Teil 14 Etwas beginnt - Julian und Ronja IV
So vergingen die nächsten Tage. Ronja wurde zu Julians Vertrauter, zu seiner Freundin und zu seiner Lehrmeisterin in Informatik.
Er war als Schüler durchaus nicht unbegabt, seit sein Interesse geweckt war.
Die Mitarbeiter einschließlich Carina spürten die Nähe der beiden zueinander. Sie schienen sich blind zu verstehen, aber es war nicht Sexuelles zu spüren, nur Freundschaft.
Frank unterließ seine Annäherungsversuche. Dem Mädchen war er sowieso nicht gewachsen.
Carina bewunderte Ronja wie eine Superheldin. Was die alles wusste, wie sie mit den ganzen komplizierten Geräten umging, was sie alles lernen konnte von ihr!
Ronja ging mit Julian zu Gerichtsterminen, hielt erste Plädoyers, die nicht nur Staatsanwälte umwarfen, sie machte Zeugenbefragungen, verwickelte die Unliebsamen in Widersprüche, den Liebsamen gab sie Selbstvertrauen.
Julian war vollkommen geflasht von ihrem Talent. Sie haute allen, die sich auf Dispute mit ihr einließen, Paragraphen und Präzedenzfälle um die Ohren, war ein juristisches Nachschlagewerk in Menschenform!
Nach zwei Wochen lud er sie zum Abendessen in einen Nobelschuppen ein.
„Ist deine Frau jetzt eigentlich schon ausgezogen?" fragte sie im Lauf des wunderbaren Menüs
Julian verdrehte die Augen. „Du kannst einem aber auch die beste Stimmung versauen!" knallte er ihr hin. „Nein! Und sie scheint auch nicht dran zu denken! Jedes Mal, wenn ich sie anrufe, faselt sie von ihrem Talent, ihren Chancen, wie wunderbar das Leben ohne mich und die Kinder ist, aber ich glaube, dass sie ständig blau ist!"
„Also ich glaube, dass sie eine schwere Persönlichkeitstörung hat. Dieses übersteigerte Selbstwertgefühl! Sie bräuchte echt professionelle Hilfe!"
Er griff nach ihrer Hand. „Das mag schon sein, Ronja! Aber ich fühle mich nicht mehr verantwortlich für sie. Uns geht es gut bei meinen Eltern, soll sie im Haus bleiben, sich zu Tode saufen oder nicht! Es ist mir echt egal!"
Was mich interessiert bist eigentlich du, Räubertochter! Er wunderte sich über diesen Gedanken, aber er wusste, dass er stimmte. Das Mädchen schwirrte ihm schon sehr oft im Kopf herum!
Aber sie war so jung! Er hatte zwei Kinder, eine noch nicht abgeschlossene Ehe!
Er riss sich zusammen.
Schließlich brachte er sie nach Hause. Vor der Türe sagte er leise: „Du könntest eigentlich mit mir und den Kindern morgen einen Ausflug in die Eifel machen!"
„Könnte ich, ja!" antwortete sie und grinste ihn an.
„Und?" fragte er.
„Was, und? War das eine Einladung?" Ihre Augen blitzten schelmisch.
„Eine Einladung und eine Bitte!" Sein Herz raste unkontrolliert.
„Einladung angenommen, Bitte gewährt!" Ihr Herz raste wie verrückt.
Seine Stimme war etwas belegt. „Wir holen dich um zehn ab!" Dann drehte er sich unvermittelt um und fuhr weg. Sonst hätte er sie in seine Arme gerissen und schwindlig geküsst.
Ronja stand noch eine Weile vor der Türe und sah ihm nach.
Fuck! dachte sie, und dieses Wort hatte sie noch nicht oft gedacht in ihrem Leben!
Ich habe mich verknallt! Aber er interessiert sich nicht für mich! Das würde ich doch merken, oder?
Er ist freundlich, nett, kameradschaftlich! Aber er sieht mich nicht als Frau!
Wahrscheinlich hat er auch erst einmal die Nase voll vom weiblichen Geschlecht!
Sie schlief mit dem Handy, auf dem sein Bild war, ein, wachte damit am Morgen auf.
Sie fuhren zu einem Wanderparkplatz. Die Kinder hatten sie höflich begrüßt, waren aber noch ein wenig schüchtern. Sie wanderten bis zu einer Wiese, auf der Julian eine Picknickdecke ausbreitete.
Auf dem Weg dorthin waren die Kleinen ein wenig aufgetaut. Sie lachten über Ronjas Witze, machten Fotos und Selfies mit ihrem High-Tech-Gerät, erzählten von der Schule. Sie hatten schon Sommerferien, Patrick würde danach aufs Gymnasium gehen, Greta kam in die dritte Klasse.
Sie machten sich über die Leckereien her, die Julians Mutter eingepackt hatte. Danach spielte sie Frisbee mit den Kindern, tollte ausgelassen herum. Sie schlug aus purer Lebenslust ein Rad, bei dem ihr weiter Rock nach unten rutschte und den Blick auf ein gefährliches rotes Spitzenhöschen freigab.
Julian schloss schnell die Augen.
Greta lachte sich kringelig. „Sie war fast nackig! Hast du das gesehen, Papa?"
Er wurde nur ein kleines bisschen rot, als er seine Tochter anschwindelte. „Nein! Ich habe gerade in den Himmel gesehen!"
Danach spielten sie alle zusammen Fußball. Ronja donnerte den Ball über die Wiese, dass die anderen sich die Hacken ablaufen mussten, um ihn zu bekommen.
Müde fielen alle auf die Decke.
Für die Erwachsenen gab es Kaffee aus der Thermoskanne, für die Kinder Kakao. Der Kuchen, den die Oma noch eingepackt hatte, schmeckte wunderbar.
Julian konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so glücklich gewesen war, und ob überhaupt je einmal!
Die Kinder schmiegten sich an ihn. „Das ist ein wunderschöner Tag!" seufzte Patrick, was für einen Zehnjährigen schon eine eher ungewöhnliche Aussage war.
Julian musste die Augen schließen, um die Tränen aufzuhalten. Die Glückstränen über einen Tag, den sein Sohn wunderschön genannt hatte, der ihm damit aus der Seele gesprochen hatte.
Sie wanderten zurück. Die Kinder hatten je eine Hand Ronjas ergriffen. Julian versuchte seine neuen Kenntnisse anzuwenden und schoss eine Reihe von Fotos. Wider Erwarten klappte es.
Auf dem Heimweg gingen sie in einem Landgasthof essen. Die Bedienung lächelte die glückstrahlenden Kinder an. „Na, ihr habt aber eine hübsche große Schwester!" entfuhr es ihr.
Patrick reagierte toll. „Nicht wahr?" antwortete er altklug. „Und sie ist auch supernett!"
Julian verwuschelte seinem perfekten Sohn die Haare, dem perfekten Sohn, an dem seine Mutter nicht das geringste Interesse mehr zeigte.
Für ihn war das immer noch unbegreiflich. Sie hatte die Kinder geboren, sie musste doch irgendetwas für sie fühlen.
Doch er wollte heute nicht an Sandra denken. Er wollte lieber Ronja ansehen, die mit seinen Kinder Schnick-Schnack-Schnuck spielte und dabei so glücklich lachte wie die beiden Kleinen.
Sie brachten Ronja nach Hause. „Manno!" maulte Greta im Auto. „Warum kann sie denn nicht bei uns bleiben!"
*
Ronja setzte sich in ihr Arbeitszimmer. Sie verbot sich jeden Gedanken an den wundervollen Tag.
Sie würde auch sein Foto nicht ansehen. Er wollte nichts von ihr als Frau. Er wollte sie als Freundin, als Spielgefährtin für seine Kinder, als Vertraute, aber nicht sie als Frau in seinem Leben.
Nie berührte er sie, nie sah er sie an, als wäre sie ein weibliches Wesen, das ihm etwas bedeutete.
Sie musste dieses Jahr irgendwie überstehen, sie musste sich jetzt ablenken.
Sie öffnete den Ordner mit ihrer Doktorarbeit in Jura, schrieb eine Stunde lang wie besessen. Sie betäubte jedes Gefühl in sich für diesen Mann, der sie offensichtlich nicht wollte.
Als sie las, was sie geschrieben hatte, setzte ihr Herz ein paar Schläge aus. Die Worte, die da standen, hatten nur anfänglich mit dem juristischen Text zu tun, dann waren ihre Gedanken abgeschweift. Mitten in einem Fallbeispiel war sie in ihre Vergangenheit abgedriftet.
Es war ihre Geschichte. Der Verlust der Eltern, die schlimme Zeit danach, der Kampf, den sie geführt hatte. Noch nie hatte sie ihre innersten Gedanken aufgeschrieben, stets hatte sie sie in den hintersten Winkel ihrer Seele verbannt.
Heute mussten sie heraus! Warum heute?
Weil sie heute einen perfekten Tag erlebt hatte, so perfekt, wie die Tage ihrer Kindheit gewesen waren bis zu diesem verhängnisvollen Tag vor acht Jahren!
An dem ihre Welt zerbrochen war.
Die Welt, die sie seitdem mühsam versuchte, wieder zusammenzukleben.
Mit lockeren Worten, mit Fleiß!
Mit Hilfe für alle, aber ohne je Hilfe für sich einzufordern!
Sie war der nette Kumpel für alle geworden, hatte ihre Seele maskiert.
Und sie wusste, für wen sie diese Worte geschrieben hatte!
Für ihn!
Für den Menschen, dessen Trost sie brauchte.
Für den Mann, den sie getröstet hatte, der aber nie nachgefragt hatte, ob sie nicht auch eine verletzte Seele hatte.
Sie musste es ihm heute mitteilen.
Ohne lange nachzudenken, markierte sie den Text, speicherte ihn in einem neuen Dokument und sandte es als Textnachricht an den Mann, für den es bestimmt war.
*
Julian brachte seine Kinder ins Bett, setzte sich mit seinen Eltern noch auf ein Glas Wein zusammen.
„Die Kinder sind ja ganz begeistert von deiner Ronja." begann seine Mutter das Gespräch.
„Sie ist nicht meine Ronja." wehrte er ab, und sein Herz zog sich zusammen.
„Und warum nicht?" bohrte sie weiter.
Er sprang auf, lief im Zimmer auf und ab. „Sie ist so jung! Sie ist so unglaublich begabt in vielen Dingen. Sie hat eine grandiose Zukunft. Was soll sie denn mit einem Mann mit zwei Kindern? Soll ich mir in ein paar Jahren wieder anhören, dass ich ihr Leben zerstört habe?" stieß er hervor.
Seine Mutter nahm ihn in den Arm. „Sie ist nicht Sandra! Geschichten wiederholen sich nicht, mein Junge!"
„Und wenn doch?" flüsterte er.
„Niemand kann in die Zukunft sehen!" mischte sich sein Vater ein. „Aber deshalb die Zukunft abzulehnen, ist falsch!"
Julian sah ihn verwundert an. Der Vater war nicht gerade ein Mann der großen Worte, und er mischte sich auch selten ein. Aber dieses Mal hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen!
Er raste in sein Zimmer und wollte ihre Nummer wählen. Doch sein Handy meldete eine Textnachricht.
Mittlerweile war er schon so fit, dass er sie öffnen konnte. Und dann las er die Worte, die eine Räubertochter ihm geschickt hatte.
Eine Ronja, die Fürchterliches erlebt hatte, die sich durchgekämpft hatte, ein Mädchen, das etwas erlebt hatte, was kein 14jähriges Mädchen erleben sollte. Die Tränen liefen über sein Gesicht, und er verstand, warum sie ihm diese Zeilen geschickt hatte.
Sie hatten bisher immer nur über seine Probleme gesprochen, sie hatte ihm zugehört, sich um ihn gesorgt.
Aber heute wollte sie ihm sagen, dass das Leben auch ihr Wunden geschlagen hatte, dass auch sie Trost brauchte! Im Grunde mehr als er!
Er schämte sich.
Er hatte allen Ballast bei ihr abgeladen, ohne auch nur ein einziges Mal nach ihrem Leben zu fragen. Er war von einer glücklichen Kindheit und Jugend ausgegangen.
Wie überheblich!
Wie selbstherrlich er doch gewesen war!
Und er verstand, dass diese Nachricht bedeutete: Ich brauche dich! Tröste jetzt du mal mich! Ich bin noch lange nicht darüber weg!
Der Tag mit ihm und seinen Kindern hatten wohl das Trauma ihres Verlustes wieder erweckt, und er hatte nichts davon gefühlt-
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