Saúl x Torres [1/2]
für hummelchen1909
,,Fahre zur Kanzlei. Bin um 18 Uhr wieder zu Hause und gehe noch einkaufen" schrieb ich auf ein Post-It, den ich danach vom Block auf der Theke abriss und für meine Mutter sichtbar an den Kühlschrank hang. Schon seit Jahren informierten wir uns so, wenn der jeweils andere nicht zu Hause war oder schlief. Mein Handy hatte im Herbst letzten Jahres nach einem schmerzhaft anzusehenden Sturz die Steintreppe unserer Schule herunter den Geist aufgegeben. Für ein neues Handy blieb kein Geld, weshalb die Verständigungsmethode umso wichtiger wurde. Für meinen kleinen Job während der Ferien musste ich schon früh aus dem Haus und konnte nicht warten, bis meine Mutter wach werden würde. Ihre Arbeitszeiten waren flexibel und anpassbar. An manchen Tagen stand sie früh auf an anderen spät. Ich musste heute um 9:30 Uhr in der Kanzlei sein und wollte, gerade an meinem ersten Tag, nicht zu spät kommen.
Nachdem ich in meine Schuhe geschlüpft war, warf ich mir meine Brandit-Umhängetasche über die Schulter und lief das Treppenhaus runter. Wir wohnten in einer überschaubaren Zweizimmerwohnung im vierten Stock eines Wohnhauses in Madrid. Seitdem ich zehn Jahre alt war, lebten wir dort, seitdem mein Vater uns verlassen hatte. Als ich mein Fahrrad nach draußen geschoben hatte, zog ich die Haustür des Wohnhauses hinter mir zu und radelte los. Nicht nur, dass man mit dem Fahrrad so mit am schnellsten den Weg durch Madrid fand, für uns war es eine kostengünstige und flexible Alternative.
Dass es besonders eine angesehene und erfolgreiche Kanzlei, wie Torres und Rodriguez, nicht gerne sah, dass ihre Arbeitskräfte mit dem Fahrrad zur Arbeit kamen, dachte ich mir schon vorher. Es passte einfach nicht zum Image und Prestige der Kanzlei. Ich, als sechswöchige Aushilfe, um etwas dazuzuverdienen und meine Mutter damit zu entlasten, würde daran sicherlich auch nichts ändern wollen. In diesem Fall passte ich mich an und stellte man Fahrrad drei Straßen weiter an einem Fahrradständer neben einen Park ab. Während ich zur Kanzlei lief, strich und zupfte ich mir noch einmal meine Krawatte sowie mein weißes Hemd und meine schwarze Hose zurecht. Ob das wirklich das richtige Outfit war, wusste ich nicht, doch in den ganzen amerikanischen Anwaltsserien trugen das die Anwälte. Den Fakt, dass ich weder ein richtiger Anwalt war, noch in Amerika lebte, ignorierte ich gekonnt. Ein Jackett hatte ich ebenso wenig an, viel zu viel hätte es gekostet.
Vor dem riesigen Glasgebäude, in der sich die Kanzlei befand, blieb ich erst einmal stehen. Zwar war ich schon einmal zu einem kurzen Vorstellungsgespräch hier gewesen, doch die Größe und Konstruktion des Gebäudes war beeindruckend, genau wie die vielen Menschen, die rein und rausgingen. Von nun an würde ich für sechs Wochen zu ihnen gehören, zu den vielen Anzugträgern und Frauen, in eleganten Kleidern oder Blusen kombiniert mit Röcken oder schlichten Hosen. Ich atmete einmal tief durch, bevor ich den Menschen in die Kanzlei folgte. Nicht zu übersehen war der Empfang, an denen zwei junge Frauen direkt geradeaus saßen und etwas am Computer eintippten. Auf der linken Seite war eine große Treppe die nach oben führte und ein Schild, dass zu den Fahrstühlen zeigte. Auf der rechten Seite standen Sofas, Sessel und kleine Tische.
,,Guten Morgen, Señor. Wie kann ich Ihnen helfen?" begrüßte mich die Dame am Empfang freundlich, als auf sie zukam.
,,Guten Morgen" entgegnete ich lächelnd und holte ein paar Unterlagen aus meiner Tasche, die ich der jungen Frau reichte, ,,ich bin Saúl Ñíguez von der Privatschule Priméro. Für die nächsten sechs Wochen wurde ich hier als Aushilfe angenommen."
,,Herzlich willkommen in der Kanzlei Torres und Rodriguez, Señor Ñíguez. Sie können auf einen der freien Plätze dort drüben Platz nehmen. In wenigen Minuten kommt jemand, der Sie zu ihrem Arbeitsplatze bringt und Sie einarbeitet" erklärte sie mir und deutete auf die Sessel.
,,Vielen Dank, Señora" verabschiedete ich mich dankbar von ihr und nahm meine Unterlagen wieder entgegen. Auf einer der freien Sessel ließ ich mich fallen und verstaute meine Zettel wieder in der Tasche. Ein wenig kam die Nervosität nun hervor. Zwar arbeitete ich in den Ferien immer als Aushilfe und hatte schon viel Erfahrung in den verschiedensten Bereichen machen dürfen. Architekturbüros, Restaurants oder bei großen Verlagen - durch meine guten Noten und das Ansehen meiner Schule hatte ich etliche Chancen bekommen, wofür ich unheimlich dankbar. Immer wieder bekam ich einen guten Einblick in den Beruf, hatte etwas gefunden, was ich mir für die Zukunft vorstellen konnte und verdiente nebenbei ein bisschen Geld. Doch eine Kanzlei, in der die besten Anwälte Spaniens arbeiteten, war eben nochmal etwas anderes.
,,Saúl Ñíguez" riss mich auf einmal eine Stimme aus den Gedanken, ein Stimme die mir unheimlich bekannt vorkam, ,,der beste Freund von Koke, Gabis kleinem Bruder."
Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und unterdrückte ein Seufzen. Langsam erhob ich mich aus dem Sessel und sah zu der Person auf, die nun neben mir stand. Es war kein geringerer als Fernando, der einen dunkelblauen Anzug mit einer schwarzen Krawatte trug. Seine braunen Haare hatte er zu Seite gegellt und seine Lippen zierten ein verschmitztes Lächeln. Erst jetzt fiel mir auf, wie viele Sommersproßen er eigentlich hatte und wie sehr seine braunen Augen glänzten. Alles in einem musste ich zugeben, dass er verdammt gut aussah.
Verwirrt über meine Gedanken schüttelte ich den Kopf und fasste mir an die Stirn. ,,Fernando, was eine Überraschung. Was machst du hier?"
,,Torres, der Name meiner Eltern. Die Kanzlei gehört ihnen und damit ich in den letzten Ferienwochen machen kann, was ich will, helfe ich ihnen die ersten zwei Wochen" beantwortete er mir. Innerlich verfluchte ich mich dafür, dass ich nicht genug recherchiert habe. Von Anfang an war ich davon ausgegangen, dass alle verwöhnten Schüler meiner Schule in irgendwelchen Luxusurlauben ihre Ferien verbringen würden. Immerhin war ich bei meinen anderen Jobs nie jemanden begegnet und mein bester Freund verbrachte mit seiner Familie und seinem festen Freund seine freie Zeit ebenfalls im Ausland. Sechs Wochen konnte er den Strand der Malediven genießen und würde erst am letzten Ferientag zurückgekommen wie jedes Jahr.
,,Also sollte ich dich lieber fragen, warum du hier als Aushilfe arbeiten willst. Es sind Ferien. Machst du etwa keinen Urlaub?" fragte er nach, was mich zum Schlucken brachte. Dass er davon ausging, dass jeder Schüler unserer Schule wohlhabende Eltern hatte, konnte ich ihm nicht verübeln. So hoch wie die Schulgebühren sind, ging jeder davon aus. Nur wie sollte ich ihm nun beibringen, dass es nicht so wahr?
,,Ich hatte eben Lust auf Arbeit. Sechs Wochen herumsitzen ist nicht mein Ding" gab ich schulterzuckend zurück und versuchte möglichst überzeugend zu klingen. Einzig und allein Koke wusste, wo und wie ich lebte und was damals mit meinem Vater passiert war. Allerdings blieb er der einzige, dem ich mich anvertraut hatte und ursprünglich sollte das auch so bleiben. Auf bemitleidenswerte Blicke meiner Mitschüler konnte ich verzichten, denn die würde ich bekommen, würde sie meine Geschichte herumsprechen.
,,Hattest du keine glaubwürdigere Lüge auf Lager?" erkundigte sich Fernando misstrauisch und machte mir mit einer Handbewegung deutlich, dass ich ihm folgen sollte.
,,Dir kann es sowieso egal sein" gab ich giftiger zurück, als ich ursprünglich wollte. Fernando war schon immer ein guter Freund von Gabi gewesen, Kokes Bruder. Ich verbrachte bei meinem besten Freund jede freie Sekunde, weshalb ich zwangsläufig auch auf Fernando traf, wenn er mit Gabi Zeit verbringen. Abgesehen von einem ,,Hola" hatten wir noch nie wirklich ein Wort miteinander gewechselt. Er und Gabi wirkten immer distanziert, machten ihr Ding. Koke und ich beschäftigten uns selbst, machten unser Ding.
,,Ich war nur verwundert" merkte er an und drückte auf den Knopf des Fahrstuhls, der schon im Erdgeschoss zu sein schien. Die Türen öffneten sich direkt, womit wir eintreten konnten, ,,weiß Koke, dass du hier bist?"
,,Er weiß, dass ich meine Ferien in Madrid verbringe" entgegnete ich knapp, während er auf einen Knopf drückte, der scheinbar in 34. Stock fuhr.
,,Aber, dass du hier arbeitest, weiß er nicht" fasste Fernando seinen Entschluss und lehnte sich an die Fahrstuhlwand, ,,warum?"
Warum ich ihn nicht einfach bat nicht weiter nachzufragen und mir meine zukünftigen Aufgaben zeigte, wusste ich nicht. Wahrscheinlich genau aus demselben Grund, weshalb es ihn so sehr dafür interessierte. ,,Ich arbeite jede Ferien. Meine Mum schafft es gerade so meine Schulgebühren und unsere Wohnung zu bezahlen. Damit ich sie wenigstens für ein paar Wochen entlasten kann und ihr dafür danken kann, suche ich mir einen kleinen Job."
,,Was ist mit deinem Vater?" wollte er vorsichtig wissen. Fernandos Stimme klang nun nicht mehr so stark und monoton wie noch im Eingangsbereich. Sie war sanft und einfühlsam.
,,Er ist gegangen, als ich 10 Jahre alt war. Ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen und auch nicht wirklich viel gehört. Einmal Jahr bekomme ich eine Karte von ihm zum Geburtstag, wobei sie nie rechtzeitig ankam. Entweder kommt sie zu früh oder zu spät. Weder weiß ich wo er ist, noch was er macht" erzählte ich ihm von dem Mann, dem ich die letzten sechs Jahre komplett egal war. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass das Desinteresse meines Vaters nicht verletzend war und mich kalt lassen würde. Allerdings würde ich auch lügen, würde ich sagen, dass ich ihm jeden Tag hinterhertrauern und nicht klarkommen würde. Im Gegenteil, meine Mum und ich kamen ohne ihn sehr gut zurecht.
,,Klingt nach einem ziemlichen Arschloch" kommentierte Fernando und schüttelte leicht den Kopf. Damit hatte er wohl die beste Beschreibung für meinen Vater gefunden.
,,Das kannst du laut sagen" murmelte ich. Kaum hatte ich meinen Satz beendet, ertönte eine Melodie, da der Fahrstuhl im 34. Stock angekommen war.
Die Fahrstuhltüre öffnete sich, doch anstatt dass Fernando aus dem Fahrstuhl trat, kam er ein Stück auf mich zu und hielt er mir seine Hand hin:,,Ich werde niemanden sagen, dass du die Ferien über hier warst. Außerdem kannst du mich Nando nennen. Alle meine Freunde nennen mich so."
,,Danke" erwiderte ich lächelnd und nahm seine Hand entgegen, ,,ich kann dir Saúl anbieten. Bei meinem kurzen Namen habe ich keinen Spitznamen."
,,Dann werde ich mir wohl einen ausdenken müssen. Komm mit, Saúlillo, ich zeig dir deinen Platz für die nächsten Wochen." Da war es wieder, Fernandos verschmitztes Lächeln von unten, an das ich mich gewöhnen könnte. Ich verdrehte bei diesem Spitznamen nur lachend die Augen und ließ mich von ihm an der Hand mitziehen.
hoffe er gefällt dir🙊💘 nächster Teil kommt nächste Woche.
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