könntest uns nicht schnell eine Pizza in den Herd schieben oder? Vorgeheizt ist schon."
„Eine, zwei, drei?" fragte sie gottergeben.
„Für uns zwei! Wenn du auch was magst, dann drei!" rechnete er ihr leicht genervt vor. Andreas lachte leise.
In Lara flackerte kurz das Gefühl auf, dass es möglicherweise nicht weit sein könnte von der Lebensretterin zur Mörderin, eventuell sogar zur Doppelmörderin!
Sie packte die Pizzen aus, legte sie auf die Bleche, stellte den Kurzzeitwecker auf 20 Minuten.
„Wenn es klingelt, solltet ihr essen! Ich hoffe, das könnt ihr alleine!" knallte sie den beiden hin.
Andreas sah kurz zu Robert. „Charmant wie immer, dein Weibchen! Die musst du mal ein bisschen erziehen!"
„Das!" korrigierte sie ihn. „Das Weibchen! Das muss er erziehen!" Du Volltrottel! hängte sie im Geist noch an. „Ich lege mich für ein paar Stunden in die Wanne und gehe dann schlafen!"
„Ich komm zum Rücken waschen!" witzelte Andreas und lachte laut über seinen Witz.
„Wenn du dein Leben als Kastrat verbringen willst!" knallte sie ihm hin und war ziemlich sicher, dass der Trottel das Wort nicht verstand.
Robert lachte. „Lass sie! Sie ist k.o.!" nahm er sie endlich in Schutz.
Kurz darauf geschah ein Wunder. Robert brachte ihr seine Pizza, in Teile geschnitten ins Badezimmer, dazu ein großes Glas Rotwein.
„Ich habe mir eine neue reingeschoben!" sagte er und küsste sie zärtlich. „Entschuldige! Ich habe mich um einen ganzen Tag vertan!"
„Na, dann sei froh, dass Andreas da ist und nicht eine Andrea!" Hatte er kurz gezuckt? dachte sie.
Nein, Quatsch! Sie durfte jetzt nicht zu fies sein, nur weil sie müde war.
Die Geste mit Pizza und Wein sah ganz nach dem alten Robert aus, und das auch noch, während sein Kumpel unten saß und ihn wahrscheinlich als Pantoffelhelden aufzog.
Sie schaltete mit der Fernbedienung einen Radiosender mit Kuschelmusik ein, genoss Essen, Trinken und das warme, entspannende Bad.
*
Benedikt brachte den Verletzten auf die Unfallstation, füllte die Berichtsformulare am Computer aus, schrieb den Bericht für die Polizei.
Bei einem Unfall mit Todesfolge musste alles akribisch genau festgehalten werden, der kleinste Fehler konnte vor Gericht fatale Folgen haben. Erst letztes Jahr hatte es einen Freispruch gegeben, weil ein Kollege den Vornamen des Täters falsch eingetragen hatte!
Dann ging er zur U-Bahn-Station. Seit ein paar Jahren fuhr er nicht mehr mit dem Auto zur Klinik, die in der City von Frankfurt lag. Die Innenstadt war regelmäßig dicht, und in der Bahn konnte er noch ein bisschen dahindämmern.
Er dachte über den Tag nach, dachte an Lara. Wenn er sie nur überreden könnte, auf einer Notfallstation zu arbeiten.
Aber sie wollte ihrem Vater etwas beweisen, der nie darüber hinweggekommen war, keinen Sohn, sondern so eine kleine zarte Tochter bekommen zu haben. Seine Frau war bei ihrer Geburt gestorben, was er ihr zusätzlich ankreidete.
Und sie wollte auch den Tod der Mutter ein wenig wieder gut machen, für den sie sich verantwortlich fühlte, indem sie die Menschenleben rettete, die früher dem Tode geweiht waren. Deshalb hatte sie sich auch für Notfallmedizin als Fachgebiet entschieden.
Auf den letzten Schritten zu seinem Haus hoffte er darauf, dass Saskia da wäre. Nach fünf Tagen hatte er ziemliche Sehnsucht nach ihr. Als er aufschloss, hörte er schon ihre Telefonstimme. Sie kam ihm entgegen, lächelte ihm zu, legte aber den Finger auf den Mund.
Er warf ihr einen Luftkuss zu, sie fing ihn auf, redete aber ununterbrochen weiter.
Gut, das konnte dauern! Ging er eben erst mal duschen! Als er an der Küche vorbeikam, schaute er hoffnungsvoll auf den Herd.
Nichts! Okay, hätte ja sein können, dass sie etwas gekocht hatte!
Das war auch eine Fehlinvestition, dieser High-Tech-Showroom! dachte er, als er die Treppe hinaufsprang.
Na gut, dann gab es eben wieder Fertigpampe aus der Gefriertruhe oder sie bestellten sich etwas.
Als er mit noch feuchten Haaren und bequemen Klamotten nach unten kam, hing sie immer noch am Handy.
Sie war Anwältin in einem Dax-Unternehmen und eigentlich rund um die Uhr im Dienst, der Preis für ein mehr als fettes Gehalt.
Doch heute war sie wenigstens physisch anwesend.
Seine Freude darüber währte nur kurz.
Sie beendete das Gespräch, schlüpfte zeitgleich in ihre Highheels, in denen sie sich so sicher bewegte wie andere Frauen in Sneakers.
„Ich muss noch mal los, Schatz! Diese unfähigen Idioten haben es total vermasselt!"
„Stop!" sagte er. „Hallo, Schatz!"
„Hallo, Schatz!" antwortete sie folgsam.
„Ich möchte dich jetzt küssen!"
Lächelnd wiederholte sie auch diesen Satz.
„Und ich hätte Lust wenigstens auf einen Quickie!" sprach er ihr vor.
„Nein, Benedikt! Ich habe wirklich keine Zeit!" wehrte sie ab, aber er sah das Glitzern in ihren Augen.
Er hob den Finger wie ein Oberlehrer.
„Wirst du ein braves Mädchen sein?" forderte er sie auf. Sie grinste ihn an, kam langsam auf ihn zu.
Er schob ihren Rock hoch, setzte sie auf die Anrichte. „Na, wenigstens dazu taugt die Küche!" flüsterte er ihr ins Ohr. Sie bog ihren Kopf zurück. Noch immer waren ihre Ohren hocherogene Zonen, und noch immer genossen sie beide den Sex - ob schnellen oder genussvollen!
Sie heizte ihn mit vielen ungezogenen Worten an, er kam schnell und sie kam mit ihm. Sie waren ein eingespieltes Team! Noch ein Klaps auf den Po, und weg war sie. Seufzend entsorgte er das Kondom und ging nochmal unter die Dusche.
Dann suchte er in den Listen der Lieferdienste nach etwas, auf das er Appetit hatte, entschied sich für Schnitzel und Kartoffelsalat.
Nach dem Essen setzte er sich vor die Glotze, eine Viertelstunde später war er eingeschlafen.
Als er mitten in der Nacht aufwachte, schien seine Frau noch nicht da zu sein. Er streckte sich, renkte seinen Nacken wieder ein und stapfte nach oben.
Nein, alles war noch verwaist!
Er legte sich aufseufzend in sein Bett. Irgendetwas musste sich ändern! Sie sahen sich nur noch zwischen Tür und Angel, ein schneller Kuss am Morgen, ein „Hallo! Gott bin ich fertig" am Abend.
Wann hatten sie zum letzten Mal miteinander geschlafen, also richtig, mit Vorspiel, Hauptakt und Nachspiel?
Er musste viele Dienste zurückgehen, bis er sich an einen Sonntag erinnerte!
Außerdem wollte er ein Kind. Langsam wurde es Zeit! Er war 35, sie 31! Aber noch weigerte sie sich strikt!
„Ich habe mich nicht so hochgearbeitet, damit ich jetzt Windeln wechsle und die ganze Nacht ein plärrendes Kind herumschleppe und mir so nebenbei noch meine Figur ruiniere!" hatte sie beim letzten Mal kategorisch erklärt.
Auf seinen Vorschlag, dass er in Elternzeit gehen könnte, hatte sie noch ablehnender reagiert.
„Freilich! Ich schaffe die Kohle ran, und du machst dir einen faulen Lenz!"
Ihre scharfen, aber auch irgendwie unlogischen Worte hatten ihn verletzt. Drei Tage lang war Sendepause gewesen zwischen ihnen.
Die Sendepausen häuften sich eigentlich in der letzten Zeit! Ständig war einer von ihnen beleidigt.
Irgendwie war sie auch furchtbar sprunghaft geworden. Heute ausgelassen, aufgedreht wie früher, am nächsten Tag dumpf vor sich hinbrütend, unansprechbar!
Morgen musste er mit ihr reden. Sie liebten sich doch. Sie wollten doch ihr Leben zusammen verbringen. Sie hatten es sich doch versprochen.
Da merkte er, wie es in seinem Bauch zu rumoren begann! O Gott! Der Kartoffelsalat! Er hatte es fast geahnt! Doch wider besseres Wissen hatte er die ganze Portion in sich hineingeschaufelt.
Er schaffte es gerade noch zur Toilette, wo er das ganze Essen sehr schnell wieder loswurde.
Er wusste, das würde bei ihm ein paar Tage anhalten. Er suchte im Arzneischrank nach Tabletten, war sicher, dass noch welche da waren.
Er war etwas wacklig auf den Beinen und eigentlich total übermüdet. Eine Packung mit Anti-Baby-Pillen fiel ihm aus der Hand, landete auf dem Fliesenboden und ging auf. Er hob sie auf.
Seltsame Blister waren das.
Er sah genauer hin, eigentlich waren es Tütchen.
Tütchen mit weißem Pulver.
Er öffnete eines, wollte nicht wahrhaben, was er sah, probierte mit dem kleinen Finger.
Koks!
Eindeutig!
Als Rettungssanitäter kannte er die meisten Rauschmittel, musste sie kennen, wenn sie zu Fällen mit Überdosis kamen.
Er setzte sich auf den Boden.
Koks!
Seine Saskia, seine Frau war eine Kokserin!
Ein Puzzleteil fügte sich zum anderen
Ihre Aufgedrehtheit.
Ihre Launen!
Ihre Arbeitswut!
Wie lange schon?
Was war echt gewesen an ihrer Beziehung, was war im Drogenrausch geschehen?
Sie kannte seine absolut ablehnende Haltung Drogen gegenüber. Er musste immer wieder die Opfer von diesem Scheiß zusammenkratzen, nur damit sie sich nach ein paar Tagen im Krankenhaus, kaum entlassen, wieder vollpumpten!
Er hatte die Anzeichen bei seiner eigenen Frau übersehen! Er hätte die erweiterten Pupillen bemerken müssen, aber sie hatte sehr dunkle Augen, da fiel es nicht so leicht auf.
Sie hatte ihm immer beigepflichtet, wenn er gegen die verdammten Drogen gewettert hatte, gegen die jungen Leute, die in die Sucht stolperten, um dazuzugehören!
Und zog sich wahrscheinlich gleich danach eine Line durch die Nase!
Weg! Er musste weg von all den Lügen, dem Betrug, dem Theater, zu dem sein Leben geworden war!
Nichts war echt gewesen!
Er packte eine Reisetasche, legte die Tütchen gut sichtbar auf den Küchentresen, wo sie vor ein paar Stunden einen Quickie durchgezogen hatten.
Das Blitzen in ihren Augen war auch nur Schauspiel gewesen! dachte er bitter.
Er rief sich ein Taxi, für die U-Bahn hatte er keinen Nerv um diese Uhrzeit. Er wollte vorerst in dem Appartement in der Klinik bleiben, das er während der Dienste bewohnte.
Er musste sein Leben komplett neu aufstellen, ohne Saskia, die er für die Liebe seines Lebens gehalten hatte.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top