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"Dachtest wohl, ich würde mich nicht erinnern?" John hält mich an meinem Handgelenk zurück. Ich kann mich nicht rühren, obwohl ich weglaufen will. Seine Berührung geht mir durch Mark und Bein, die Anziehung von damals ist heute noch spürbar. "Ich habe mich immer gefragt, wofür der Spitzname Chichi steht. Ich kenne die Anime Figur, doch dass du den Namen als Abkürzung für Charlotte nimmst, darauf muss man erstmal kommen." John redet weiter, als wäre die Situation nicht völlig daneben und unangenehm.
"Würdest du mich wohl loslassen?", frage ich und zucke kurz mit der Hand, die von ihm festhalten wird. Statt mir zu antworten oder mich loszulassen, steht John auf, bleibt ganz dicht vor mir stehen. Er überragt mich um etwa einen Kopf, da ich noch die Sandaletten trage. Er riecht angenehm nach einem Boss Parfum. Ich mochte diesen Duft schon immer - Mistkerl!
"Damit du davon laufen kannst? Wie damals?" Seine blauen Augen heften sich an die meinen. Es ist, als würde ich Mia ansehen. Sie hat eindeutig seine Augen. Auch wenn sie in dem schwachen Licht im Garten nicht das Leuchten zeigen, welches sie in sich tragen könnten.
"Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst", versuche ich abzuwehren.
"Nein?" John kommt noch dichter, neigt seinen Kopf, bis seine Lippen leicht mein linkes Ohr streifen. "Du willst mir erzählen, du weißt nicht mehr, wie ich dich da drüben", er deutet auf das Haus."in meiner Küche, und später dann noch in meinem Bett glücklich gemacht habe?" Seine Stimme ist rau, wie ich sie aus Interviews kenne. Unweigerlich bildet sich eine Gänsehaut auf meinen Armen. Die Erinnerung versucht mich zu überwältigen.
"Du musst mich verwechseln", starte ich erneut einen Versuch, die Situation abzuwenden.
"Ich denke nicht, Chichi", haucht John in mein Ohr. "Aber wenn du Beweise willst ..." Er löst sich von mir und kurz überkommt mich die Angst, John könnte uns womöglich beim Sex gefilmt haben. Jedoch, anstatt weiter zu reden, umrunden er mich, streicht mit einem Finger über meinen Arm zur Schulter und von dort weiter hinab. Auf meinem Hüftknochen verweilt er kurz, umfasst meine Hüfte dann mit beiden Händen. "Wenn du nicht die bist, für die ich dich halte, hast du sicher kein kleines Buch tätowiert", wispert er, tippt dann ganz sacht leicht links neben den rechten Knochen. "Genau hier."
Innerlich schüttelt es mich, denn John hat exakt auf das Tattoo getippt. Mir fehlen die Worte. Warum sollte er nach etwa vier Jahren noch wissen, wo ich was für ein Tattoo habe?
"Ich ...", beginne ich, breche jedoch ab, da ich nicht wirklich weiß, was ich überhaupt sagen will.
"Du weißt, ich habe recht", sagt er und ich höre das Grinsen. John kommt wieder um mich herum, eine Hand immer noch auf meiner Hüfte. "Ich wüsste zu gern, warum du damals einfach abgehauen bist und nie wieder etwas von dir hören gelassen hast." Erwartungsvoll sieht er mir in die Augen.
Kurz überlege ich, ob ich weiter so tun kann, als wüsste ich nicht, wovon er redet. Vielleicht würde es mir die Möglichkeit bieten, ihn hier stehen lassen zu können.
Als würde John meine Gedanken kennen, wird sein Griff plötzlich fester.
"Keine Spielchen, Chichi."
"Es war nur ein One-Night-Stand", sage ich schließlich. "Ich glaube, dazu gehört, dass man sich nicht wiedersieht. Außerdem haben wir ja gar nicht unsere Nummern ausgetauscht."
"Stimmt, haben wir nicht. Hätten wir aber vielleicht, wenn du am nächsten Morgen nicht weg gewesen wärst." John zieht mich zu den Stühlen, drückt mich auf einen nieder und setzt sich auf den anderen. Leise und mit bewussten Bewegungen rutscht er näher zu mir.
"Wozu?", will ich verdattert wissen. Zu dem Bild, welches ich von ihm habe, passt das Verhalten nicht. Er ist doch der große Macho, der eine Frau nach der anderen flachlegen kann.
"Keine Ahnung. Um sich zu treffen?"
"Oh bitte, ich bin nicht mal aus Hamburg. Wir hätten uns vielleicht drei vier mal geschrieben, vielleicht hätte ich sogar Gefühle für dich auf die Distanz entwickelt. Um dann zu merken, dass du jedes Wochenende eine andere abschleppst, damit vielleicht noch auf Insta angibst. Ich hätte Liebeskummer bekommen, weil der ach so gefeierte Bonez MC keinerlei Interesse an mir zeigt."
"Du wusstest also doch, wer ich bin." Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung. Wie unrecht er doch hat.
"Nein, ich habe es erst Wochen später erfahren", gebe ich zu. "Und es hat auch keine Rolle gespielt. Weder damals, noch heute."
"Wieso nicht?"
"Ach du liebe Güte. Weil es eine einmalige Sache war und bleibt. Du warst hackedicht, ich war betrunken, wir hatten ein paar schöne Stunden. Ende der Geschichte. Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich will zurück ins Hotel."
Sofort wende ich mich von John ab, spüre seinen Blick im Rücken, als ich auf die Terrassentür zugehe. Auf halbem Weg fängt Maximilian mich ab.
"Ach, hier bist du! Elli sucht dich, sie will schnellstens weg", informiert er mich. Wie passend, dass meine beste Freundin den gleichen Wunsch hat, wie ich. Schnell bedanke ich mich bei Max für die Info, drücke ihn kurz und küsse ihn auf die Wange, ehe ich mich auf die Suche nach meiner besten Freundin mache.
"Erzählst du mir jetzt, was los ist?", wiederhole ich die Frage zum zwanzigsten mal.
Wir sind super früh aufgestanden und haben uns früher als vorgenommen auf den Weg nach Berlin gemacht. Elli sieht schlecht aus, hat dunkle Augenringe und ein aufgedunsenes Gesicht vom vielen Weinen. Sie ließ sich nicht beruhigen, ist zum Glück irgendwann vor Erschöpfung eingeschlafen.
"Ich will nicht darüber reden." Gleiche Antwort, wie schon die ganze Zeit. "Aber ich wüsste gern, was John von dir wollte."
"Darüber will ich nicht reden, bedaure", gebe ich durch zusammengebissene Zähne zurück.
"Dann sind wir uns ja einig." Elli wendet sich von mir ab, schaut die nächsten Stunden stumm aus dem Fenster.
Als wir einen Zwischenstopp einlegen, checke ich mein Handy. Eine Nachricht von Ninni, die uns eine gute Fahrt wünscht, eine von Maximilian, ob wir die Tage telefonieren wollen. Und dann sind da noch fünf Anrufe und eine Nachricht von einer mir unbekannten Nummer.
Und wieder hast du mich stehen gelassen. Ein drittes Mal wird dir das nicht gelingen. Besuche in einer Wochen einen Freund in Berlin. Halte dich für ein Treffen bereit. John
So gewählte Worte habe ich ihm nicht zugetraut. Trotz allem steigt Wut in mir auf. Was denkt er, wer er ist? Ich soll mich für ein Treffen bereithalten? Ganz sicher nicht!
"Was ist los?" Elli kommt gerade von Toilette zurück und streckt sich ausgiebig. "Du siehst aus, als hättest du in eine Zitrone gebissen."
"Hast du irgendwem dieses Wochenende meine Nummer gegeben?", frage ich gerade heraus.
"Ähm ... Marten hat mir heute morgen geschrieben, ob er sie für seinen Cousin habe könnte..." Elli sieht nicht einmal halb so geknickt aus, wie sie hätte sein sollen. "Er würde dich wohl gern wiedersehen." Schnaufend schüttle ich meinen Kopf und steige wieder in mein Auto. Die Tür fällt ein wenig zu heftig zu.
"Wo ist das Problem?" Auch Elli steigt ein, doch ich meide es, sie anzuschauen. "John ist super heiß und er wusste sofort, dass ihr euch schon einmal gesehen habt. Also so what? Flirte ein wenig übers Handy und triff dich vielleicht mal mit ihm, wenn er in Berlin ist. Was ist schon dabei?"
Wenn sie wüsste. Vielleicht sollte ich ihr doch endlich sagen, wer Mia gezeugt hat. Dann könnte sie verstehen, warum ich so verstimmt bin.
"Ich werde mich nicht mit ihm treffen", sage ich bestimmt, während ich den Wagen wieder auf die Straße lenke.
"Meine Güte, bekommst du deine Tage, oder was? So zickig warst du ja schon ewig nicht."
"Ich bekomme nicht meine Tage", schnaube ich. "Ich habe einfach kein Interesse daran, mich mit einem Typen zu treffen, der nichts außer Alkohol, Drogen und operierte Frauen im Kopf hat."
"Okay, wow", lacht Elli. "Seit wann hast du so viele Vorurteile und bist so extrem engstirnig? Vielleicht spielt er eine Rolle? Vielleicht tarnen all diese Jungs sich, damit sie in Frieden leben können."
"Bitte! So gut kann keiner schauspielern." Mit dem Versuch, hochkonzentriert zu wirken, blicke ich auf die Fahrbahn. Das Gespräch reibt mich auf. Ich will John nicht kennenlernen! Ich will nicht erkennen, dass er im Grunde ein toller Kerl ist. Oder schlimmer noch, dass er genau so ist, wie er sich darstellt. Schon gar nicht will ich ihn in meinem und Mias Leben. Wir sind bisher auch gut allein klar gekommen. Ja, wir haben nicht viel, aber wir sind glücklich.
Elli schaut mich unterdessen erwartungsvoll an, doch das Thema ist für mich abgeschlossen.
"Willst du noch mit zu mir kommen? Mia würde sich sicher freuen", frage ich, als wir endlich die westliche Stadtgrenze erreichen. Home Sweet Home. Sofort fühle ich mich anders, wieder sicherer mit mir selbst.
"Gern, können wir Pizza bestellen?" Ellis Blick ist flehend, als hätte ich tatsächlich die Wahl, wenn Mias Patentante ihr Lieblingsessen bestellen will. Nickend biege ich in die Straße ein, in der wir wohnen und schaue mich nach einem Parkplatz um.
"Mama!" Lächelnd kommt Mia aus ihrem Zimmer gelaufen, lässt sich von mir hoch heben und küssen. Mit einem vergnügten Jauchzen strampelt meine Tochter, bis ich sie wieder absetzen und Elli die gleiche Begrüßung vornehmen kann.
"Komm, Püppi, wir suchen uns eine Pizza aus", verkündet Elli. "Wo ist deine Tante Ninni?" Die beiden verschwinden im Wohnzimmer, wo ich Ninni telefonieren höre. Kurz gönne ich mir den Moment, bringe meine Tasche ins Schlafzimmer und suche mein Handy, um es an das Kabel anzuschließen.
Als das Licht des Bildschirms angeht, sehe ich zwei neue Nachrichten.
Du liest die Nachricht, antwortest aber nicht? Schwach, Chichi, sehr schwach.
Ich warte immer noch auf ein Zeichen, dass du meine Nachricht auch richtig verstanden hast.
Zwischen den Zeilen ist etwa eine Stunde vergangen, jetzt gerade ist John online. Eigentlich wollte ich ihm gar nicht antworten. Die erste Nachricht lässt mich schmunzeln, obwohl ich weiß, dass er nur eine Reaktion von mir provozieren will.
Was soll ich sagen? Er gewinnt.
Ich habe nicht "ignoriert", ich bin Auto gefahren. Jetzt habe ich Zeit dich zu ignorieren.
Nachdem ich die Nachricht abgeschickt habe, überkommt mich das Gefühl, ich würde flirten. Die grauen Haken werden blau, sofort scheint er zu tippen. Es juckt mich regelrecht in den Fingern, auf seine Nachricht zu warten. Jedoch wartet meine Tochter und die ist jetzt wichtiger. Also schalte ich den Ton des Handys aus und gehe zu meiner Familie in das Wohnzimmer.
Ninni und Mia berichten abwechselnd von ihrem Wochenende, Mia schwärmt von ihrer Tante in einer Tour. Es ist Ninni schon fast unangenehm, aber wenn Mia einmal angefangen hat, ist sie nicht mehr so leicht zu stoppen.
"Und was war dann eigentlich mit dem heißen Typen aus dem Club, Elli? Wie hieß er? Marten?" Ninni lehnt sich auf der Couch zurück, wischt sich mit einer Serviette letzte Soßenreste vom Mund. Mit ihrem Kopf auf meinen Beinen und ihren Füßen auf Ninni, ist Mia bereits vor einer Stunde eingeschlafen.
"Nichts. Ich verstehe mich recht gut mit ihm", winkt unsere Freundin ab.
"Weil dir jemand anderes besser gefallen hat?", hakt meine kleine Schwester weiter nach. Lächelnd beobachte ich die Szene, registriere sofort, dass sich Ellis Haltung minimal ändert.
Sie fand tatsächlich einen anderen Mann attraktiv, hat sich gut mit ihm unterhalten. Doch irgendetwas ist gestern passiert, dass sie Maxwell mit keiner Silbe mehr erwähnt hat.
"Vielleicht mache ich es wie deine Schwester und verzichte auf diese klischeebehafteten Männer aus Hamburg." Verwundert blicke ich auf.
"Was ist denn passiert?" Ninni scheint ebenso überrascht wie ich zu sein.
"Nichts. Können wir jetzt darüber sprechen, warum deine Schwester John nicht auf seine Nachrichten antworten will?" Ninni haut mir auf den Oberarm. Mit zusammengepressten Lippen schieße ich Giftpfeile in Richtung meiner besten Freundin. Was zum Teufel habe ich ihr getan?
"Was zum Teufel stimmt mit euch nicht?", fragt Ninni und lässt den Kopf in den Nacken fallen. "Ihr trefft, durch einen puren Zufall, die Art Männer, vor der wir als Teenager gewarnt wurden. Die bösen Jungs! Dazu kommt, dass sie heiß sind, jeder einzelne von ihnen! Und ihr lehnt sie ab? Spinnt ihr?" Ninni ist ehrlich entrüstet. Einerseits kann ich sie ja verstehen. Natürlich sieht John gut aus und hat seinen Charme. Aber ich habe nun einmal eine andere Verantwortung.
"Papperlapapp!", ruft Ninni, als ich ihr genau das sage. Elli steht auf, nimmt mir Mia vom Schoß und bringt sie in ihr Bett. Dieses Gespräch ist offensichtlich noch nicht beendet.
"Meine liebe Schwester, du hörst mir jetzt mal zu...", setzt Ninni wieder an.
"Nein, Ninni", unterbreche ich sie jedoch. "Ich habe kein Interesse daran, mich mit einem Mitglied der Straßenbande zu treffen. Ich meine, hast du dich mal gefragt, warum Max uns so lange von der Szene ferngehalten hat?"
Obwohl Ninni schweigt, sehe ich, dass sie etwas dazu sagen will. Meine kleine Schwester hat immer zu allem eine Meinung. Und die teilt sie jedem mit, ob man danach fragt, oder nicht.
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